Spurgeon, Charles Haddon - Worte der Weisheit für das tägliche Leben - Seid nüchtern!

Seid nüchtern! Bedeutet das nicht ebenso viel, als sich in allen Dingen mäßigen? Seid in eurer Freude nicht so ungebunden, dass ihr kindisch werdet. Lasst euch nicht von dem weltlichen Gewinn oder von weltlicher Ehre berauschen, und lasst euch nicht andrerseits von zeitlicher Trübsal so nieder drücken, wie es einige leicht tun, so dass sie auch bei dem geringsten Unglück schon schreien: „Ach, dass ich lieber stürbe!“ Seid nüchtern, haltet den Mittelweg inne, der ein goldener Weg ist. Sehr viele Personen bedürfen dieser Mahnung, denn sehr viele blasen heute heiß und morgen kalt. Einmal ist ihre Hitze tropisch, und das andre Mal weht ihre Kälte vom Nordpol her. Wenn ihr sie den einen Tag reden. hört, so werdet ihr denken, sie wären wirkliche Engel, aber sie erscheinen euch als Engel ganz andrer Art, wenn ihr morgen mit ihnen zu tun habt. Abwechselnd geht es so hoch hinauf und so tief hinunter mit ihnen, weil sie sich immer in Extremen bewegen, und heute haben sie es hiermit zu schaffen, morgen damit. Ich kannte einmal einen Christen, den ich immer mit dem selben Gruße begrüßte, welchen ich mir für ihn angewöhnt hatte, weil ich eben wusste, dass er so sehr veränderlich war. Wenn er mir begegnete, so sagte ich jedes Mal: „Guten Morgen, mein Freund, was sind Sie jetzt?“ Er war nämlich einmal ein Arminianer, der sich große Mühe gab, junge Leute über die Irrtümer der calvinistischen Lehre zu unterweisen, und kurze Zeit nachher wurde er dann ein sehr eifriger Calvinist, der mich in vielen Punkten gern meines Irrtums über. wiesen hätte, ohne, dass ich ihm jedoch die Freude machen konnte, mich überzeugen zu lassen. Bald darauf wurde er Baptist, der, so viel ich weiß, mit mir in allen Punkten überein stimmte, und weil das noch nicht genug war, so wurde er später auch noch ein Plymouth-Bruder, der damit zu derjenigen Kirche zurückkehrte, aus der er früher hervorgegangen war. Als ich ihm hierauf wieder begegnete, sagte ich: „Guten Morgen, Bruder, was sind Sie jetzt?“ worauf er erwiderte: „Herr Spurgeon, das ist wirklich hässlich von Ihnen, Sie haben mich vor einiger Zeit schon ebenso gefragt!“ aber ich antwortete ihm: „Habe ich? Nun, was sind Sie denn jetzt? Können Sie mir heute auch dieselbe Antwort geben, wie früher, wenn ich dieselbe Frage an Sie richte?“ Ich wusste nämlich, dass er mir dieselbe nicht geben konnte, und ich möchte allen Brüdern und Schwestern die ernstliche Mahnung zurufen: „Seid nüchtern! seid nüchtern!“ Es ist nicht weise, auf dem Wege so hin und her zu schwanken, und ich bitte euch, fasst festen Fuß, und versichert euch immer des nächsten Schrittes, ehe ihr ihn tut. Nüchtern zu sein, das bedeutet so viel, als einen ruhigen, klaren Blick zu haben, um beurteilen zu können, was Recht oder Unrecht ist, und um auf diese Weise nicht der Menge nach zu schwatzen. Lasst euch nicht von denen beeinflussen, die auf der Straße am lautesten zu schreien vermögen, oder die die größte Trommel schlagen; urteilt selbst nach eurem Verstande, urteilt in dem Angesichte Gottes mit ruhiger Überlegung. Seid nüchtern, das heißt so viel als: habt einen klaren Kopf. Ein Mann, welcher trinkt und dadurch seine geistige Fähigkeit zerstört hat, der befleckt und beschmutzt sich und irrt auf dem Wege. Wer aufhört, nüchtern zu sein, der macht sich selbst zum Narren, darum bitte ich dich, begehe diese Sünde nicht, und halte deinen Kopf besonders ruhig und klar, wenn es sich um göttliche Dinge handelt. Bitte den Herrn, dass Er dir Gnade schenkt, ein friedliches und reines Herz zu haben, das nicht auf der einen Seite von eitler Furcht, noch auf der andern Seite von törichter Hoffnung beunruhigt werde.

Wenn der Apostel sagt: „Seid nüchtern!“ so wissen wir, dass dies auch oft bedeutet: „Seid wachsam!“ und diese beiden Dinge sind sicher sehr nahe miteinander verwandt. Wir haben die Augen im Leben sicher weit auf zu tun, und nicht in halbem Schlafe durchs Leben zu gehen, wie dies so manche Christen tun, und wie es leider bei manchen Gemeinschaften und Kirchen zu finden ist. Der Hirte schnarcht theologisch vor, und die Leute in den Bänken nicken im Chore nach, aber in diesem schlafenden Zustande können doch manche heilige Werke vollbracht werden. Da können große Sonntagsschulen gehalten werden, wo die Lehrer wie die Kinder stets im Schlafe bleiben. Da können Traktat-Gesellschaften bestehen, wo die Schlafenden an die Türen der Schlafenden klopfen, und alles geht wie im Traum seinen Weg. Allein der Apostel sagt: „Wacht und seid lebendig.“ Ja, Brüder, seid wachsam, und lasst euch von alledem, was wir euch gesagt haben, wirklich aufrütteln, um all eure Kraft in den Dienst eures Herrn und Meisters zu stellen. Endlich lasst uns auch hoffen bis ans Ende, verzweifelt nicht und zweifelt nicht, hofft, wenn auch die Dinge noch so hoffnungslos aussehen. Ein kranker und leidender Bruder machte mir eines Tages den Vorwurf, dass ich so niedergeschlagen sei, und dabei meinte er, man müsse niemals die weiße Feder zeigen. Als ich ihn fragte, was er damit meine, entgegnete er: „Nun, es scheint mir, als ob Sie sich bisweilen so niederdrücken ließen; ich bin nahe daran zu sterben, aber ich sehe keine Wolken und fürchte mich nicht.“ Ich freute mich, ihn so fröhlich zu sehen, und sagte ihm, er solle mich wegen meines Kleinglaubens nur recht scharf tadeln, denn ich verdiene es. Nun sprach er darauf: „Sie sind der Vater von vielen unter uns. Sie haben meine Freunde und mich zu Christo geführt, sollten Sie sich nun nicht schämen, wenn Sie nach so vielem Segen so niedergedrückt einher gehen wollen?“ Ich konnte nur sagen, dass ich mich wirklich schämte, und dass ich wünschte, in der Zukunft mehr Zuversicht zu haben. Brüder, wir müssen hoffen und nicht fürchten. Seid stark in der heiligen Zuversicht auf Gottes Wort, und seid gewiss, dass seine Sache bestehen und vorwärts gehen wird. „Hofft!“ spricht der Apostel, „hofft bis zum Ende“, und ob das Schlimmste käme, hofft dennoch; denn wenn eure Hoffnung in Gott gegründet ist, so könnt ihr niemals zu viel hoffen.