Stockmayer, Otto - Krankheit und Evangelium - 2. Zeugnis der heiligen Schrift.

Dass uns das Leiden und Sterben Jesu Christi von Krankheit sowohl als von Sünde erlöst hat, ist die unzweideutige Lehre der heiligen Schrift. Aus dem Kapitel des alten Testamentes, das im Bild des sterbenden Erlösers schon den eigentlichen Kern des neuen Testamentes darstellt, aus Jes. 53 ersehen wir, dass das Lamm Gottes unsere Krankheit so gut wie unsere Sünde getragen hat. „Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen“ heißt es dort V. 4. Niemand denkt daran, das Wort auf eine besondere Zeit, wie etwa auf die zur Zeit Jesu und der Apostel lebenden Geschlechter zu beschränken. Dass aber damit nicht nur geistliche Übel und Gebrechen1), sondern wirklich leibliche Krankheiten und Schmerzen gemeint sind, erhellt aus Matth. 8,16.17: „Am Abend aber brachten sie viele Besessene zu Ihm und Er trieb die Geister aus mit Worten und machte allerlei Kranke gesund, auf dass erfüllt würde, das gesagt ist durch den Propheten Jesaia, der da spricht: „Er nahm unsere Gebrechen auf sich und trug unsere Krankheiten weg“ (nach Lange's Bibelw.) oder (nach Stier) „Er hat unsere Schwachheiten2) auf sich genommen und unsere Seuchen hat Er getragen.“ Diese letzte Stelle zeigt uns auch, dass es nicht Gottes Wille ist, dass wir noch fragen, was der HErr für uns getragen hat. Der HErr soll an uns nach Leib und Seele die volle Frucht seines Leidens schauen dürfen. „Darum dass seine Seele gearbeitet hat, wird Er seine Lust sehen und die Fülle haben“ (Jes. 53,11). Ebenso bestimmt ist die Stelle Jak. 5,14-16: „Ist Jemand krank unter euch, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde und lasse sie über sich beten und salben mit Öl im Namen des HErrn! Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der HErr wird ihn aufrichten; und so er Sünden getan hat, werden sie ihm vergeben sein. Bekennt Einer dem Andern seine Sünden und betet für einander, dass ihr gesund werdet! Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist.“ Wenn der Apostel (V. 15.16) den besonderen Fall hervorhebt, wo die Krankheit mit besonderen Sünden zusammenhängt, und in diesem Fall Bekenntnis der Sünden als Bedingung der Heilung verlangt3), so liegt hierin ein Grund mehr, den den Kranken überhaupt gegebenen Verheißungen eine schlechthin allgemeine Tragweite beizumessen.

Man ist allgemein gewöhnt, Krankheit auf die gleiche Linie mit anderen Leiden zu stellen; dies ist aber nicht im Einklang mit der heiligen Schrift. Dass Kinder Gottes leiden, ist der klar ausgesprochene Wille Gottes. Leiden ist für uns der Weg, um in das Himmelreich einzugehen; und die Apostel rühmen sich der Leiden, die sie für den Namen Jesu dulden. Der Apostel Jakobus ermahnt seine Brüder gleich zu Anfang seines Briefes, es für eitel Freude zu achten, wenn sie in mancherlei Anfechtungen (Prüfungen oder Leiden) fallen (1,2); und 5,10 sucht er sie durch Hinweisung auf das Exempel der Propheten hierzu aufzumuntern. In V. 11 verweist er sie auf die Geduld Hiobs. Da sich dieser Knecht Gottes nicht nur unter die im 1. Kapitel erwähnten Schläge unbedingt gebeugt, sondern im Anfang wenigstens auch der Krankheit gegenüber dieselbe völlige Ergebung bewahrt hat (2,10), so könnte man daraus schließen, der Apostel stelle Krankheit auf gleiche Linie mit andern Leiden. Allein gleich nachher (V. 13-15) finden wir in dieser Beziehung eine ausdrückliche und bestimmte Unterscheidung: „Leidet Jemand unter euch,“ sagt der Apostel, „der bete; ist Jemand gutes Mutes, der singe Psalmen; ist Jemand krank unter euch, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde und lasse sie über sich beten und salben mit Öl im Namen des HErrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen…“ Man sieht, dass die Anweisung, die der Apostel für den Fall der Krankheit gibt, derjenigen gerade entgegengesetzt ist, die er für sonstige Leiden gegeben hat. Bei Krankheit gibt er Anweisung, um davon frei zu werden, während er andern Heimsuchungen gegenüber ermahnt, sie mit Geduld zu ertragen. „Sich gedulden“ bedeutet aber im Griechischen: „Darunter bleiben,“ „unter Etwas ausharren.“ Siehe die Stellen Kap. 1, V. 3.4: „Die Prüfung eures Glaubens wirkt Geduld; die Geduld aber soll fest bleiben bis ans Ende…“ (wörtlich: „ein vollkommenes Werk haben“); 1,12: „Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet;“ 5,7: „So seid nun geduldig, meine Brüder, bis auf die Zukunft unseres HErrn!“ V. 8: „Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn die Zukunft des HErrn ist nahe.“

Die gleiche Unterscheidung zwischen Krankheit und andern leiden finden wir schon beim Herrn Jesu.

