Dieser Psalm hat zum Inhalt: der Frommen Klage und der Frommen Trost zu böser Zeit. 1.) Wie lautet der Frommen Klage, oder was ist nach Gottes Wort „böse Zeit“? V. 2-5. 2.) Welches ist der Frommen Trost, oder wie stärket der Herr den Glauben der Elenden? V. 6-9. Es ist ein Psalm Davids, wie die Überschrift anzeigt, doch aus dem Herzen und im Namen der Gläubigen, der kleinen Herde, der bedrängten Gemeine Gottes gesungen. Darum hat er auch einen ganz allgemeinen Charakter und ist ein Kleinod der Kirche Gottes für alle die Zeiten, wo sie in der darin geschilderten Lage ist. Sucht man nach einem geschichtlichen Ausgangspunkt für diesen Psalm, so möchte sich am ehesten die böse Zeit, die David am Hofe Sauls durchlebte, dazu eignen; doch ist bei der Allgemeinheit der Haltung dieses Psalms das Bedürfnis dazu weit weniger vorhanden, als bei andern Psalmen. Er steht sehr wohl hinter dem 11. Psalm und hat viel innere Verwandtschaft mit demselben.
V. 1. Dem Sangmeister, auf der Octave, ein Psalm Davids. V. 2. Hilf, Herr, denn dahin ist der Fromme; denn geschwunden sind die Treuen unter den Menschenkindern. V. 3. Falschheit reden sie, einer mit seinem Nächsten, mit Schmeichellippe; mit Doppelherzen reden sie. V. 4. Ausrotte der Herr alle Schmeichellippen; die Zunge, die Stolzes redet, V. 5. die da sagen: „Unserer Zunge werden wir Nachdruck verschaffen, unsere Lippen sind mit uns, wer ist unser Herr?
Dieser Psalm zeigt so recht, wie verschieden die Schriftlehre über das, was „böse Zeit“ sei, von der Meinung der Welt darüber ist. Die Welt hält das für böse Zeit, wenn ihre äußere irdische Lage, woran ihr Alles hängt, einen irgendwie bedrohlichen Charakter annimmt, wenn die Geldnot, der Arbeitsmangel, Misswachs, Krieg und Pestilenz ihr wie ein Alp auf der Seele liegt; die Schrift dagegen kennt und nennt den innern, geistlichen Verfall als das rechte Merkzeichen einer bösen Zeit. Dieser innere Verfall gibt sich zwiefach kund: in der Abnahme der Heiligen, im Auslöschen der scheinenden Lichter, und in der steigenden Verderbnis der Welt, namentlich in dem allgemeinen Überhandnehmen der Heuchelei und Schmeichelei und in der unverschämten und stolzen Frechheit der Gottlosen, wodurch die Elenden und Armen unterdrückt werden. So Jes. 57,1: „Der Gerechte kommt um und ist Niemand, der es zu Herzen nehme; und heilige Leute werden aufgerafft, und Niemand achtet darauf.“ Obwohl es nun von dem Herrn heißt: „Ich weiß euer Übertreten, das viel ist, und eure Sünden, die stark sind, wie ihr die Gerechten drängt und die Armen im Tor unterdrückt“ (Amos 5,12), obwohl es weiter vom Gerechten dort heißt: „Darum muss der Kluge zur selbigen Zeit schweigen, denn es ist böse Zeit“ (V. 13), so darf und soll doch der Gerechte darüber Klage vor den Herrn bringen und seinen Notschrei zum Gebet werden lassen. Das ist die rechte Tür. David geht durch sie ein, indem er anhebt: „Hilf, Herr!“ Dem Schwinden der Frommen gilt sein erster Notschrei; denn die Zeiten im Reiche Gottes sind verschieden. Es gibt Zeiten des Wachstums, wo das Wort läuft und gepriesen wird, und wo dem Herrn Kinder geboren werden wie der Tau aus der Morgenröte, und Zeiten der Abnahme, wo man mit Micha klagt: Es geht mir wie Einem, der im Weinberge liest, da man keine Trauben findet: die Frommen sind weg aus dem Lande“ (7,1.2.), und mit Jesaia: „Was noch übrig ist von der Tochter Zion, ist wie ein Häuslein im Weinberge, wie eine Nachthütte in den Kürbisgärten, wie eine verheerte Stadt.“ (Jes. 1,8.) Die letzteren sind immer ahnungsvolle, schwere Gerichtszeiten über die Welt, denn die Gerechten werden weggerafft vor dem Unglück. (Jes. 57,1.) In immer steigendem Maße erfüllt sich die Wahrheit dieses Wortes im Laufe der Zeiten, bis sie sich in der Endzeit vollkommen erfüllt. Doch ist hierbei andrerseits auch der Schwachheit der Frommen nicht zu vergessen, denen, wie Elias, das Gesicht fehlt, in die verborgene Seelenwelt, in die verschleierte Gemeinde zu schauen, und denen der Kleinmut den heiligen Samen vor der Größe der Verderbensmasse fast verschwinden und vergessen lässt. Denn der Herr behält zu allen Zeiten einen heiligen Rest, eine Auswahl, die den wahren Weibessamen bildet, „Gottes Gebote hält und das Zeugnis Jesu hat“ (Offb. 12,17), obwohl unser Gott nicht wie der Teufel sich mit Majoritäten rühmen kann (Unser ist Legion!