Taube, Emil Heinrich - Psalm 10.

Der 10. Psalm enthüllt: die finstern Stunden im Christenleben mit ihrer Not und ihrem Segen. 1.) Was macht sie zu so Finstern Stunden? V. 1-11. 2.) Was ist der Segen dieser Stunden? V. 12-18. Dieser Psalm hat keine Überschrift, weshalb ihn die griechische und lateinische Bibel, zumal da der Inhalt beider Psalmen viel Verwandtschaftliches hat, mit dem 9. Psalm zu einem Psalm zusammenstellten; doch drängt die Überschriftlosigkeit und die Allgemeinheit der Schilderungen und Erfahrungen des 10. Psalms vielmehr darauf hin, dass damit angezeigt werden solle, es würden der Gläubigen zu allen Zeiten solche Not und solcher Segen warten, weshalb man diesen Psalm zu Trost und Rat nutzen und anwenden solle. Es ist das Kapitel der innern Anfechtungen der Kinder Gottes, welche ihnen aus dem Verzug der Hilfe Gottes bei dem Glück, dem Trotz, dem Lug und Trug, ja bei der mörderischen Bosheit der Gottlosen in dieser Welt entstehen, welche aber in Gottes Hand dazu dienen müssen, den Gebetseifer zu wecken, den Glauben zu stärken und die Hoffnung auf ihren getreuen Gott zu befestigen.

V. 1. Warum, Herr, stehest Du ferne, verhüllst Dich zu Zeiten der Bedrängnis? Diese den Psalm intonierende Klage deckt aller Not bitterste Beilage und der Kinder Gottes schwerstes Leiden auf: das Entschwinden der Nähe Gottes. Auch der Sohn Gottes hat das in Seiner Knechtsgestalt erfahren müssen und zwar im stärksten Maße am Kreuz: „Warum hast Du Mich verlassen?“ Doch zeugt Seine hehre Mitleidenschaft davon, dass man sich ebenso sehr zu beugen hat vor der Verborgenheit der Wege Gottes, als zu trösten an der ewigen Verordnung dieser Wege. Ihr Gott ist es denn auch, zu dem Kinder Gottes in diesen Mitternächten des tiefsten Elends mit ihren Fragen und Klagen kommen, und daran erkennt man vorab ihr ehrliches Herz, dass sie sich zu eben dem und zu keinem Anderen nahen, den sie als so ferne klagen. Es geht immer ihr Klagen nach der Weise des, der da sprach: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!“ Dennoch sind sie sehr vergesslich bei solchen Klagen. Denn wie starke Machtsprüche Gottes und wie mächtige und häufige Errettungen und Durchhilfen hat Er ihnen auf ihren Kreuzwegen zur Seite gestellt, die ebenso die stetige Nähe, als die ewige Barmherzigkeit des Herrn besiegeln, gedenke nur der Kraftworte des Herrn: „Bin Ich nicht ein Gott, der nahe ist, und nicht ein Gott, der ferne ist?“ (Jer. 23,23.) „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“ (Matth. 28,20.) „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber Meine Gnade soll nicht von dir weichen usw.“ (Jes. 54,10). „Die Gnade des Herrn währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über alle, die Ihn fürchten“ (Ps. 103,17). Aber durch des Teufels Ohrenbläserei, durch die Einwürfe der Vernunft und des Herzens Abweichen aufs Sichtbare wird ihnen über den fünf Sinnen der sechste verdunkelt, den Er ihnen gegeben hat, „zu erkennen den Wahrhaftigen“ (1. Joh. 5,20), sie empfinden dann nichts von der oft gar geheimen Gegenwart des Herrn, weil eben Alles im Geist und Glauben geht, und der Herr, der schon von der Gottlosen Lästerung geschmäht und in Seiner Ehre beeinträchtigt wird, hat dann obendrein auch noch die kleingläubigen Klagen der Seinen zu tragen. Doch gefällt dem Herrn, trotz alles Missfallens an dieser schwarzblütigen Schwermut und großen Feigheit des Herzens bei so grundfestem Troste, die Wahrnehmung aus der Klage, was Er den Seinen doch ist, und dass sie Seiner doch nie und nimmer entraten können; darum vergilt Er ihnen nicht nach ihrem Misstrauen, sondern nach Seiner Treue.

