Inhaltsverzeichnis

Spurgeon, Charles Haddon - Psalm 90

Ein Gebet Moses, des Mannes Gottes - Herr, Gott, du bist unsre Zuflucht für und für. - Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. - Der du die Menschen lassest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! - Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. - Du lassest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird. - Das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt. - Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so - plötzlich dahinmüssen. - Denn unsre Missetaten stellst du vor dich, unsre unerkannte Sünde ins hiebt vor deinem Angesicht. - Darum fahren alle unsre Tage dahin durch deinen Zorn; wir bringen unsre Jahre zu wie ein Geschwätz. - Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenns hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. - Wer glaubt aber, dass du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor solchem deinem Grimm? - Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. - Herr, kehre dich doch wieder zu uns und sei deinen Knechten gnädig! - Fülle uns frühe mit deiner Gnade, so wollen wir rühmen und fröhlich sein unser Leben lang. - Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden. - Zeige deinen Knechten deine Werke und deine Ehre ihren Kindern. - Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich und fördere das Werk unserer Hände bei uns; ja, das Werk unserer Hände wolle er fördern!

Allgemeines

1. Überschrift

Ein Gebet Moses, des Mannes Gottes. Mose war ein großer Mann in Worten und Taten, und dieser Psalm steht ebenbürtig neben seiner großen Rede im 5. Buch Mose. Er war ein Mann Gottes: von Gott erwählt, mit dem Geist Gottes begabt und von Gott geehrt. Er war Gott treu mit seiner ganzen Familie. Der Psalm wird „Gebet„ genannt. Männer Gottes sind auch Beter. Dies Gebet ist nicht das einzige Gebet Moses, sondern eins von vielen und ein Beispiel dafür, wie der Seher vom Horeb mit Gott gesprochen hat. So hat er für sein Volk Israel gebetet. Wir haben hier den ältesten Psalm, der in seinem Inhalt und Ausdruck einzigartig dasteht. Viele Generationen von Trauernden haben die Worte dieses Psalms an den offenen Gräbern gehört und sind getröstet worden.

2. Inhalt und Einteilung

Mose singt von der Hinfälligkeit des Menschen und der Kürze des Lebens im Gegensatz zu der Ewigkeit Gottes. Darauf gründet er dann sein ernstes Gebet um das Erbarmen und die Liebe Gottes. Meditation (V. 1-11); Gebet (V. 12-17).

Auslegung

1. Meditation (Vers 1-11).

V. 1 „Herr, Gott, du bist unsre Zuflucht für und für“ (Elberfelder: Herr, du bist unsere Wohnung gewesen von Geschlecht zu Geschlecht). Wir werden die Bedeutung der einzelnen Verse gut verstehen, wenn wir daran denken, dass dieser ganze Psalm für die Stämme Israels auf. der Wüstenwanderung geschrieben worden ist. Mose sagt hier: Wir finden unsere Heimat bei dir, Gott, auch wenn wir Wanderer durch die endlose Wüste sind. So haben auch unsere Väter bei dir ihre Wohnung gefunden, als sie aus Ur in Chaldäa nach Kanaan zogen und dort in Zelten als Fremdlinge wohnen mussten. Der Herr der Heerscharen, der ewige Gott, ist Wohnung und Zuflucht für alle Gläubigen. Er beherbergt, tröstet, schützt und pflegt alle, die zu ihm gehören. Wir wohnen nicht in der Stiftshütte oder im Tempel, sondern in Gott selbst. Und so ist es immer gewesen, seit es die Gemeinde Gottes auf der Welt gibt. Wir haben den Ort unserer Zuflucht nicht gewechselt. Königspaläste sind im Lauf der Zeit immer wieder zerstört worden; sie wurden verbrannt und unter Trümmern begraben. Häuser sinken in Schutt und Asche. Aber das königliche Geschlecht des Himmels hat seine Wohnung noch nie verloren! Wo unsere Väter und viele hundert Generationen vor ihnen gewohnt haben, dort wohnen wir heute noch! Der Heilige Geist sagt den Gläubigen: „Wer seine Gebote hält, der bleibt in Gott und Gott in ihm„ (1. Joh. 3, 24). Und Jesus sagt: „Bleibet in mir. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viele Frucht“ (Joh. 15, 5).

