Spurgeon, Charles Haddon - Worte der Weisheit für das tägliche Leben - Die Ruhe der Selbstsucht

Von dieser großen Sünde spricht der Geist Gottes schon zu Mose: „Ich werde ihre Sünde wohl heimsuchen.“ Ein großer Gottesgelehrter hat über diese Stelle eine Predigt gehalten, in welcher er aus dieser Sünde den Mord herleitet; ein andrer den Diebstahl, und noch ein andrer die Falschheit. Das sind alles drei sehr vorzügliche Predigten; allein mir scheint, sie haben mit dem Text nichts zu tun, wenn wir denselben so lesen, wie Mose ihn angibt. Wenn du den Text gerade so nimmst, wie er da steht, so ist nichts mehr vom Mord darin zu finden, auch nichts von Diebstahl oder ähnlichen Vergehen, denn in der Tat wird in dem Wort nicht das behandelt, was Menschen tun, sondern im Gegenteil, was sie nicht tun. Die Trägheit des Nichtstuns wird lange nicht so oft besprochen, als es nötig wäre, und die Sünde der Unterlassung ist jedenfalls in unsrem Text ins Auge gefasst, und vor ihr wird darin gewarnt. Willst du dich aber nicht vor ihr warnen lassen, so sei gewiss, dass sie dich finden wird. Worin bestand denn eigentlich diese Sünde? Bitte, erinnere dich daran, dass es die Sünde desjenigen Volkes war, das sich Gott selbst auserwählt hatte, und nicht etwa diejenige der Ägypter oder Philister; nein, es war die Sünde des Volkes Gottes, das allen andren Nationen vorgezogen war: somit gehört auch dieser Text euch an, die ihr irgend zu den Stämmen Israels zu rechnen seid, und euch, die Gott zu seinen Geliebten zählt. Euch, die ihr euch Christen nennt, die ihr zu den Gemeindemitgliedern gehört, euch sage ich es, ihr könnt ganz gewiss sein, dass eure Sünde euch finden wird, und worin besteht diese Sünde? In trauriger Weise lässt sie sich gerade unter den Christen und Bekennern sehr häufig finden, so dass es notwendig ist, dass wir uns ernstlich mit ihr befassen. Sie leitet die Seelen dahin, den Anteil ganz zu vergessen, den sie an dem heiligen Kriege zu nehmen haben, der für Gott und für seine Kirche geführt werden muss. Dieses Verbrechen führt eine ganze Menge andrer Vergehen mit sich, und es liegt uns ob, dieselben genau auseinander zu halten und euch klar vor die Augen zu stellen. Zuerst kam die Sünde der Faulheit und der Bequemlichkeit: „Wir haben Herden, das Land liegt vor uns, in welchem es Weiden genug gibt; lasst es uns einnehmen, um unsre Herden hinein zu treiben, und lasst uns Stallungen bauen, zu denen das Baumaterial in Fülle vor uns liegt. Dann wollen wir diese Städte der Amoriter wieder aufbauen, und uns bequem darin einrichten. Sie sind schon beinahe fertig, und unsre Kinder können es sich behaglich darin machen. An dem Kämpfen und Streiten haben wir kein Vergnügen, darin haben wir genug gesehen in den Kriegen mit Sihon und Og, Ruben blieb auch lieber bei seinen Schafherden, und Gad hatte mehr Vergnügen an dem Blöken und Hüpfen der Lämmer, als daran, in den Krieg zu ziehen.“ Ach, der Stamm Ruben ist noch nicht ausgestorben, und mit dem Stamm Gad ist es heute auch noch nicht aus! Gar manche, die zu dem Hause Gottes gehören, sind ebenso abgeneigt zum Handeln wie jene es waren, und lieben die süße Ruhe ebenso wie sie. Hört ihr sie nicht sprechen: Gott sei Dank, wir haben gute Ruhe, wir sind gerettet, wir sind vom Tode zum Leben hindurch gedrungen, wir haben den Namen des Herrn angerufen, wir sind in seinem teuren Blut gewaschen, und darum sind wir gesichert!? Nun erlauben sie in träger Ruhe dem Fleisch und Blut, sich in Trägheit breit zu machen, und so heißt es dann alsbald: „Liebe Seele, du hast einen Vorrat für viele Jahre, iss und trink', liebe Seele, und lass dir wohl sein.“ Geistige Trägheit ist ein gräuliches Übel, aber wir sehen es überall um uns her. An den Sonntagen müssen diese Müßiggänger gut genährt werden, sie laufen nach solchen Predigten, die ihnen gerade für ihre Seelen geeignet scheinen, und es kommt diesen Leuten gar nicht in den Sinn, dass es für sie noch irgend etwas andres zu tun geben könnte, denn sich selbst zu erquicken und zu nähren. Das Werk der Seelenrettung ist längst beiseite geschoben, die Menschen, die vor ihren Toren verloren gehen, die Menge, deren Sünde die Luft verpestet, die geht sie nichts an. Die Zeiten werden immer schlechter, so denken sie, und die Menschen werden in ihrem versunkenen Zustand dem Teufel immer ähnlicher. Trotzdem aber wollen unsre gemächlichen Leutchen stets liebliche Predigten hören. Sie essen das Fette und trinken das Süße. Sie drängen sich zu schönen Festen, wo sie das Beste zu genießen bekommen; ja, die geistlichen Feste, die sind ihre Lust. Predigten, Konferenzen, Bibelstunden, und wenn sonst etwas Besonderes ist, dem laufen sie nach, während die einfachen, alltäglichen Gottesdienste von ihnen versäumt werden, und während sie nicht die Hand rühren mögen, um irgend etwas zu vollbringen. Sie gürten sich nicht, sie ergreifen nicht das Schwert, sie schleudern keinen Stein, weil sie ja ihren eignen Teil errungen haben, und weil sie darum zufrieden sind, wenn sie nur ganz stille sitzen können. In ihrer sündhaften Sicherheit wirken sie nichts Lebendiges, und geben also auch gar kein Zeugnis vom eignen Leben. Sie sind eben nichts andres als irrende Bummler, so faul wie sie lang sind. Sie fühlen sich nirgends zu Hause, als nur da, wo sie sich selbst vergnügen und es sich behaglich machen können. Sie lieben ihre eignen Betten, aber des Herrn Felder mögen sie nimmer pflügen und bestellen. Diese Sünde ist in dem Text beschrieben, den wir finden. „Ich werde ihre Sünde wohl heimsuchen, wenn meine Stunde kommt heimzusuchen.“ Die Sünde des Nichtstuns gehört zu den allergrößten Sünden, denn die meisten andren Sünden sind in ihr enthalten. Wenn eure Brüder voran in den Krieg ziehen und ihr bleibt still in eurer Bequemlichkeit sitzen, so brecht ihr damit die Gebote der beiden Gesetzestafeln, um damit den Götzendienst mit dem eignen Ich zu treiben, der weder die Liebe zu Gott noch zu den Menschen aufkommen lässt. O, gräuliche Untätigkeit! Gott bewahre uns vor ihr!