Wir sind zur Ehre Gottes geschaffen und haben den Beruf, seinen Namen und seine Vollkommenheiten zu offenbaren, seines Herzens Gedanken Gestalt und Ausdruck zu geben, seine Ratschlüsse auszuführen. Unser Leib so gut, als Seele und Geist, sind gehalten, mit allen ihren Kräften für die Erfüllung dieser Aufgabe einzustehen und müssen hierfür wieder frei und verfügbar sein. Dies der Grund des inneren Zusammenhangs, der zwischen Heilung und Heiligung besteht, letzteres Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung gefasst.
Ein geheiligter Mensch ist ein Mensch, über dessen Glieder Gott wieder frei verfügen kann, nachdem Er sie durch Christi Blut ausgelöst und in seinen Besitz zurückgebracht, fremder Hand und fremdem Einfluss für immer entrissen hat. Man sehe Joh. 10,36; 17,17-19. Ebr. 10,5-10. Joh. 10, 36 heißt es: „Sprecht ihr denn zu dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, du lästerst Gott, darum, dass ich sage, ich bin Gottes Sohn?“ Sobald Gott seinen Sohn geheiligt und in die Welt gesandt hat - nicht: gesandt und geheiligt -, so kann „heiligen“ nichts anderes bedeuten, als „auserwählen und bei Seite nehmen zur Vollführung eines Auftrags oder eines Werkes.“ In diesem Sinn findet sich das Wort in Jes. 13,3. Jer. 22,7; 51,27.28 (wörtlich übersetzt).
Auf einen Sünder angewandt, schließt „Heiligung“ in sich „Reinigung,“ weil Gott kein unreines Geräte in die Hand nimmt, sich keiner ungereinigten Werkzeuge bedient. Auf den Sohn Gottes angewandt, fällt diese negative Bedeutung des Wortes selbstverständlich weg. Er brauchte nicht erst gereinigt oder ungöttlichem Dienst entzogen zu werden, um ein vollständig geeignetes Werkzeug zu sein für Gottes Liebes- und Heilsgedanken.
Hat nach Joh. 10,36 der Vater den Sohn geheiligt, so sehen wir aus Joh. 17,19, dass der Sohn sich seinerseits geheiligt, d. h. hingegeben hat, um den Willen Gottes auf Erden zu erfüllen. „Ich heilige mich selbst für sie,“ sagt der HErr zu seinem Vater im Blick auf seine Jünger1).
Wie aber der Sohn Gottes sich selbst geheiligt hat, zeigt Ebr. 10,5-9. Wir sehen dort, wie Er vor seinen Vater tritt mit den Worten: „Siehe, ich komme,“ wie Er sich von seinem Vater einen Leib bereiten lässt, um denselben freiwillig als lebendiges Opfer darzubringen, im Gegensatz zu den Opfern von V. 4-6. Mit der Opferung dieses seines Leibes hat Er Gottes Liebeswillen, unsre Erlösung betreffend, ausgeführt. Indem Er sich so Gott geheiligt hat, hat Er uns nach Leib und Seele von fremden Joch und fremder Herrschaft losgekauft: Er hat uns Gott geheiligt. „In welches Willen wir sind geheiligt auf einmal (ein für alle mal) durch das Opfer des Leibes Jesu Christi“ (Ebr. 10, 10). „Ich heilige mich selbst für sie, auf dass auch sie geheiligt seien in der Wahrheit“ (Joh. 17,19).
Das Gleiche lehrt Röm. 6. Durch den Tod Jesu Christi ist auch „unser sterblicher Leib“ erlöst von der Herrschaft der Sünde (V. 12). Unsre Glieder, die vorher der Ungerechtigkeit gedient, die wir zu ungerechten Zwecken und unheiligen Werken, für unser eigenes Leben und nach unserem eigenen Willen gebraucht hatten, sind nun frei geworden nach V. 13 u. 19. Wir können sie Gott wieder zustellen, damit Er sie als Waffen und Werkzeuge für seine gerechten und heiligen Zwecke gebrauche, seines Herzens Sinn und Gedanken zu offenbaren. Wir können nun unsre Leiber „zu lebendigem, Gott wohlgefälligem Opfer“ begeben.