V. 2 „Ehe denn die Berge wurden.„ Noch bevor die gewaltigen Berge aus dem Schoß der Natur entstanden, war Gott da als der Herrliche und Allgenügsame. „Und die Erde und die Welt geschahen wurden“ Auch in diesem Satz liegt der Hinweis auf den Vorgang einer Geburt. Die Erde wurde erst vor kurzem geboren, und es ist noch gar nicht lange her, dass das Festland vom Meer getrennt worden ist. „Bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.„ Gott war, als noch nichts war. Er war Gott, als die Erde noch ein Chaos war und die Berge noch nicht dastanden. In diesem ewigen Gott ist sichere Zuflucht für alle Generationen der Menschen. Wenn Gott erst von gestern wäre, würden die Menschen bei ihm keine Zufluchtsstätte finden können. Wenn er sich ändern könnte oder aufhören würde, Gott zu sein, wäre er ein sehr unsicherer Wohnort für sein Volk. Und nun wird diese ewige Existenz Gottes im Gegensatz zu der Kürze des menschlichen Lebens gesehen:

V. 3 „Der du die Menschen lassest sterben“ (Elberfelder: Du lassest zu Staub zurückkehren den Menschen). Der menschliche Körper wird wieder in seine Elemente aufgelöst. Er wird gleichsam wieder zu Staub zermalmt. „Und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder!„ Das heißt: Kehrt zurück zu dem Staub, von dem ihr gekommen seid. Damit wird die Hinfälligkeit des Menschen eindrücklich dargestellt. Gott schuf den Menschen aus der Erde, und zu Erde muss er wieder werden, wenn der Schöpfer es befiehlt. Ein Wort hat ihn geschaffen, und ein Wort vernichtet ihn wieder. In jedem Fall aber ist Gott der Handelnde. Der Mensch stirbt nicht auf Grund irgendeines unvermeidbaren Schicksals oder durch ein unausweichliches Gesetz. Gott ist es, der Leben und Tod bestimmt. Keine Macht der Erde könnte töten, wenn Gott es nicht will.

V. 4 „Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist.“ Tausend Jahre — was für ein langer Zeitraum 1 Wie viel kann sich in tausend Jahren abspielen! Aufstieg und Fall von Weltreichen, Glanz und Untergang von Herrschern, Anfang und Ende großartiger philosophischer Systeme und zahllose Ereignisse, die wichtig sind im Völkerleben und für den einzelnen Menschen. Und doch ist dieser Zeitraum, nach menschlichem Empfinden so unendlich lang, für den Herrn wie ein Nichts. Für ihn ist er wie eine Zeitspanne, die bereits vorüber ist. Im Vergleich zur Ewigkeit sind die längsten Zeiträume nur winzige Punkte. Man kann das schlecht beschreiben, weil es ja in Wirklichkeit keinen echten Vergleich zwischen Zeit und Ewigkeit gibt. „Und wie eine Nachtwache.„ Ein Zeitabschnitt, der schon vergangen ist, wenn man ihn kaum begonnen hat. Die Engel haben in tausend Jahren kaum Zeit genug, die Wachen zu wechseln! Wir verträumen die lange Nacht der Zeit, während Gott ununterbrochen Wache hält. Wieviele Tage und Nächte gehören für uns dazu, um tausend Jahre zu füllen! Und für Gott ist diese ganze Zeit nicht einmal so lang wie eine einzige Nacht; ja, wie ein kleiner Teil der Nacht.

V. 5 „Du lassest sie dahinfahren wie einen Strom“ (Elberfelder: Du schwemmst sie hinweg). Wie ein reißender Strom alles vor sich herschwemmt, so reißt der Herr die Generationen der Menschen durch den Tod hinweg. „Sie sind wie ein Schlaf.„ Wir selber sind ein solcher Traum vor ihm, nicht nur unsere Pläne und unser Denken. „Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird.“ Gras steht morgens frisch und grün, und abends ist es schon Heu. So können auch die Menschen in wenigen Stunden oder Sekunden aus blühender Gesundheit in den Tod gerissen werden. Wir sind keine Zedern oder Eichen, sondern nur elendes Gras.

V. 6 „Das da frühe blühet.„ Das Gras blüht wundervoll auf und bedeckt die Felder mit bunter Schönheit. Auch der Mensch durchlebt in seiner Jugend eine solche Zeit des Aufblühens. „Und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt.“ Die Sichel macht dem Blühen ein Ende. Das natürliche Altern würde dem Gras wie auch dem Menschen zu gegebener Zeit ein Ende setzen; aber nur wenige erreichen das volle Alter. Meist kommt der Tod mit seiner Sichel und schneidet unser Leben mitten in der Blütezeit ab. Welch eine Veränderung in so kurzer Zeit! Der Morgen sah das Blühen, der Abend sieht das Verwelken.