Was die Person des HErrn betrifft, so hat Er selbst gelitten, während nirgends erzählt ist, dass Er krank gewesen sei. „Er hat gelitten und ist versucht worden“ (Ebr. 2,18) „und zwar in allen Stücken, gleich wie wir“ (4,15); „In Allem musste Er seinen Brüdern gleich werden“ (2,17). Ausdrücklich ausgenommen hiervon ist die Sünde (Ebr. 4,15); die Krankheit ist nirgends erwähnt. Er, der für uns gelitten hat und uns ein Vorbild gelassen, dass wir sollen nachfolgen seinen Fußstapfen (1 Pet. 2,21-23), hat uns für Krankheit kein Vorbild gelassen4). Sünde und Krankheit hat der HErr für uns getragen und hinweggenommen, auf dass wir sie nicht mehr selbst tragen (2 Kor. 5,21. Jes. 53,4 vergl. mit Matth. 8,16.17).

Die gleiche Unterscheidung finden wir in Lehre und Wirksamkeit unseres Erlösers. Die Zeit seiner Erscheinung auf Erden war hierin durchaus keine Ausnahmszeit. Die Berufung zum Leiden, die uns die Briefe der Apostel in Erinnerung bringen, hat der HErr schon an seine Jünger ergehen lassen: wer Ihm nachfolgen wollte, musste sich selbst verleugnen, sein Kreuz auf sich nehmen und sein eigen Leben hassen. Der gleiche Erlöser aber, der Jedem ein Kreuz zu tragen gab, heilte alle Kranken, die man zu Ihm brachte (Matth. 4,23; 8,16), und hieß die Jünger, die Er aussandte, das Gleiche tun (Luk. 10,9). Nie hat Er einen Kranken aufgefordert, seine Krankheit als den Willen Gottes anzusehen und dieselbe mit Geduld zu tragen. Er legte Leiden auf, aber Er nahm Krankheit hinweg.

1)
Wir sagen „nicht nur.“ Die Heilung von der geistlichen Krankheit der Sünde bleibt selbstverständlich das Erste und Wichtigste im Erlösungswerk unseres Heilandes. Siehe 1 Pet. 2,24.25.
2)
Man kann mit gleichem Recht „Schwachheiten“ (2 Kor. 12,10; 13,4), „Gebrechen“ (Gal. 4,13) oder „Krankheiten“ (Joh. 11,3.4) übersetzen.
3)
„So er Sünden getan hat“ Krankheit ist Folge des Falls und steht mit unserer Sünde in innerem Zusammenhang. Darin aber überall eine Strafe und Frucht besonderer Sünden zu sehen, ist ein Irrtum, den der Herr öfters zu bekämpfen hat (Joh. 9,2.3. Luk. 13,1-5) und den sich auch die Freunde Hiobs hatten zu Schulden kommen lassen. Ebenso Unrecht hätte man, überall einen Bann, eine bewusste Sünde oder eine persönliche Untreue vorauszusetzen, wo ein Kind Gottes nicht sofort von seiner Krankheit erlöst wird. S. später.
4)
Wohl aber hat uns der HErr ein Vorbild gelassen für ein Leben der Beschwerde und Entsagung (Müdigkeit, Hunger und Durst), für Märtyrer-Leiden und Märtyrer-Tod. Im weiteren Sinn war Letzteres auch eine Krankheit (1. Jes. 53,3): „Ein Mann der Schmerzen und mit Krankheit vertraut.“ Da bei Jesu Leib, Seele und Geist schlechthin rein und unverdorben war, da Er keinen Keim von Erbsünde, keine Spur persönlicher Sünde in sich trug, so konnte Er auch nur eines freiwilligen und gewaltsamen, nicht aber eines natürlichen Todes sterben. Ergibt sich aber hieraus nicht zu gleicher Zeit, dass Krankheit im gewöhnlichen Sinn des Worts beim Herrn Jesu undenkbar war?