„Dass Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen deines heiligen Kindes Jesus.“
Ap. Gesch. 4,30.
Die Feindschaft der Welt wird den Kindern Gottes oft zum großen Segen. Setzt man jener Feindschaft einen heiligen, tapferen Mut entgegen, so führt es unfehlbar zu einem herrlichen Sieg der Knechte Jehovahs. Durch die Heiligung des Geistes Gottes geht Honig von dem Fresser, und uns erwächst daraus ein Sporn zu umso größerem Eifer für den Herrn. Jetzt, wo der Feind zum Angriff entschlossen ist, muss die Gottgemeine sich zur Vertheidigung rüsten. Die Bedrängnis von außen bringt die Glieder der Gemeine einander näher und stärkt die heilige Liebe, und wo Liebe und Eifer beisammen sind, da ist eine solch’ gesegnete Einigkeit im Handeln und eine solche Macht in jedem Thun, dass Großes geschehen muss. Wehe der Welt, wenn sie die Gemeine Gottes verfolgt, denn sie löckt mit nacktem Fuß wider den Stachel; sie weckt ein Heer von Hornissen aus dem Nest auf, ja, sie reizt den Löwen vom Stamm Juda selber, unter seinen Feinden zu würgen.
Unsere Schriftstelle bildet einen Teil eines apostolischen Lobgesanges, in welchem die Errettung des Petrus und Johannes und die Ratlosigkeit der Priester und Schriftgelehrten geschildert wird. (Ap. Gesch. 4,24-30.) Jede Verfolgung gibt dem Volk Gottes Gelegenheit zu Siegespsalmen. O, welch’ eine süße Frucht sprießt doch jedesmal aus der Feindschaft der Welt hervor: die immer innigere Liebe der Jünger zu ihrem Meister! – Und was anders können sie lobpreisen, als die Menschwerdung, den Tod und die Auferstehung Jesu Christi; der Herr ist der Held ihres Lobliedes. Der Name, mit dem sie ihn erheben, „Dein heiliges Kind Jesus“, passt ganz auf die damaligen Verhältnisse. Die Geschichte der Gemeine Gottes auf Erden ist nichts anderes, als eine ausführlichere Beschreibung des Lebens Christi. Unser Herr tritt als ein heiliges Kind ein in diese Welt: wenn die Gemeine der Jünger in die Geschichte eintritt, ist sie auch ein solches heiliges Kind; darum freut sie sich so über alle Maßen der Kindheit ihres gnädigen Herrn. Wie köstlich, dass der Herr Jesus in allen Stücken den Seinen gleich geworden ist, wie entzückt es die Gläubigen, dass die Erlebnisse ihres Heilandes sich abspiegeln in ihrer eigenen Nachfolge. Gar oft wird eine Prüfung eben durch diese höhere Beziehung geheiligt. Die Welt mag die Gläubigen unterdrücken; die Jünger mögen aller anderen Güter beraubt werden; wenn nur der Herr Jesus ihre einzige Burg und Zuflucht ist, so erkennen sie bald Begebenheiten aus dem Leben Christi, welche ihre eigene Geschichte herrlich erläutern, - Ähnlichkeiten, die sie nie entdeckt hätten, wenn sie nicht in den Gluthglanz des Feuerofens wären geworfen worden. In der uns vorgelegten Erzählung sind die Apostel ganz allein auf den Trost angewiesen, welcher sich ihnen in der Person Jesu darbietet, und sie fühlen sich durch den Gedanken erhoben und entzückt, dass Er ein Kind ist; weil sie darin eine Ähnlichkeit mit der neugeborenen Christengemeine sehen, welcher der Feind schon in ihren ersten Tagen nach dem Leben steht, gerade wie einst Herodes dem neugeborenen König der Juden.
Teure Brüder, in allen Trübsalen und Ängsten und Verfolgungen wollen wir uns an Christo halten und aufschauen zu dem Hirten und Hohenpriester unseres Bekenntnisses; denn wahrlich die dunkle Hand unserer Trübsal entschleiert uns meist Schönheiten an unserem Immanuel, die wir vorher gar nicht ahnten. Mancher herrliche Zug in dem Wesen unsers Heilandes kann nur von einem einzigen Punkt aus wahrgenommen werden und gerade die traurigsten Erfahrungen sind uns eben deshalb zugedacht, damit wir in der günstigsten Lage sind, das Lamm Gottes in seiner Herrlichkeit zu schauen.
Möchte doch unsere heutige Betrachtung Vielen zum Segen dienen; der Herr gebe: Allen. Das uns vorgelegte Schriftwort gibt uns zuerst zu bedenken: das darin niedergelegte Zeugnis von der Menschheit Christi; dann haben wir zu beachten, wie dieselbe hier beschrieben ist: ein „heiliges Kind“; und drittens wollen wir die Herrlichkeit betrachten, in welcher sie gekleidet ist: „dass Zeichen und Wunder geschehen durch den Namen des heiligen Kindes Jesus.“
Teure Freunde, möchten unsere Seelen so erleuchtet werden, dass wir mit den Aposteln die Schönheit und Unvergleichlichkeit der wahren Menschheit unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi erkennen.