V. 7 Unsere Sterblichkeit ist kein Produkt des Zufalls. Der Tod lag zunächst auch nicht unumgänglich in unserer Natur. Die Sünde hat den Herrn zum Zorn herausgefordert, und deshalb müssen wir sterben. „Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen.„ Das ist die Sichel, die uns abmäht. Das ist die Hitze, durch die wir verwelken. Dieses Wort bezieht sich besonders auf das Volk Israel in der Wüste. Gott verkürzte die Lebenszeit der Israeliten, weil sie sich gegen ihn aufgelehnt hatten. Sie starben nicht durch natürlichen Kräfteverfall, sondern durch die gerechte Strafe Gottes. Es muss für Mose unendlich traurig gewesen sein, die ganze Nation auf der vierzigjährigen Wüstenwanderung sterben zu sehen. Keiner von allen, die aus Ägypten ausgezogen waren, überlebte diese Wanderung. Gottes Gunst bedeutet Leben, sein Zorn Tod. Ebensogut könnte Gras im brennenden Ofen blühen, wie Menschen unter dem Zorn Gottes leben! „Und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen.“ Der göttliche Zorn hatte sie erschreckt, und sie lebten in der Wüste wie Menschen, die wissen, dass sie zum Tode verurteilt sind. Im gewissen Sinn gilt das auch von uns; aber etwas hat sich für uns durch Jesus Christus geändert: Es sind „das Leben und ein unvergänglich Wesen ans Licht gebracht„ (2. Tim. 1, 10). Der Tod hat für die Gläubigen jetzt ein anderes Gesicht bekommen. Er ist für sie nicht mehr eine Hinrichtung. Der Stachel des Todes ist ja der Zorn Gottes, den die an Jesus Christus Gläubigen nicht mehr zu spüren bekommen. Liebe und Barmherzigkeit Gottes führen sie jetzt durch das Grab hindurch in die Herrlichkeit. Der Psalm ist ja von Mose zur Zeit des Gesetzes geschrieben und betrifft ein Volk, das in einer ganz bestimmten Situation, unter dem Gericht und der Strafe Gottes lebt. Es kommt darauf an, dies klar zu sehen. Wir sind Gläubige, die von ihrem Herrn Jesus Christus geliebt werden. Deshalb dürfen wir den Psalm nicht falsch anwenden, indem wir das in Anspruch nehmen, was speziell für die Israeliten während der Wüstenwanderung gilt. Ihnen hat Gott in seinem Zorn geschworen, dass sie nicht zu seiner Ruhe eingehen sollten. Trotzdem ist richtig, dass diese Worte auch alle die etwas angehen, die heute von ihrer Sünde überführt sind. Kein Feuer brennt so heiß wie Gottes Zorn!

V. 8 „Denn unsere Missetaten stellst du vor dich.“ Wenn Gott unsere Sünde aufdeckt, muss sie uns den Tod bringen. Das Leben erhalten wir nur, wenn das Blut der Versöhnung unsere Sünden zudeckt. Als Gott die Stämme Israels in der Wüste vernichtete, hatte er ihre Sünde vor sich. Deshalb ging er so streng mit ihnen um. Er musste sie strafen, weil ihre Sünden vor ihm waren. „Unsere unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesiebt.„ Unsere Sünden sind vor Gott kein Geheimnis. Er bringt das Verborgenste im Menschen hervor und stellt es in das Licht. Es gibt kein strahlenderes Licht als das Angesicht Gottes; und in dieses starke Licht stellt der Herr die verborgenen Sünden Israels. Wenn hier mit dem Angesicht Gottes Liebe und Güte gemeint sind, dann tritt die Abscheulichkeit der Sünde ganz besonders kraß zutage. Im Licht der Gerechtigkeit ist Sünde schon schwarz, im Licht der Liebe aber ist sie teuflisch. Wie können wir überhaupt einen Gott betrüben, der so gut ist? Das Volk Israel ist durch die mächtige Hand Gottes aus Ägypten herausgeführt worden; Gott hat die Israeliten mit seiner freigebigen Hand in der Wüste ernährt und sie mit der Hand der Liebe geleitet. Gerade deshalb waren ihre Sünde so besonders schwer und gemein. So können auch wir zutiefst schuldig werden, wenn wir den Herrn verlassen, der uns durch das Blut seines Sohnes Jesus Christus erlöst und durch seine reiche Gnade gerettet hat! Was für Menschen sollten wir sein! Wie sollten wir bitten, dass der Herr uns von unsern unerkannten Sünden reinigt! Es ist eine herrliche Freude für uns, daran zu denken, dass der Herr unsere Sünden für immer weggenommen hat. Sie kommen nie wieder in das Licht vor Gottes Angesicht. Weil die Schuld weggenommen ist, werden wir leben, denn damit ist ja zugleich die Todesstrafe aufgehoben!