Es kann dies in einer doppelten Weise geschehen. Entweder, indem unsre Glieder für Ihn tätig sind in Wort und Werk, oder indem wir uns mit den Gliedern unsres Leibes, wie mit den Kräften unserer Seele, unter die Beiden hinunterstellen, die der Dienst des HErrn mit sich bringt oder die aus der Feindschaft der Welt gegen das Evangelium erwachsen. Was Letzteres betrifft, so sind die Worte bedeutungsvoll, mit denen der HErr seine Seligpreisungen schließt: „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr! Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und reden allerlei Übels wider euch, so sie daran lügen! Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel wohl belohnt werden. Denn also haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind“ (Matth. 5,10-12). Man nehme hierzu, was der Apostel Paulus schreibt (Kol. 1,24): „Nun freue ich mich in meinen Leiden, die ich für euch leide, und erstatte an meinem Fleisch, was noch mangelt an Trübsalen Christi für seinen Leib, welcher ist seine Gemeinde.“ Einen Kommentar zu diesen Worten bietet das ganze Leben des Apostels; siehe insbesondere die Zusammenfassung, die er selbst von seinem Leben gibt in der Stelle 2 Kor. 11,23-27.
Um in tätigem Wirken oder im Leiden diesen Dienst des HErrn zu treiben, müssen unseres Leibes Glieder, so gut als die Kräfte unseres Geistes frei und verfügbar sein. Unsere Glieder dürfen nicht durch Krankheit gebunden und gefangen gehalten werden; unser Geist darf nicht dem Druck und den Anfechtungen preisgegeben sein, welche Krankheit unter den verschiedensten Formen mit sich bringt; wir müssen los sein von uns selbst2).
Man behauptet, Krankheit sei auch ein Gott geleisteter Dienst; kann das aber aus der Schrift nachgewiesen werden? Im alten Testament sehen wir im Gegenteil, dass Gott Gesundheit verheißt denen, die auf Ihn hören, Ihm gehorchen und Ihm dienen. Im neuen Testament heilt Jesus alle Kranken, die zu Ihm gebracht werden; und später nach Gründung der christlichen Kirche fordert der Apostel Jakobus alle kranken Glieder der Gemeinde auf, die nötigen Schritte zu tun, um geheilt zu werden. Wäre Krankheit in den Augen des Apostels, in gewissen Fällen wenigstens, ein Gott geleisteter und von Gott gewollter Dienst, so hätte er es hier bemerken müssen. Im 11. Kap. des Hebräerbriefs und insbesondere in der am Schluss des Kapitels gegebenen Zusammenstellung (V. 32-40) finden wir eine besonders vollständige Aufzählung von Lebensläufen, die in tätigem Wirken oder im Leiden Gott geweiht waren. Unter den göttlichen Zeugen, die dort erscheinen und die wir uns zum Vorbild nehmen sollen (12,1), erscheinen nicht etwa Kranke, sondern (V. 34) „die aus Schwachheit sich empor rafften“(Lange's Bibelw.) oder, wie man übersetzen kann, „aus Krankheit gekräftigt hervorgingen.“