V. 2. Durch des Gottlosen Übermut brennt der Elende; sie werden gefangen in den Anschlägen, die sie ausgesonnen. V. 3. Denn es rühmt der Gottlose ob seiner Seele Gelüst; und der Habgierige segnet, lästert den Herrn. V. 4. Der Gottlose, gemäß dem Stolz seines Zornes, fragt nach nichts; „es ist kein Gott“, sind all seine Gedanken. V. 5. Dauerhaft sind seine Wege jederzeit, himmelweit sind Deine Gerichte von ihm; alle seine Widersacher die bläst er an. V. 6. Er spricht in seinem Herzen: „Nicht werd' wanken ich, in alle Zukunft derjenige, den kein Unglück trifft!“ V. 7. Fluches ist sein Mund voll und Tücken und Druckes; unter seiner Zunge ist Mühsal und Unheil. V. 8. Er sitzt im Hinterhalt der Höfe, in Schlupfwinkeln tötet er Unschuldige; seine Augen, auf den Hilflosen lauern sie, V. 9. Er lauert im Schlupfwinkel, wie ein Löwe in seiner Höhle, lauert, zu erhaschen den Elenden, erhascht den Elenden, ihn an sich ziehend in seinem Netz. V. 10. Er duckt sich, kauert, und es fallen in seine Klauen Hilflose. V. 11. Er spricht in seinem Herzen: „Vergessen hat Gott, verborgen sein Antlitz, hat ewig nie gesehen.“

Diese Schilderung des Gottlosen und seines Treibens ist ein klarer Spiegel sowohl davon, wie alle Gottlosen von dem Vater, dem Teufel, sind und, als nach des Vaters Bilde gezeugt, auch nach des Vaters Lust tun, als davon, wie alle Gottlosen unweigerlich immer tiefer in den Fortschritt und Fluch der Sünde hineingeraten. Aus Hoffart ist der Teufel gefallen, mit Hoffart fängt aller Gottlosen Weg an; des Teufels Signatur ist: „Vater der Lüge“ und „Mörder von Anfang“, der Gottlosen Grundzüge sind auch Lug und Trug und mörderische Bosheit. Und sieht man auf den innern Fortschritt der Sünde in dem Herzen der Sünder, so hebt es auf der Grundwurzel der Gottvergessenheit und Hoffart mit schnödem Sündendienste an, geht in die Sündensicherheit über, es macht Heuchelei zum Schirme und mit der Hölle einen Bund, bis sich das Geheimnis der Bosheit in der offenbaren Lästerung des Allmächtigen vollendet. Solches Treiben der Gottlosen ist aber für Gottes Kinder eine schwere Probe; denn weil sie alle von Haus aus von der Welt sind, so verleugnet auch auf sie das alte Stammhaus seine anziehende Kraft nicht, sie werden durch den Anblick, wie es in der Welt hergeht, in ihrem Halt an dem wahren Gott geschwächt. Und ob auch wahre Kinder Gottes sich nie wieder so weit in die Welt einleben und verlieren werden, dass sie von ihr gar überwunden werden und nach dem Lose der Demasseelen sie wieder liebgewinnen, so werden sie doch durch den großen Schein der Weltmacht, durch den zurückgebliebenen eigenen Erdensinn und den Druck des Kreuzes arg bedrängt und angefochten. Zunächst durch des Gottlosen Übermut brennt der Elende“. Der Übermut der Gottlosen ist nicht bloß darum eine so schwere Probe für Kinder Gottes, weil sie darunter zu leiden haben und den untersten Weg gehen müssen, sondern weil ihrem allerhöchsten Herrn und Gott dadurch nach der Krone gegriffen wird, und Er doch nicht eingreift. Sodann deckt der Heilige Geist, tiefer gründend, das gräuel- und grauenvolle Herz der Gottlosen auf; zwei schwarze Punkte kommen da zum Vorschein: „Der Gottlose rühmet ob seiner Seele Gelüst“, das ist, was Paulus sagt: „sie suchen ihre Ehre in der Schande“, und wie er dort dabei setzt: „denen der Bauch ihr Gott ist“, so hier: „Der Habgierige segnet, lästert den Herrn“. Das ist ein hoher Grad der Ruchlosigkeit, wo der Sünder beim Sündengute das wagt, was der rechtschaffene Christ nur bei ehrlichem Gewinne tun darf: den Herrn zu segnen! Ja so geht es: Anfangs ist die Sünde eingezogen, schamhaft und schwer, danach wird sie leichter, hierauf angenehm, zuletzt wird ein Sündenruhm und Schändung Gottes daraus. Wer sich aber nicht mehr vor der Sünde fürchtet, der fürchtet sich auch nicht mehr vor der Strafe, und wer in seiner Hoffart nach