Wenn wir hauptsächlich die Wahrheit fest halten, dass Christus Gott ist, wahrer Gott aus wahrem Gott, so wollen wir doch nie aus den Augen lassen, dass er gewiss und wahrhaftig auch wahrer Mensch ist. Er ist nicht ein vermenschlichter Gott, noch auch ein vergöttlichter Mensch; sondern vielmehr, insofern er Gott ist, ist er ganz und wahrhaftig Gott, gleichen Wesens und gleich ewig wie der Vater; soweit er Mensch ist, ist er auch vollkommen Mensch, obgleich ein vollkommener Mensch, in allen Dingen den übrigen Menschen gleich, ausgenommen die Sünde. Er war wesentlich und wahrhaftig ein Mensch, denn er ward geboren. Er ward empfangen von Maria der Jungfrau, und als die Zeit erfüllet war, ward er geboren in diese Welt des Leidens und der Schmerzen. Auch er musste durch dieselbe Pforte in dies Leben eingehen, wie wir Alle; er wurde weder erschaffen noch verwandelt, sondern er wurde empfangen und geboren. Und wie seine Geburt, so war auch sein Lebensanfang, ganz und gar menschlich; er ist eben so schwach und hilflos wie jedes andere neugeborene Kind. Es ist nicht einmal etwas Königliches an ihm, sondern nur eben Menschliches. Die vor Zeiten in Marmorpalästen geboren wurden, hüllte man in köstlichen Purpur, und das Volk hielt sie für erhabenere Wesen; aber dies Kidnlein ist in Windeln gewickelt und ruht in einer Krippe, damit die wahrhaftige Menschheit seines Wesens recht klar am Tage sei.
Zwar ein Fürst aus dem Hause Davids, erfährt er doch vor Allem als bloßer Mensch alle Beschwerden eines armen Kindes. Und wenn er größer wird, so zeigt sich’s in seinem Wachstum wieder, wie ganz und gar er Mensch ist. Er gelangt nicht alsobald und plötzlich zur Mannesreife, sondern er nimmt zu an Alte, und an Gnade bei Gott und den Menschen. Und wenn er herangewachsen ist zur vollen Manneskraft, prägt sich auf seinem Antlitz wieder die Menschennatur vollständig aus. „Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen,“ ist unser Aller Erbteil, und ihm ist kein besseres Los beschieden. Eine Zimmermannswerkstätte musste von der leiblichen Anstrengung und Arbeit eines Erlösers Zeuge sein, und wo er schon als Lehrer und Prophet auftritt, lesen wir die folgenden tief bedeutungsvollen Worte von ihm: „Da nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich an den Brunnen“ (Joh. 4,6). Wir finden, wie er zur Erholung und zur Ruhe des Schlafes bedarf; er schlummert im Hinterteil des Schiffes, während es mitten im Sturm von den Wogen bedeckt ward (Mark. 4,38). Teure Brüder, wenn Trübsal das Kennzeichen wahrer Menschennatur ist, sintemal „der Mensch wird zu Unglück geboren, gleichwie die jungen Raubvögel schweben empor zu fliegen“ (Hiob 5,7), so zeigt sich wahrlich bei Jesu am allerunwidersprechlichsten, dass er ein Mensch war. Wenn sein Hunger und Durst Beweise sind, dass er kein Schatten war, seine Menschennatur keine Täuschung, so haben wir diese Beweise. Wenn sein Umgang mit seinen Nebenmenschen, wenn sein Essen und Trinken wie andere Leute uns überzeugen können, dass er in leiblicher Hinsicht nichts anderes war als ein Mensch, so seht nur zu: das eine Mal ist er eingeladen zu einem Gastmahl, ein ander Mal nimmt er freundlich Teil an einer Hochzeit, oder es hungert ihn auch wohl und „hat nicht, da er sein Haupt hinlege“ (Luk. 9,58). Von der Stunde an, da der „Fürst, der in der Luft herrscht“ (Ephes. 2,2), die Herrschaft über diese Welt erlangt hat, sind die Menschen der Versuchung unterworfen, und Er, der rein und heilig geboren ist, ward der Versuchung nicht überhoben.