Zwischen dem alten und neuen Bund, auf einer Stufe inneren Lebens, die weder dem Einen noch dem Andern völlig angehört, begegnen wir Hiob. Hätte der HErr diesen auserwählten Knecht nach dem Maßstab des alten Testaments gemessen, so hätten ihn die im 1. und 2. Kap. seines Buches erzählten Schläge nicht getroffen. Denn Hiob war „schlecht und recht, gottesfürchtig und mied das Böse“ (1,1). Nach den Erklärungen der heiligen Schrift, die wir im folgenden Kapitel verzeichnen werden, hätte er als solcher Anspruch machen dürfen, verschont zu bleiben. Wenn es aber Gott wohlgefallen hat, in Bezug auf diesen seinen Knecht eine Herausforderung Satans anzunehmen, ja sogar zu veranlassen, so geschah dies eben in der Absicht, ihn über den Standpunkt des alten Bundes hinauszuheben und ihm zum Bewusstsein zu bringen, wie unmöglich es dem Menschen ist, den darin herrschenden Gesichtspunkt durchzuführen, den Gesichtspunkt menschlichen Rechts und eigener Gerechtigkeit, zusammengefasst in den Worten: „Tue das, so wirst du leben.“ Angesichts der gründlichen Verdorbenheit unserer menschlichen Natur, sind wir einer schlechthin untadeligen Frömmigkeit unfähig; wir können nicht Gottes Gebote erfüllen und den Anforderungen seiner Heiligkeit nachkommen in einer Weise, dass wir auf Glück, Gesundheit und Leben Anspruch hätten. Der „Verkläger“ kann nur zum Schweigen gebracht werden durch das Werk und die vollkommene Gerechtigkeit Christi. Darum kann auch Hiob weder Gott noch Satan gegenüber durchdringen, so lange er seinen eigenen Begriffen von Gerechtigkeit gemäß seine Rechte geltend macht. Sobald aber Gott das Wort nimmt und in seiner Größe, Majestät und Heiligkeit an Hiob herantritt, legt dieser die Hand auf den Mund, wirft sich in den Staub und gibt sich schuldig. Damit ist Satan besiegt und die Ehre Gottes gerettet. Gott hat seine Absicht an Hiob erreicht, und das Licht seiner Gnade kann wiederum über seinem Knecht leuchten, Vergebung und Erlösung bringend.
Unsere Stellung als Kinder des neuen Bundes ist eine wesentlich andere, als diejenige Hiobs. Für uns ist der Verkläger überwunden durch das Blut des Lammes (Offb. 12,11), durch das Blut, das von aller Sünde reinigt (1 Joh. 1,7). Wir machen gegen seine Angriffe keine Rechte und keine eigene Gerechtigkeit mehr geltend; wir wissen, dass wir keine besitzen. Was wir geltend machen, sind die Rechte Christi. Seitdem Christus unsere Glieder für seinen Dienst erkauft hat, können wir nicht mehr zugeben, dass Satan Ihm dieselben streitig mache. Sobald wir aber nichts mehr für uns beanspruchen, unser „Leben nicht lieb haben bis in den Tod,“ sind wir gegen Satan gedeckt.
Handelt es sich nun für Gott darum, wie im Falle Hiobs, Satan Lügen zu strafen, so bietet hierfür, auch wenn Krankheit wegfällt, das Leben und der Dienst seiner Kinder ein hinlänglich ausgedehntes und mannigfaltiges Feld. Fangen wir nur erst damit an, in Wort und Wandel das Zeugnis abzulegen, zu dem uns die Schrift klar und unzweideutig beruft, so wird der Widerspruch, den ein solches Zeugnis in der Welt hervorruft, für uns Leiden und Demütigungen aller Art, wenn nicht gar Verfolgung und Märtyrertod zur Folge haben. Wir werden auf diesem Wege reiche Gelegenheit finden, den HErrn durch Geduld und Vertrauen, durch Ausdauer und Selbstverleugnung zu ehren.
Eines Sinnes mit dem Verfasser des Hebräerbriefs, rühmt sich die Gemeinde Christi heute noch der Ketten, die die Ihrigen getragen, und des Märtyrertodes, den sie erlitten, vielmehr als der Leiden der Krankheit, die sie durchgemacht haben. Letztere haben wir mit den Kindern der Welt gemein, während Märtyrertod und Märtyrerleben die unmittelbare Frucht unsrer Bekenntnistreue im Dienste Christi sind.