V. 9 „Darum fahren alle unsere Tage dahin durch deinen Zorn.“ Das Gericht Gottes verkürzte die Lebenszeit der aufrührerischen Israeliten. Jeder Halteplatz in der Wüste wurde zu einem Friedhof. Ihr Weg war gekennzeichnet durch die Gräber, die sie hinterließen. „Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz„ (Elberfelder:. . . wie einen Gedanken). Nicht nur ihre Tage, sondern die Jahre flogen vorbei wie ein einziger Gedanke, wie ein kurzes Gespräch. Die Sünde warf ihren Schatten über alles, und das machte das Leben der sterbenden Wanderer so sinnlos und kurz. Doch wir Gläubige heute leben jeden Tag in der Güte des Herrn, wie David es in Psalm 23 sagt: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang.“ Auch ist das Leben eines begnadigten Menschen nicht so inhaltlos wie ein dummes Geschwätz. Der Gläubige lebt in Jesus und hat den Heiligen Geist in seinem Herzen.

V. 10 „Unser Leben währet siebzig Jahre.„ Das war zu der damaligen Zeit die durchschnittliche Lebenserwartung. Mose selbst lebte länger, aber er war eine Ausnahme. Siebzig Jahre sind eine sehr kurze Zeit, wenn man sie mit dem Lebensalter der frühen Menschengeschlechter vergleicht und sie sind gar nichts im Vergleich zur Ewigkeit! Trotzdem ist das Leben lang genug für wahre Frömmigkeit und viel zu lang für Verbrechen und Gotteslästerung. Mose schreibt hier nun so, als wolle er die völlige Bedeutungslosigkeit des menschlichen Lebens hervorheben. Er will wohl sagen: Sind die Tage unserer Jahre überhaupt wert, genannt zu werden? Sie sind so völlig unbedeutend, dass man überhaupt nicht darüber zu berichten braucht! „Und wenns hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ Auch wenn man so alt wird, ist das Leben nur Mühsal und Nichtigkeit. Wie gebrechlich ist das Alter! Es sind die Tage, die dem Menschen nicht gefallen. Und doch könnte man einen Gläubigen um seine letzten Tage eher beneiden als bedauern. Ein gläubiger alter Mensch hat viele heilige Erfahrungen gesammelt und wird getröstet durch die Hoffnung auf das ewige Leben. Die Sonne sinkt, die Hitze des Tages ist vorüber; aber die Ruhe und Kühle des Abends tut wohl, und es kommt keine dunkle und schreckliche Nacht, sondern ein herrlicher, wolkenloser, ewiger Tag. Das Sterbliche macht dem Unsterblichen Platz. Der Greis entschläft, um dort aufzuwachen, wo er für immer leben wird. „Denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon„ (Die englische King James Übers.: Denn es wird bald abgeschnitten, und wir fliegen davon). Das Tau wird durchgehauen, und das Schiff segelt auf das Meer der Ewigkeit. Die Kette bricht, und der Adler schwingt sich hoch über die Wolken hinaus. Mose trauerte um Menschen, als er dies sagte. Seine Weggenossen fielen zu seiner Seite. Für uns Gläubige aber sieht das alles anders aus. Wir kommen in die Heimat zu dem Herrn Jesus Christus, wenn unser Leben abgeschnitten wird!

V. 11 „Wer glaubt aber, dass du so sehr zürnest?“ Mose sah, wie die Menschen um ihn herum starben. Ständig gab es Beerdigungen. Er war erschüttert über die furchtbaren Folgen des göttlichen Zornes. Mose merkte, dass niemand die Macht des göttlichen Zorns ermessen kann. „Und wer fürchtet sich vor solchem deinem Grimm?„ Die Heilige Schrift übertreibt nicht, wenn sie vom Zorn Gottes spricht. Man kann hier nicht übertreiben. Wir können einfach nicht ermessen, wie groß der Zorn Gottes wirklich ist. Es wird viel gelächelt über die schrecklichen Vorstellungen von Gottes Zorn bei Milton, Dante, Bunyan und anderen. Aber die Wahrheit ist, dass tatsächlich keiner von ihnen die furchtbare Wirklichkeit auch nur annähernd darstellt. Die Wirklichkeit lässt alle Vorstellungen weit zurück. Gott ist schrecklich an seiner heiligen Stätte. Man denke an Sodom und Gomorrha (i. Mose 19, 24-25), Korah und seine Rotte (4. Mose 16, 20-35), die vielen Gräber in der Wüste! Man denke vor allem an jenen Ort, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht ausgeht! Wir sollten uns dem ewigen Gott sofort zu Füßen werfen und uns als Sünder bekennen, damit er uns gnädig sei!