“Versuchung folgt Ihm in die Wüste,
Doch Er ging durch den Kampf zum Sieg.“
Der Garten Gethsemane ward besprengt mit den Tropfen seines blutigen Schweißes, der aus jeder Pore gewaltsam hervordrang, als er im furchtbaren Kampf rang mit dem Fürsten der Finsternis. Wenn wir seit unserem Sündenfall, der Versuchungen und Anfechtungen aller Art über uns brachte, nötig haben zu beten, so hat er
“Die öde kalte Mitternacht
In brünstigem Gebet verbracht.“
„Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Tränen“ (Hebr. 5,7) hat er hinaufgeschickt zu seinem Gott, und welchen deutlicheren Beweis gäbe es dafür, dass er ein Mensch war von dem Fleisch und Bein seiner Mutter, gleich wie wir, als den, dass „er erhört ist, darum, dass er Gott in Ehren hatte“ (Hebr. 5,7). Es erschien ihm ein Engel und stärkte ihn; wozu sind denn die Engel gesandt, als allein zum Dienst der Menschen? Teure Brüder, nie empfinden wir die Schwachheit unserer Menschennatur empfindlicher, als wenn wir uns von Gott verlassen fühlen. Wenn der geistliche Trost, der uns aufrichtet, uns entschwunden ist, wenn das Gnadenantlitz unsers Gottes sich vor uns verbirgt, dann müssen wir ausrufen: „Ich bin ein Wurm und kein Mensch“ (Ps. 22,7), und aus dem Staub und der Asche der menschlichen Schwachheit schreiet unsere Seele zu Gott, dem lebendigen Gott. O, muss nicht das „Eli, Eli, Lama, Asabtani“ euch kräftig bezeugen, dass der Herr Jesus ganz dieselbe Sehnsucht nach dem Allerhöchsten empfand? Folge der Menschheit überall hin nach, und überall triffst du die Fußstapfen des Mariensohnes. Begleite den Menschen überall hin, in’s Elend und in Dunkelheiten aller Art, und du begegnest immer wieder den Spuren der Pilgerschaft Jesu auf Erden. In jeder Versuchung und in jedem Kampf, die Menschen bedrohen können, ist der Herzog der Seligkeit unser Vorkämpfer gewesen. Die Sünde ausgenommen, ist Christus das vollkommene Bild der Menschheit. So einfach auch diese Wahrheit ist, und so unbedeutend sie uns für das Wesentliche unseres biblischen Christentums zu sein scheint, so dürfen wir sie deshalb doch nicht gering achten, sondern es ist heilsam, wenn wir sie uns so viel als möglich zu eigen machen. Jesus, mein Mittler, ist ein Mensch, „Immanuel, Gott mit uns.“ (Matth. 1,23). Er ist „ein Kind geboren“; nein, mehr als das, denn „uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben“ (Jes. 9,6). Er ist unser Bruder; er ist Bein von unserem Bein. Gleichwie ein Mann verlässt Vater und Mutter und hängt seinem Weibe an, und werden die zwei Ein Fleisch, so hat Er die Herrlichkeit seines Vaterhauses verlassen und ist Ein Fleisch mit seinem Volk geworden: Fleisch und Bein und Blut, und ein Herz, das seufzt und fleht, das duldet und zerschlagen wird, ja das selbst im Tode bricht, - siehe, das ist Jesus; siehe, das ist sein vollendetes Bild. Gleichwie das ganze Menschengeschlecht den Nacken beugen muss vor dem großen eisengekrönten König der Schrecken, so muss auch Christus selber flehen: „Vater, in Deine Hände befehle ich meinen Geist“ (Luk. 23,46), und auch er muss den Geist aufgeben. O Christ, schaue doch an, wie du ihm so nahe stehst und freue dich heute! Sünder, siehe, wie er dir so nahe ist! Komm vertrauensvoll zu ihm, denn nach Leib und Seele ist er ein ganzer Mensch.
Haben wir nun die Menschennatur Christi recht überzeugend erkannt, so wollen wir jetzt noch weiter ein wenig darüber nachdenken. Freilich ist der Stoff unerschöpflich; aber gleichwie ein Garten der Blumen zu viel hat, als dass wir sie alle pflücken könnten, so wollen wir jetzt nur einige zu einem Strauß zusammenbinden.