Niemand fragt, der fragt auch nicht nach Gott und Seinen Gerichten; es kommt ein Trotz heraus, der alle seine Gegner wie den Staub vom Kleide von sich bläst. V. 6. Und zu solchem Trotz und Stolz gesellt sich alsbald Zorn; die beiden, Stolz und Zorn, sind immer Brüder, denn der Stolz, weil er Niemand über, und neben sich duldet, muss alsbald mit Allen rechten und fechten; das wahre, das göttliche Recht lässt sanftmütig, die Eigengerechtigkeit macht allemal zornig. Was aber den Gottlosen in seinem Stolze bestärkt, das ist, wie V. 5 aufweist, die Dauerhaftigkeit, das Gelingen seiner Wege. Solches Gelingenlassen gehört unter die heimlichen Wege und Gerichte Gottes; doch erkennen wir hier so viel aus den Worten, dass dies Gelingenlassen, dies äußere Glück der Gottlosen nach der großen Langmut Gottes noch ein Mittel zur Buße werden solle, wenn sie sich dadurch locken lassen; dass es aber, wo nicht, ihr inneres Gericht fördert. Wes nun aber das Herz voll ist, des geht der Mund über; ist der Gottlosen Herz wie ein ungestümes Meer, so werfen auch ihre Lippen Koth und Unflat aus (Jes. 57,20), und zwar sind dies nicht Übereilungssünden, sondern es ist absichtliche Frechheit, es ist das Otterngift unter ihren Lippen. Dabei zeigt andrerseits nichts so sonnenklar die Ohnmacht der Gottlosen bei aller ihrer trotzigen Scheinmacht an, als ihr Fluchen, ihre Verwünschungen, ihre Zuflucht zu Lug und Trug, wie sehr sie auch dem Nächsten eine Zeit lang damit Schaden, Unglück und Herzeleid bereiten (V. 7-9). So ist auch der Gottlosen Weg und Werk stets in Nacht gehüllt, weil sie ihre Sache nicht gern zu Verhör kommen lassen und das Licht scheuen. „Die Nacht ist keines Menschen Freund“, wohl aber der Gottlosen; ohne das Dunkel der Verborgenheit würden sie ihren Zweck nicht erreichen. Was sie auf ihren Nachtwegen suchen, das ist das Unglück der Frommen; mit deren Tränen, ja mit deren Blute ist der Gottlosen Weg und Werk gezeichnet; sie müssen herhalten und Haare lassen, von ihrem Blute ist die Hure trunken (Offb. 17,6). Das ist ihr Weg, wie Sein Weg, aber es wird von ihrer Hand gerochen (Offb. 19, 2), und ist es das Furchtbarste, das Rätselhafteste im Weltlauf, dass auch bei der tatsächlichen Unterdrückung der Frommen, bei der schnödesten Lästerung der Ehre Gottes der Mund Gottes schweigt, oft noch lange schweiget, und dass daraus die Gottlosen das stärkste Gift saugen, nämlich die Bestätigung und den Tatbeweis ihrer frevelhaften Gottesleugnung, dass sie meinen, Gott sei so, wie sie wähnen und vergesse ebenso bald ihrer Schandtaten, wie des Mordes, an den Heiligen Gottes geschehen, so muss man sein Einschauen in die Gerichte des Herrn fein mäßigen, den Herrn mit Respekt ehren und stille harren der Zeit, von der es Offb. 15, 4 heißt: „Sie beten an vor Dir, denn Deine Urteile sind offenbar geworden!“

V. 12. Steh' auf, Herr, Gott, erheb' Deine Hand; wollest nicht vergessen der Elenden. V. 13. Warum darf lästern Gott der Gottlose, sprechen in seinem Herzen: „Du fragst nicht danach?“ V. 14. Wohl siehst Du, denn Mühsal und Herzeleid gewahrst Du, es zu legen in Deine Hand; Dir stellt's anheim der Hilflose, dem Verwaisten bist Du Helfer. V. 15. Zerbrich des Gottlosen Arm, und den Bösen suche, dass seinen Frevel nimmer Du findest. V. 16. Der Herr ist König immer und ewig; umkommen müssen die Heiden aus Seinem Lande. V. 17. Der Elenden Verlangen hörst Du, Herr; machest gewiss ihr Herz, schärfest Dein Ohr. V. 18. Recht zu schaffen dem Verwaisten und Bedrückten, dass nicht fürder schrecke der Mensch von Erde. Hier sieht man nun mit tausend Freuden, wie dem Gerechten das Licht immer wieder aufgeht in der Finsternis; erst wird's morgenrötlich, der Elende schreit in seiner Angst zu seinem Gott, dann fliegt der Glaube wie ein junger Adler zum Lichte auf, zuletzt triumphiert ein festes Herz in der siegesgewissesten Hoffnung der Durchhilfe des Herrn. Zu diesem Lichte des Herrn sind die rechten und besten Wegweiser gerade die finstern Kreuzesstunden. Auch die Gottlosen müssen denen, die Gott lieben, zum Besten dienen. Merke es daran: der Gottlose sprach in seinem Herzen: „Gott hat es vergessen!