“ Mark. 5,9), sondern nur eine „kleine Herde“ hat und behält (Luk. 12,32). Dieses Wehe aber über den geistlichen Verfall eines Volks, dieser tiefe Schmerz, diese Tränenquellen sowohl über die Abnahme des Salzes der Erde, wie über die Menge der Gottlosen und Gesetzesübertreter siehst du an allen treuen Gottesknechten und lieben Heiligen Gottes; es ist ein Charakterzeichen der Kinder Gottes (Ps. 119,136.158; Jer. 9,1), wogegen der Herr das Wehe spricht über die satten Weltmenschen, die in der Wollust des reichen Mannes so weit vom demütigen Pilgrimssinne abkommen und so ungeschickt werden, das Seufzen der Elenden zu hören, „dass sie sich nicht um den Schaden Josephs bekümmern“ (Amos 6,6). Ein deutlich Zeichen großen Verderbens ist es nun aber nach dem Zeugnis der ganzen Schrift auch, wenn des Teufels Lügen- und Heuchelgeist selbst in die engsten Bande und trautesten Verhältnisse eindringt und so die Grundwurzel der Ordnung Gottes anfrisst; es ist, was der Herr sagt: „Des Menschen Feinde sind seine eignen Hausgenossen“, und im verstärkten Maße ist es das Brandmal der Judasküsse, das schwere Ärgernis der „falschen Brüder“, die Sünde der Doppelzüngigkeit auf dem Grunde der Doppelherzigkeit. Diesen Zustand beschreibt Jeremia: „Ein Jeglicher hüte sich vor seinem Freunde und traue auch seinem Bruder nicht; denn ein Bruder unterdrückt den andern, und ein Freund verrät den andern; ein Freund täuscht den andern und redet kein wahres Wort; sie fleißigen sich darauf, wie einer den andern betrüge, und ist ihnen leid, dass sie es nicht ärger machen können“ (9,4.5.), und David: „Auch mein Freund, dem ich mich vertraute, der mein Brot aß, tritt mich mit Füßen.“ (Ps. 41,10.) Da ist Christus auf der Lippe, aber der Teufel darunter. Höre dagegen St. Pauli Mahnung: „Darum legt die Lügen ab und redet die Wahrheit, ein Jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir unter einander Glieder sind“ (Eph. 4,25). Wie aber der Erzfeind bei der ersten Verführung sich als einen Meister der glatten Lippen bewies, indem er mit Erfolg die ersten Menschen mit der „Gottähnlichkeit“ blendete, so wirkt sich nun dieser böse Sauerteig auch in seinen Nachfolgern aus, nach seinem Bilde sind die Kinder gezeugt; mit der glatten Zunge paaret sich die großsprecherische Zunge, mit der Truglist die Hoffart, die, indem sie sich selbst zur unabhängigen, allgenugsamen Kreatur erhebt, zur frechsten Verachtung der Herrschaft und Majestät Gottes übergeht. Da soll Alles, was sie reden, gelten, als wenn es vom Himmel geredet wäre; da denkt und spricht man mit Pharao: Wer ist der Herr, des Stimme ich hören müsse?“ (2. Mos. 5,2) und mit den Gottlosen bei Hiob: „Wer ist der Allmächtige, dass wir Ihm dienen sollten?“ (21,15) und mit Nebukadnezar: „Lasst sehen, wer der Gott sei, der euch aus meiner Hand erretten werde!“ (Daniel 3,15.) Es sind ja freilich leere, lose Dinge, die solche großsprecherische Zunge redet, aber wenn man bedenkt, was die Welt auf Worte gibt, und wie wahr der Spruch der Alten ist: „Wenn das Wort heraus ist, so ist es eines Andern“, so erkennt man die furchtbare Tragweite der Zunge und lässt wahr sein, was St. Jakobus sagt: „Die Zunge ist ein kleines Glied und richtet große Dinge an. Siehe, ein kleines Feuer, welch einen Wald zündet es an!“ Und die Zunge ist auch ein Feuer, eine Welt voll Ungerechtigkeit, wenn sie von der Hölle entzündet ist“ (3,5.6). Das kleine Horn des vierten Tiers im Daniel hat ein Maul, das redet große Dinge“ (7,8). Dagegen hilft nur Schweigen und Gott klagen.