Vor allem müssen wir Seine Herablassung bewundern. Das ist das unerhörteste aller Wunder, das Wunder über alle Wunder, dass: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Joh. 1,14). Cyprian sagt ganz recht: „Ich wundre mich über kein Wunder; über dieses aber wundere ich mich, denn es ist das Wunder aller Wunder, dass Gott Mensch werden konnte.“ Dass Gott aus Nichts eine Creatur hervorrief, ist gewiss ein wunderbares Zeugnis seiner Allmacht, aber dass Gott Wohnung nehmen konnte in einer solchen Creatur, dass er konnte in die innigste Vereinigung mit seinem eigenen Geschöpf eingehen – das ist die erstaunlichste Tat der herablassenden Liebe. Fürwahr, das ist so über alles menschliche Denken wunderbar, dass wir nirgend in allen heidnischen Götterlehren – wo doch die ungezügeltste Phantasie den sonderbarsten Einfällen Raum gibt und häufig Götter in Menschengestalt erscheinen, - etwas Ähnliches finden; etwas, was sich nur entfernt mit der wesentlichen Vereinigung der zwei Naturen in der einen Person Jesu Christi vergleichen ließe. Das menschliche Denken ist in seinen höchsten und kühnsten Leistungen nie auf einer solchen Höhe der Weisheit angelangt, dass es die Vorstellung erfasst hätte von einem als Gott aus Gott geborenen wahren Menschen, durch den die Menschen sollten erlös’t werden. Für dich und für mich liegt das Wunder in dem Beweggrund, der die Menschwerdung veranlasste. Was konnte unseren Immanuel zu einer solchen Herablassung bewegen? Welch eine unvergleichliche, unbeschreibliche, unaussprechliche Liebe war’s, die ihn trieb, seines Vaters Herrlichkeit, die Anbetung der Heiligen und alle heiligen Freuden des Himmels zu verlassen, damit er ein Mensch würde wir wir alle und litte, blutete und stürbe? „Er ist erschienen den Engeln“ (1. Tim. 3,16), spricht der Apostel; und das war ein großes Wunder, denn die Engel, die vor seinem Throne anbeteten, konnten mit ihren erschaffenen Augen den Glanz Seiner Herrlichkeit im Himmel nicht ertragen. Sie verhüllten ihr Antlitz mit ihren Flügeln, wenn sie riefen: „Heilig! Heilig! Heilig!“ Aber Engel sahen den Sohn Gottes in der Krippe liegen! Sie sahen den Herrn über Alles ringen im Kampf mit einem gefallenen Fürsten der Finsternis! Sie sahen den Friedefürsten hängen am Fluchholz auf Golgatha! „Erschienen den Engeln“ war eines jener Wunder, welche durch die Menschwerdung Christi bedingt waren; - aber dass er sollte von Menschen gesehen werden – ja, dass er sollte der Genosse der elendesten aller Menschen werden, dass er sollte der Zöllner und Sünder Freund heißen und als ein Mensch im vollsten Sinne des Worts sich zur tiefsten Stufe der Menschennatur hinabneigen – das Alles, teuerste Brüder, ist eine Herablassung, die ich mit Worten nicht zu schildern vermag. Ein Fürst, der seine Krone niederlegt und sich in Bettlerslumpfen hüllt, um dem Elend in seinem Lande in eigener Person nachzugehen, ist nur ein Wurm, der sich herablässt zu seines Gleichen. Wenn ein Engel seine Schönheit hingäbe und würde gebrechlich und elend, und wandelte in Schmerzen und Armut umher, um dem menschlichen Geschlecht wohlzutun, das wäre nichtss; denn er wäre doch nur ein Geschöpf, das sich zu etwas tiefer stehenden Mitgeschöpfen herabließe. Hier aber ist der Schöpfer selbst, der sich auf’s innigste mit seinem Geschöpf vereinigt, der Unsterbliche, der sterblich wird, der Unendliche, der ein Kindlein wird, der Allmächtige, der die Schwachheit annimmt, ja der die menschliche Schwachheit mit Seinem Wesen vermählt. Wahrlich, wir können von dem Herrn Jesus sagen: Er war elend im Staube, und dennoch mächtig wie der ewige Gott; er war dem Leiden ausgesetzt und dennoch Gott über Alles, hochgelobt in Ewigkeit. O, welch eine Tiefe der Liebe!
Richten wir unseren Blick auf einen anderen Punkt und schauen wir an, wie der Herr Jesus so ganz für sein Werk geeignet ist! Er ist ein vollkommen wahrer Mensch – wäre er das nicht, so könnte er nicht Priester sein. Nun aber „kann er Mitleiden haben mit unserer Schwachheit, als der versucht ist allenthalben gleichwie wir“ (Hebr. 4,15). Er schämt sich nicht, uns Brüder zu heißen, sondern kann mitfühlen mit denen, so unwissend sind und irren (Hebr. 5,2). O teure Brüder, wenn er nicht Mensch geworden wäre, so hätte er uns nicht vertreten können; der Mensch hat gesündigt, also muss auch der Mensch die Strafe erleiden: wahrer Mensch muss er sein, damit er sühnen kann. Wäre Er nicht Mensch gewesen, so hätte seine Gerechtigkeit uns nicht geholfen; denn wie wir göttlicher Gerechtigkeit benötigt sind, um der Unermesslichkeit der göttlichen Forderungen zu genügen, so brauchen wir eine menschliche Gerechtigkeit, weil das Gesetz für die Menschen gegeben ist. O, liebe Seele, wenn du jetzt gedrückt und betrübt bist, so umfange mit deinen Armen den Menschen Jesus Christus. Merke doch daran, dass er dein Bruder ist, merke, welches Heil von einem solchen Heiland dir in deiner Armut, deiner Schwachheit und deiner Sünde zufließt.