2. Gebet (Vers 12-17).

V. 12 „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen“ (Elberfelder: So lehre uns denn zählen unsere Tage). Lehre uns die Zeit richtig zu gebrauchen! Wir weinen über die Vergangenheit, weil wir oft den Willen des Fleisches getan haben; hilf uns, Herr, die Gegenwart als Stunde des Heils und der Rettung zu nutzen; und die Zukunft, die doch so unsicher ist, wollen wir zur treuen Arbeit und zum Gebet verwenden! Zählen lernen die Kinder schon im ersten Schuljahr; aber um ihre Tage richtig zählen zu können, brauchen auch die tüchtigsten Menschen die Hilfe des Herrn! Wir zählen lieber die Sterne als unsre Tage. Dabei ist es viel nützlicher, letzteres zu tun. „Auf dass wir klug werden.„ Wir denken daran, wie kurz unser Leben ist. Deshalb wenden wir unsere Aufmerksamkeit gern den ewigen Dingen zu. Wir werden demütig, wenn wir in das Grab schauen, das so bald unsere Ruhestatt werden soll. Die Leidenschaften kühlen angesichts des drohenden Todes ab. Wir geben uns gern der Weisheit hin, die uns recht führt. Der Herr selbst muss unser Lehrer sein. Ein kurzes Leben will weise verbracht werden. Wir haben nicht so viel Zeit zur Verfügung, dass wir es uns leisten könnten, eine einzige Viertelstunde zu vergeuden. Aber zu einem solchen Leben muss uns der Heilige Geist die Weisheit ins Herz schenken, denn Kopfwissen allein kann das nicht zuwegebringen.

V. 13 „Herr, kehre dich doch wieder zu uns.“ Komm wieder zu uns mit deiner Barmherzigkeit. Lass uns nicht unter-' gehen. Dulde es nicht, dass unser Leben so kurz und bitter ist. Du hast zu uns gesagt: „Kehrt wieder, ihr Menschenkinder I„ Nun wagen wir es, demütig zu bitten: „Kehre dich auch zu uns, du Erhalter der Menschen!“ Nur deine Gegenwart kann uns mit unserem flüchtigen Leben aussöhnen. Wie die Sünde Gott von uns forttreibt, so ruft die Büße zum Herrn, er möge wiederkommen. „Und sei deinen Knechten gnädig!„ Mose erkennt an, dass die Israeliten immer noch Gottes Knechte sind. Sie haben rebelliert, aber sie haben den Herrn noch nicht gänzlich verlassen. Sie sind immer noch zum Gehorsam verpflichtet. Und das nehmen sie nun als Grund dafür, Gott um Erbarmen anzuflehen. Wenn Gott Israel auch geschlagen hat, so bleibt es doch sein Volk. Gott hat sie noch nicht enteignet. Deshalb bitten sie nun, er möge ihnen doch wieder gnädig sein. Wenn sie das verheißene Land auch nicht sehen dürfen, so soll Gott ihnen doch auf dem Wege mit seiner Barmherzigkeit helfen. Dieses Gebet gleicht den anderen, die Mose so kühn vor Gott brachte, wenn er für sein Volk eintrat. Er spricht hier mit dem Herrn, wie ein Mann mit seinem Freunde spricht.