V. 6. Wegen der Elenden Unterdrückung, wegen der Armen Seufzen will ich nun aufstehen, spricht der Herr, will in Heil versetzen den, der danach schmachtet. V. 7. Die Reden des Herrn sind lautere Reden, Silber, geläutert im Tiegel zur Erde herab, durchläutert siebenmal. V. 8. Du, Herr, wirst sie bewahren, wirst ihn behüten vor diesem Geschlecht auf ewig, V. 9. da ringsum Gottlose einhergehen, indem Gemeinheit sich erhebt unter den Menschenkindern.
Dieser zweite Abschnitt des Psalms zeigt nun, wie reichlich und köstlich der Trost der Frommen in solcher bösen Zeit ist. Gegen die Unterdrückung der Elenden macht sich der Herr auf mit seiner allmächtigen Hilfe, „ihr Seufzen dringt zu Ihm herein“. Wie hochtröstlich ist das! Die einsamen unter dem verwirrtesten Treiben dieser Welt zu dem Herrn emporgeschichten, selbst elenden Seufzer der Elenden treffen so sicher das Ohr Gottes, rühren sein Herz! Er sieht ihr Elend und hört ihr Geschrei, das bezwingt heute noch, wie gestern in Israel, Sein mitleidig herz: Ich habe ihr Leid erkannt und bin herniedergefahren, dass Ich sie errette“. Der Sohn Gottes hat uns darüber sonnenklare Frage und Antwort gegeben: Sollte Gott nicht retten Seine Auserwählten, die zu Ihm seufzen Tag und Nacht? Ja, Ich sage euch, Er wird sie erretten in einer Kürze (Luk. 18,7.8). Man merke nur dabei: „Tag und Nacht“ seufzen, das ist der Auserwählten Weise, dann ist „in einer Kürze“ erretten, des lieben Gottes Weise. Aber auch gegen die trügerischen Schmeichellippen gibt's einen Trost, den Trost Seines wahrhaftigen und gewissen Wortes: Mein heilsam Wort soll auf den Plan“. Über dieses Wort bekommen wir hier wichtigen Aufschluss. Es ist lauter, rein und heilig, unvermischt und ohne Schlacken, darum es keinen Zusatz noch Wegnahme leidet (Offb. 22,18.19); es ist gewiss und wahrhaftig, deshalb leidet es keinen Scherz noch Zweifel; es ist, wie das feinste Silber, von unaussprechlichem inneren Wert, darum leidet es keine Verachtung noch Gleichstellung mit irgend etwas Anderem; es ist bewährt erfunden, sieben Mal bewährt hervorgegangen aus den schwersten Anfechtungsproben, wie in den Herzen aller Heiligen, darum leidet's keine Niederlage noch Untreue (Matth. 11,19; Ps. 51,6). „Alle Worte Gottes sind durchläutert und ein Schild denen, die darauf trauen“ (Spr. 30,5). Aber es will durchs Kreuz bewährt sein! - Endlich stellt sich auch dem wachsenden Verderben ein Trost gegenüber, der Trost des Glaubens, dass Sein Same ewig bleibt. Das besagt der glaubensvolle, aber ernste Schluss des Psalms, der im Sinne der Fürbitte des Herrn Joh. 17,15 und des Wortes 1. Petri 1,5: „aus Gottes Macht durch den Glauben bewahrt zur Seligkeit“ gehalten ist, und darum die Zuversicht des paulinischen „Uns ist bange, aber wir verzagen nicht“ (2. Kor. 4,8) atmet. Ja wer auf dem Glaubens- und Gnadengrunde bleibt und nur nicht weltförmig wird, der wird bewahrt und bleibt ewig. So zeigt dieser Psalm, dass, wo nur Glaube und Geduld der Heiligen ist und bleibt, jede Unterdrückungszeit ihnen zur schönen Hoffnungszeit um ihres Gottes und Seines Wesens willen wird; denn alle Verfolgungen der Kinder Gottes führen mit innerer Notwendigkeit darauf, dass ihr Gott, als gerechter Richter und ewiger Erbarmer, ihren Drängern den Lohn bezahlen, Seinen Kindern aber Ruhe vor ihren Drängern verschaffen müsse, wie St. Paulus 2. Thess. 1,4-7 über der Gemeine Verfolgungen und Trübsale bezeugt: Welches anzeigt, dass Gott recht richten wird und ihr würdig werdet zum Reiche Gottes, über welchem ihr auch leidet, nachdem es recht ist bei Gott, zu vergelten Trübsal denen, die euch Trübsal anlegen, euch aber, die ihr Trübsal leidet, Ruhe mit uns.