Geben wir noch einem anderen Gedanken Raum. Fasse zu Herzen, wie Christus durch seine Menschwerdung in so nahe Verwandtschaft und Verbindung mit den Seinen tritt. Er ist uns nicht unbekannt, er, von dem wir reden; er ist unser Bruder. Ja, noch mehr, er ist unser Haupt geworden. Kein goldenes Haupt mit Füßen von Thon, oder Lenden von Erz; sondern was wir sind, ist auch Er gewesen, auf dass auch wir ihm gleich werden möchten. Es ist ein Mensch, der das Haupt seiner Gemeine ist, wie auch Menschen ihre Glieder sind. Vereinigung mit Jesu ist nach meinem Sinn die köstlichste Lehre der Offenbarung. Es gibt andere Lehren, welche vielleicht großartiger und gewaltiger sind; aber die Lehre von dieser innigen Vereinigung ist der Inbegriff der höchsten Seligkeit. Was anders ist der Himmel als die Verwirklichung der Vereinigung mit Christo; und was ist der Vorschmack des Himmels, wenn nicht der Glaube an diese Vereinigung? Gleichwie du ihn einst schauen wirst, mit deinen Augen (Hiob 19,27), o, so erkenne doch schon jetzt, lieber Christ, wie nahe, wie teuer, wie innig verbunden er dir ist, - und freue dich von nun an!
Ich möchte dir noch eine neue Blume anbieten zu unserem herrlichen Gedankenstrauß. Schau und siehe, wie die Herrlichkeit der Menschennatur nun erneuert ist! Der Mensch nahm die nächste Stufe nach den Engeln ein und hatte die Herrschaft über die Vögel in der Luft und über die Fische im Meer. Dieses Königreich hat er verloren; die Krone ward ihm durch die Hand der Sünde vom Haupt gerissen, und die Schönheit des göttlichen Ebenbildes ward durch seine Empörung ausgelöscht. Aber das Alles ist uns wieder geschenkt. Wir sehen Jesum, „der eine kleine Zeit unter die Engel erniedriget worden“ (Hebr. 2,9) durch das Leiden des Todes gekrönt mit Preis und Ehre; und auf diesen Tag ist ihm Alles untergetan unter seine Füße, und er wartet hinfort, bis dass seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt wreden (Hebr. 10,18), und bis der letzte Feind, der tod, vom Menschen wird besiegt sein – ja von demselben Menschen, den er besiegt zu haben sich vermessen brüstete. Teure Brüder, unsere Menschennatur ist’s, welche die erhabenen Schlüssel des Himmels, der Erde und der Hölle an ihrem Gürtel trägt; unsere Menschennatur ist’s, welche jetzt auf dem Throne des Allerhöchsten sitzt. Nie je saß ein Engel auf Gottes Thron, wohl aber ein Mensch, und der sitzt noch darauf. Zu welchem Engel ward je gesagt: „Du bist ein Herr aller Herren und ein König aller Könige; vor dir sollen sich neigen die in der Wüste, und deine Feinde werden Staub lecken“ (Ps. 72,9); solches aber ward gesagt von einem Menschen. Ein Mensch wird den Erdboden richten mit Gerechtigkeit (Ps. 96,18); ein Mensch wird Kronen der Vergeltung austeilen; ein Mensch wird das Urteil sprechen: „Geht hin, ihr Verfluchten;“ ein Mensch wird mit dem Donner seiner Stimme die Hölle mit Entsetzen erfüllen. Ach, wie herrlichst ist doch die erneuerte Menschennatur! Was ist’s doch für eine Ehre, teure Brüder, ein Mensch zu sein, nicht aus dem ersten Adam, sondern ein Mensch, geschaffen nach dem Ebenbilde des zweiten Adam? Lasst uns bei all’ unserer Schwachheit, und Untüchtigkeit und Unvollkommenheit Gott loben und preisen, der uns aus Gnaden zu dem gemacht hat, was wir sind; denn nun ist der Mensch in der Person Jesu Christi nur unter Gott allein erniedrigt – ja er ist so nahe mit Gott vereinigt, dass er ihm gar nicht näher stehen könnte.
Wenn wir über die wahrhafte und reine Menschennatur Christi tiefer nachdenken, so müssen wir uns vor Allem auch freuen, dass uns ein Segensborgn aufgetan ist, durch welchen Gottes Gnade uns zuströmt. „Wir kann Gott zu den Menschen gelangen?“ Das war einst die Frage; jetzt aber, teure Brüder, lautet’s anders. „Wie könnte Gott sich weigern, die Menschen, die in Christo sind, zu segnen?