“ Das ist dem David eine Zentnerlast worden auf seinem Herzen, dieser Frevel des Gottlosen hat ihm etwas angetan, aber wo Jener sich weidet in dem Triumphe seiner Gottlosigkeit, da macht's David zu seiner Klage und wirft betend die Last auf seinen Gott: „Wollest nicht vergessen der Elenden!“ Dabei geht einem Kinde Gottes weit über allen eigenen Jammer die Schmähung Seines Namens; ihm ist die Ehre Gottes das Erste und Letzte. Ja sogar, ist man erst in diesen feinen Stand eingetreten, dann ist geradezu das Los des Kindes Gottes unzertrennlich von der Ehre des Herrn; jenes fällt zu, wenn man zuerst nach dieser getrachtet hat (V. 12 u. 13). Und wie trachtet ein David danach! Welch' eine strömende Inbrunst, welch' starke Worte in seinem Gebet! Vier starke Gründe und Gebetswaffen sind's, mit denen er die feste Burg seines Gottes einnimmt: er fasst den Herrn bei Seinen eignen Augen, die den Jammer sehen, und damit bei Seinem erbarmenden Herzen; dann fasst er Ihn bei Seiner Kraft und stellt's in Seine Gunst; hernach rücket er es Ihm als eine Ihm befohlene und eingehändigte Petition aller Armen auf; zuletzt fasst er Ihn bei der Ehre Seines schönen, oft in der Kraft erfahrenen Namens: „Dem Verwaisten bist Du Helfer!“ (V. 14). Das heißt beten! Man merkt, wie über dem Schreien die Flügel des Gebets wachsen. In den Rahmen dieses inbrünstigen Kindesgeschreies eingefasst, wie steht nun auch das Flehen um die Vernichtung des Gottlosen in seinem rechten Lichte da! im Lichte der Rettung der Elenden, im Lichte des gnädigen, starken Namens Gottes, im Lichte der Ehre des Waisenhelfers!

Bemerkenswert ist zugleich der Ausdruck, in welchem David die Vernichtung des Gottlosen erfleht: Gott soll ihn suchen, und als Absicht und Folge solchen Suchens wird angegeben, dass seinen Frevel Gott nimmer finde. Das zeigt die furchtbare Wirkung des Suchens Gottes: Wen Gott im Eifer seines Zornes sucht, des Stätte findet man dann nicht mehr, ja die allsehenden Augen Gottes selbst finden sie nicht mehr, so verzehrend ist Sein suchender Zorn (V. 15). Aus der Bitte des Jammergeschreis bricht nun aber zuletzt der Glaube wie ein Held hervor, der Elende wird kühn auf seinen Gott, er kennt im Waisenhelfer den ewigen König, der keine Rebellen in Seinem Lande dulden darf um Seiner Ehre willen, und dieser ewige König ist sein Gott, der Jehovah, der in Seinem Erbarmen gegen die Elenden so zart und mächtig ausgebrochen ist, dessen Herz ihnen gehört und dessen Gerechtigkeit darum im Dienste Seiner Barmherzigkeit steht! (V. 16). Obwohl Er daher gern allen Menschen geholfen wissen wollte, hilft Er doch nur denen, die ihre angeborene Schwachheit fühlen, stürzt dagegen die, so auf ihre angemaßte Stärke trogen; das liegt in den Worten: „Der Elenden Verlangen hörst Du, Herr“ (V. 17). Dass Er aber der Elenden Verlangen hört, daran erkenne das zarte Mutterherz Gottes! Welch ein leises, treues Ohr hat unser Gott, wenn er schon des Herzens Verlangen hört und erhört! Da brauchen wir nicht erst viele, lange Worte zu machen: „Meine Begierde, alle meine Begierde, ist immer vor Dir!“ (Ps. 38,10). Weiß ein David es aber, dass der Herr des Herzens Verlangen hört, Gottlob! - so gibt es eine Gewissheit der Gebetserhörung im Reiche Gottes; der Glaube ist eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet und nicht zweifelt an dem, das man nicht sieht“ (Hebr. 11, 1). Doch „allein der Herr machet das Herz gewiss“ (Sprichw. 16, 2) durch Seine Zusage, durch das mitfolgende Zeugnis Seines heiligen Geistes zur innern Erfahrung, sowie durch mancherlei Winke in der Führung. Wie treu ist Gott!