„Aber,“ könnte man einwenden, „Krankheit heiligt uns wenigstens in dem allgemein gangbaren Sinne des Worts, und ist sie darum nicht ein Gott geleisteter Dienst, so erzieht sie uns doch zu solchem Dienst.“
Um uns in dieser Frage klar zu werden, müssen wir vor Allem bedenken, dass jeder Fortschritt auf dem Wege der Heiligung für uns dadurch bedingt ist, dass wir die Sorge für unsre geistlichen Interessen nicht selbst in die Hand nehmen. Wo wir es in innerem Wachstum zu etwas bringen wollen und ein für uns selbst befriedigendes Resultat anstreben, wo wir mit Einem Wort etwas für uns suchen, da wandeln wir in einer, der wahren Heiligkeit entgegengesetzten Richtung. Alles, was unsre Blicke auf uns selbst lenkt, sie abzieht von Gott, von der Verfolgung seiner Ehre und der Vollbringung seines Willens, steht im Gegensatz zur Heiligkeit.
Gott will, dass wir heilig seien; wir sollen etwas sein zum Lob seiner Herrlichkeit (Eph. 1,12). Allein die Förderung unseres geistlichen Lebens ist ein Ziel, dessen Verfolgung, ist eine Sache, deren Betreibung ausschließlich Gott zukommt. Unser Dienst im Weinberg des HErrn und die Erfahrungen von unserer gänzlichen Unmacht und Abhängigkeit von Gott, die wir dabei machen, sind die Steine, mit denen Gott unser inneres Leben aufbaut. Wir sind auf diesem Weg genötigt, unverrückt in der Zucht der Gnade zu bleiben, wodurch der Geist Gottes immer mehr Raum und das Leben Christi immer mehr Boden in uns gewinnt und sich somit ein stetes Wachstum in der Heiligung vollziehen kann. Unmittelbar aber haben wir mit diesem Aufbau nichts zu tun. Unser Augenmerk muss ausschließlich auf den Dienst und die Interessen des HErrn gerichtet sein, und wir müssen die Sorge für unser geistliches Leben ausschließlich Gott überlassen. Unser einzig wahres Interesse ist, für Gottes Interesse zu leben.
Der biblische Begriff von Heiligung ist, wie wir sahen, der eines Standes, einer Stellung der Verfügbarkeit für Gott. Nach gesund evangelischer Auffassung gewinnt man aber diese Stellung nicht durch eigenes Ringen; sie ist nicht die natürliche Frucht der Krankheit oder sonstiger Leiden, sondern man tritt in sie ein durch den Glauben. Man erfasst kindlich, was die Schrift uns zuspricht, nämlich dass wir mit Blut erkaufte und vom eitlen Wandel erlöste Leute sind, gestorben und begraben mit Christo in seinen Tod, von uns selber geschieden, eigenem Leben und Willen entfremdet. Nicht durch Leiden unserer Glieder werden wir, sondern durch das Todesleiden seiner Glieder sind wir geheiligt (Ebr. 10,10). Was Er gelitten hat, ist für uns; was wir leiden, ist für Ihn.
Ist man sich hierüber klar, so erkennen wir andererseits vollständig an, dass Krankheit, so gut wie jedes andere Leiden, reinigend und heiligend auf uns wirken kann (Mal. 3,2.3. Röm. 5,3.4. 1 Pet. 1,6.7); und wir werden später auf den reichen Segen, den uns Krankheit bringen kann, näher eingehen. Im Grunde ist es aber immer das Blut Jesu Christi, das Wort Gottes im Glauben aufgenommen, was uns reinigt (1 Joh. 1,7. Joh. 15,3. Apg. 15,9), niemals Leiden in sich selbst. Der läuternde Einfluss der Krankheit besteht einzig und allein in der Zucht, die sie auf uns ausübt. Sie hat die Aufgabe, auf uns zu drücken und uns in die Enge zu treiben, bis wir die Waffen gestreckt und den von Krankheit getroffenen Leib mit allen seinen Gliedern Gott ausgeliefert haben; bis wir in einfältigem Glauben die von Christo uns erworbene Erlösung völlig erfasst und in die Stellung eingetreten sind, die Er uns bietet; bis wir entschlossen sind, uns als Gott geheiligt anzusehen und in seiner Kraft als Gott Geheiligte zu leben.