“ Der ewige Vater musste seinen eingeborenen Sohn segnen; in ihm aber hat er einen Menschen gesegnet, und dieweil alle Auserwählten ihr Leben aus diesem Menschen haben, so sind sie notwendig auch durch ihn und in ihm gesegnet. Seht zu, der Herr Jesus Christus ist unser persönlicher Stellvertreter. Was Christus ist, das sind auch alle seine Auserwählten, gleich wie alle Menschen durch ihren Vater Adam geworden sind, was Adam war. In Adam fiel die ganze Menschheit; in Christo, dem Gerechten, werden Alle, die in Christo sind, d.h., die heilige Gemeine seiner Auserwählten, gesegnet und herrlich gehalten. Nun ist es aber gar nicht anders möglich, als dass Gott Jesum Christum mit Segen krönen muss; denn Jesus Christus ist in Ewigkeit eins mit Gott, also ist auch seine Menschennatur aufgenommen und eingepflanzt in Gott. Wie ein alter Schriftsteller bemerkt: „Die innigste Verbindung, die uns kund ist, besteht in der Vereinigung der Menschheit mit der Gottheit in der Person Jesu Christi. Die Vereinigung der drei Personen der göttlichen Dreieinigkeit sollte eher eine einheit als eine Einigkeit genannt werden, aber dennoch ist die innigste Verbindung, die wir kennen, die Verschmelzung der Menschennatur und der Gottesnatur in Christo.“ Sie ist so vollkommen, dass man sich Christum gar nicht denken kann als Mensch von Gott abgelös’t, noch als Gott vom Menschen abgelös’t. Sogar der bloße Begriff von Christo schließt die Vorstellung der beiden Naturen in sich, und es ist eine baare Unmöglichkeit, dass die Gottnatur nicht auch sollte die Menschennatur Teil nehmen lassen an ihren Segnungen, und dass nicht die so gesegnete Menschennatur auch jede auserwählte Seele notwendig zum Miterben solchen Segens habe. O seht, welch’ ein Born ist uns aufgetan! ein Born, der gar nicht anders kann, als er muss überfließen; ein goldener Zweig, der unaufhörlich muss von Gnade triefen. Die Gesetze der irdischen Natur können durch ein göttliches Machtwort aufgehoben werden, nicht aber die Gesetze der göttlichen Natur; und es ist ein Gesetz der göttlichen Natur, dass in der Person Christi die Gottesnatur muss die Menschennatur segnen, und ein anderes Gesetz ist’s, dass wenn so die Menschennatur gesegnet ist, auch die auserwählte Menschheit dessen teilhaftig wird, dieweil diese auserwählte Menschheit ewig und unauflöslich mit der Person des Herrn Jesu Christi verknüpft ist. Seht, welch ein tiefer und breiter Strom ist uns geöffnet, und welch eine Fülle des Segens fließt in diesem Strom, denn alle Fülle der Gottheit wohnt in Christo, und also strömt die Fülle der Gottheit den Menschen zu.
Teure Geliebte, seht ferner, welch ein freier Zugang geöffnet ist zwischen uns und Gott! Ich bin ein Mensch; Christus ist ein Mensch. Ich komme zu dem Menschen Jesus Christus – nein, ich habe das nicht einmal nötig, denn ich bin in dem Menschen Christus. Wenn ich glaube, so bin ich ein Glied an ihm. Wohlan denn, wenn ich ein Glied am Haupt Christus bin, und wenn Gott Eins ist mit ihm, so bin ich wahrlich Gott recht nahe. Darum stehe ich Gott so nahe und habe einen solchen ungehinderten Zugang zu Gott, dass ich bei all meinen Bitten und Wünschen weder darf hinauf steigen zum Himmel, noch hinab in die Tiefen, um meine Bitte zu erlangen, denn Gottes Ohr merket auf mein Seufzen, dieweil er mir in Christo so nahe ist; und meine Seele, die in Christo ist, ruht nahe, ja wahrlich nahe am Herzen Gottes. Der Leib Christi ist der Vorhang, welcher vor der Majestät Gottes aufgehängt ist; dieser Vorhang ist zerrissen, und ein Jeder, der in lebendigem Glauben durch den zerrissenen Leib des Menschen Christus eingeht, steht unmittelbar in der Gnadengegenwart Gottes. Solch eine Gemeinschaft, solch ein heiliger Umgang, solch ein Segensverkehr zwischen dem Menschenkind und Gott hätte auf keine andere Weise je können zu Stande gebracht werden. Die Himmelsleiter, die dem Erzvater Jakob erschien, war nur ein schwaches, traumhaftes Bild davon. Hier ist keine Leiter, sondern der Zugang ist so leicht, als ob gott, der oben über der Himmelsleiter stand, zu dem schlafenden Jakob hierniedergestiegen wäre. Jetzt braucht’s keine Leiter mehr; die Person Christi bringt Gott mit den Menschen, und die Menschen mit Gott in eine weit innigere Verbindung, als je durch die Leiter kann versinnlicht werden. Teure Brüder, wir wollen voll Zuversicht hinzunahen zum himmlischen Gnadenthron und uns aus Gnaden helfen lassen in jeder Noth.