V. 14 „Fülle uns frühe mit deiner Gnade!“ Der Psalmist bittet um rasche Hilfe durch die Gnade für sich und seine Brüder, weil sie so bald sterben müssen. Menschen Gottes wissen, wie sie die dunkelsten Stunden in dringendste Bitten verwandeln können! Wer sich ein Herz fasst, zu Gott zu beten, weiß auch, um was er bitten soll. Die einzig zufriedenstellende Speise für das Volk Gottes ist die Güte Gottes. Mit ihr können wir in unserem kurzen Leben glücklich sein! „So wollen wir rühmen und fröhlich sein unser heben lang„ Wenn uns der Herr mit seiner Liebe erfüllt, wird unser kurzes Leben auf dieser Erde zu einem frohen Fest. Wenn der Herr uns mit seiner Gegenwart erfreut, ist das eine Freude, die uns niemand nehmen kann. Selbst Anzeichen eines baldigen und frühen Todes können diese Freude an der gegenwärtigen Liebe Gottes nicht zerstören. Wenn wir auch wissen, dass die Nacht kommt, so brauchen wir sie doch nicht zu fürchten. Während wir noch leben, wollen wir triumphieren und die Zukunft getrost in Gottes Händen lassen, weil er uns liebt. Die ganze Generation der Israeliten fühlte sich verlassen und niedergeschlagen, weil sie zum Tod in der Wüste verurteilt war. Deshalb erbittet ihr Führer Mose, dass der Herr ihnen seine Gegenwart und Liebe schenken möge, damit ihre Herzen getröstet werden.

V. 15 „Erfreue uns nun wieder, nachdem du uns so lange plagest, nachdem wir so lange Unglück leiden.“ Niemand kann das Herz so besänftigen wie du, Herr. Weil du uns so traurig gemacht hast, mach uns bitte wieder froh. Gib uns ebensoviel Gutes wieder, wie du uns an Leid gegeben hast. Stelle das innere Gleichgewicht wieder her. Gib uns das Lamm, nachdem du uns die bitteren Kräuter gegeben hast. Diese Bitte ist kindlich und voll tiefer Bedeutung. Sie gründet sich auf die Tatsache, dass der Herr das Gute in entsprechendem Maß dem Bösen gegenüberstellt, weil seine Güte das verheißt. Große Leiden machen uns fähig, auch große Freuden zu ertragen. Gott handelt an uns „nach Maß„. Wenn wir schwere Anfechtungen erleiden, dürfen wir nach überfließender Freude Ausschau halten. Wir dürfen kühn im Glauben darum bitten. Gott, der in seiner Gerechtigkeit groß ist, wenn er straft, wird auch nicht kleinlich sein, wenn er in seiner Barmherzigkeit segnet.

V. 16 „Zeige deinen Knechten deine Werke.“ Wieder kommt das Wort „Knechte„ vor. Mose stützt sich darauf! Der Herr Jesus nennt uns heute nicht seine Knechte, sondern seine Freunde. Wir sollten von diesem Vorrecht Gebrauch machen! Mose bittet darum, dass Gott seine Macht offenbart, damit das Volk wieder froh werden kann. In ihren eigenen sündigen Werken konnten sie natürlich keinen Trost finden, aber durch Gottes Werke werden sie bestimmt getröstet! „Und deine Ehre ihren Kindern.“ Ihre Söhne wuchsen auf, und sie wünschten, dass Gott ihnen etwas von seiner versprochenen Herrlichkeit zeigte. Ihre Söhne sollten einst das Land besitzen, das Gott durch den Bund versprochen hatte. Um ihrer Kinder willen suchten die Israeliten nun Anzeichen für das Gute, das noch kommen sollte. Wahrhaft fromme Menschen beten für ihre Kinder! Sie können viel persönliches Leid ertragen, wenn sie nur wissen, dass ihre Kinder die Herrlichkeit Gottes erfahren werden und ihm dienen.

V. 17 „Und der Herr, unser Gott, sei uns freundlich.„ Deine Huld sei über uns, die wir deine Herrlichkeit im Land Kanaan nicht sehen werden. Es soll uns genügen, wenn in unserm Leben die Herrlichkeit Gottes erkennbar wird. Es soll uns genügen, wenn in unserem ganzen Lager Gottes Huld zu spüren ist. „Und fördere das Werk unserer Hände bei uns; ja, das Werk unserer Hände wolle er fördern!“ Menschen Gottes wollen nicht vergeblich arbeiten, und sie wissen, dass sie ohne den Herrn nichts tun können. Deshalb rufen sie Gott um Hilfe an. Gott soll ihre Bemühungen segnen. Die Gemeinde betet darum, dass die Hand des Herrn hilft, ein beständiges und ewiges Werk zu seiner Ehre zu schaffen. Wir selbst kommen und gehen, aber das Werk des Herrn bleibt. Wir sterben ruhig, weil wir wissen, dass Jesus lebt und sein Königreich gebaut wird. Unser Werk liegt sicher in seiner Hand, weil der Herr immer derselbe ist. Und weil es ja viel mehr sein Werk ist als das unsere, wird es ewig bestehen.