Noch etwas Anderes darf nicht unerwähnt bleiben, und das ist – o fasst es doch, Theuergeliebte, fasst es, unsere unantastbare Sicherheit! Unser geistlicher Zustand war einst den Händen Adams anvertraut; er war ein fehlbarer Mensch; o, wie zweifelhaft war da unsere Seligkeit! Die Seligkeit eines jeden Gläubigen steht auch jetzt wieder in der Hand eines Menschen, in der des Menschen Jesus Christus! Aber welch ein Mensch! Kann er fehlen? Kann er sündigen? Kann er fallen? O, nein, Geliebte, denn die Gottheit ist auf’s innigste mit der Menschennatur verbunden, und weil der Mensch Jesus Christus nimmermehr sündigen kann, so kann er auch nimmermehr fallen und ist darum ein unerschütterlichen Grund- und Eckstein für die ewige Erlösung aller Auserwählten. Da die Engel noch alle im Himmel thronten, vor dem Fall des Fürsten der Finsternis, so konnten sie, wie mir däucht, nie vollkommen glücklich sein, weil sie wussten, sobald sie sündigen, mussten sie unwiederbringlich verloren gehen; und dieser Gedanke musste ihre Wonne trüben, weil hierin die Möglichkeit des völligen Verlustes ihrer Herrlichkeit lag. Aber, Geliebte, unsere Seligkeit hängt nicht von uns selber ab; wir dürfen uns der gewissen Freude einer vollkommenen Sicherheit getrost überlassen, weil dieselbe in der Hand eines Solchen ruht, der unmöglich sündigen, noch irren, noch fehlen kann, der aber allezeit feststeht, von Ewigkeit zu Ewigkeit: Gott. Darum, so schauet an den Trost und die Sicherheit des Volkes Gottes – aber wahrlich, es stehen so viele Garben auf diesem Felde der Menschwerdung, dass ich sie euch unmöglich alle auflösen kann. Kommet her, und pflücket euch selber eine oder zwei Ähren, und zerreibt sie heute in euren Händen und stillet euren Hunger.
Geliebte, erkennet ihr nicht, dass hierin eure Gotteskindschaft steht? Ihr werdet Söhne Gottes, weil Christus ein Menschensohn wird. Verstehet ihr nicht, dass ihr hierin angenehm gemacht seid? Der Mensch Jesus Christus ist Gott angenehm, un weil er euch vertritt, so seid ihr angenehm gemacht in dem Geliebten (Ephes. 1,6). Ja, es gibt keine Gnade im Reiche Gottes, kein Segensstrom fließt dem Glaubenden zu, die nicht daraus entspringen, dass Christus „das heilige Kind Jesus“ heißt, dieweil er wirklich und wahrhaftig ein Mensch ist. So viel über die erste Frage.
Fassen wir nun die Menschheit Christi in’s Auge, wie sie in unserem Schriftwort geschildert ist. Dies Wort lehrt uns: ein heiliges Kind.
Die Menschheit Christi war eine vollkommen heilige. Diese Lehre ist auch wohl gründlich verkündigt worden, und dennoch dürfen wir uns immer wieder darüber verwundern, das Jesus allezeit und allerdinge heilig war. Er ist empfangen von einem Weibe, und dennoch hängt an seiner Geburt keinerlei Sünde. „Das Heilige, das von dir geboren wird, wird Gottes Sohn genannt werden (Luk. 1,35). Er wird unter sündigen Menschen erzogen. Es konnte nicht anders sein, denn auf Erden gab es keinen Einzigen, den man hätte gut heißen können (Matth. 19,17) – sie sind allesammt untüchtig geworden, und dennoch ist kein Flecken oder Runzel der sünde an ihm, obgleich er unter Sündern gewohnt hat. Er geht in die Welt, und wie ein Arzt mit den Kranken verkehren muss, so trifft man ihn in der Gesellschaft der Allerverworfensten. Die Ehebrecherin darf mit ihm reden, und vom Zöllner wendet er sich nicht ab, und dennoch hat er von diesen Allen keinen nachteiligen Einfluss erfahren. Er ist versucht und es wird allgemein zugegeben, dass ein Mensch kaum versucht werden kann, selbst wenn er die Versuchung überwindet, ohne dass seine Unschuld irgend wie Schaden leidet. Aber der Fürst dieser Welt kam und hatte kein Teil an Christo; seine feurigen Pfeile stürmten wirkungslos auf Christum ein, als fielen sie in’s Wasser, und wurden allzumal ausgelöscht. Satan war wie einer, der auf’s Meer schlägt, er vermochte keine Spur zu hinterlassen an der vollkommenen Heiligkeit Christi. Die Aufsichnahme der Sünde hätte am allerehesten unseren Herrn und Heiland zum Sünder machen können; aber vergessen wir nie, dass, obgleich ihn Jehova für uns zur Sünde gemacht hat, er dennoch nie von einer Sünde wusste. Christus trug die Sünden der Welt, und dennoch ward keine Sünde an ihm erfunden; die Sünde der Welt ward ihm solchergestalt auferlegt, dass sie auf keinerlei Weise und in keinerlei Art ihm den Anspruch auf vollkommene Heiligkeit entziehen konnte. Ich erinnere mich, Betrachtungen über das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt, gelesen zu haben, welche den betrübendsten Eindruck machen, weil darin Stellen vorkommen, die behaupten, Christus sei in Gottes Augen der größte aller Sünder gewesen, die je gelebt hätten, denn er habe die Stelle von Millionen von Sündern eingenommen. Nun ist freilich wahr, dass Jesus der Sünder Stellvertreter war; aber nie war er darum je der Sünder, noch konnte er im Geringsten als unheilig angesehen werden. Vollkommen, rein, unbefleckt stand der große Erlöser da, und selbst mitten im Kampfesleiden, da alle Mächte der Hölle gegen ihn losgelassen waren und Gott selbst sich ihm entzogen hatte, hat diese Gottentziehung, die unsere Herzen nur verhärtet hätte, Sein Herz nicht verhärtet. Wenn Gott uns seine Gnade entzieht, so ist’s aus mit unseren Tugenden; Er aber hatte einen Born der Tugend in ihm selber, und seine Reinheit dauerte auch dann noch fort, als Gott sich ihm entzogen hatte. Vom ersten Augenblick seines Menschenlebens an bis auf den Tag, da er in das neue gehauene Grab gelegt ward, ist er „heilig“.
Das andere Wort nimmt unsere größte Aufmerksamkeit in Anspruch. Warum wird Jesus ein „heiliges Kind“ genannt? Wir begreifen, warum er ein Kind genannt wird, so lange er ein Kind war; warum aber heißt er jetzt ein „heiliges Kind“, wo er aufgefahren ist gen Himmel? Darum, teure Freunde, weil das Wesen Christi mit dem Namen eines Kindes richtiger bezeichnet ist, als mit dem eines Mannes. Wenn ihr euch ein vollkommen heiliges Kind denken könnt, so habt ihr die richtige Vorstellung von Christo. Es liegt in dem Begriff der Kindesnatur, heiliger Kindesnatur, etwas, was wir in dem einer heiligen Mannesnatur nicht zu finden vermögen. In der Kindesnatur wohnt die Einfalt, die kein Gebot der Klugheit kennt. Der Mann hat nicht das Herz auf der Zunge wie das Kind; wir haben die Zutraulichkeit unserer Jugend verloren und nehmen uns vor Anderen in Acht. Wir sind durch traurige Erfahrungen dazu gedrängt worden, Jedem zu misstrauen, und wenn wir unter unsere Mitmenschen gehen, so verschließen wir unser Herz gar oft mit sieben Riegeln, denn ein rechter Hausvater darf sein Haus nicht offen lassen, wenn die Diebe in der Nähe sind. Wir handeln eben so wohl nach dem Worte: Seid klug wie die Schlangen, wie nach dem anderen: Und ohen Falsch wie die Tauben.
Aber ein Kind ist durchaus arglos; es schüttet sein kleines Herz aus; es ist weder vorsichtig noch zurückhaltend; es kennt keine berechnende Klugheit, und weiß nicht mit reiflich erworgenen Worten eines Staatsmannes Verhandlungen zu führen; das Spinngewebe täuschender Vorspiegelungen ist ihm unbekannt; es ist offen, klar und wird von Jedermann ungehindert durchschaut. Gerade so war der Herr Jesus. Nicht töricht, denn es ist ein unendlicher Unterschied zwischen Einfalt und Torheit. Er war nie unbesonnen; wer ihn dafür hielt und ihn zu überlisten meinte, entdeckte bald, dass dies Kind ein weises Kind war. Und dennoch ist er stets ein Kind – er öffnet sein Herz überall. Er isst und trinkt wie andere Menschen. Man hat ihn einen Säufer gescholten; hörte er deshalb aus Klugheitsrücksichten auf, wie andere Menschen zu essen und zu trinken? O nein! Er ist ein ganzes Kind. In Allem, was er tut, liegt eine ungekünstelte Einfalt. Du durchblickst ihn und kannst dich auf ihn verlassen, weil sein ganzes Wesen durch und durch Vertrauen einflößt; er weiß wohl, was in dem Menschen ist, dennoch benimmt er sich nicht misstrauisch gegen die Menschen, sondern stets in edler Einfalt.
Bei einem Kinde suchen wir vor allem Demut- Es gibt eine Demut im Umgang. Dort ist ein kleines Kind, es ist eine Königstochter, und hier ist ein anderes kleines Kind, ein Zigeunerkind. Lasst sie in einem Zimmer beisammen und seht zu, ob sie nicht bald mit einander spielen. Königin und Zigeunerweib hätten sich so weit als möglich von einander gesetzt. O nein! Die gesellen sich nie und nimmer zusammen! Rangunterschied und all dergleichen beobachten sie auf’s strengste und bleiben darum einander fern; aber die beiden Kinder gehen mit einander auf den Vorplatz und wenn da zufällig ein Häuflein Sand ist oder ein paar zerbrochene Töpfe, so findet das Königskind bald ebnesoviel Freude daran wie das Bettelkind. Das ist Demut der Gesinnung. So ist Christus gesinnt; er ist der König aller Könige und der Fürst vom Hause Davids, dennoch ist er stets um die Armen und Elenden und er hat eine herzliche Teilnahme für sie als ob er ihresgleichen wäre. Nie seht ihr Kinder hinsitzen und darüber brüten, wie sie Kronen gewinnen wollen oder wie sie angesehen und beliebt werden können. O nein! Sie trachten nur, wie sie ihres Vaters Willen erfüllen möchten und sein Lächeln ist ihr höchster Lohn. Gerade so ist Jesus. Wie war doch das so kindlich, dass er floh und sich verbarg, als man ihn zum Könige machen wollte, und welche Kindlichkeit zeigt er, da er auf einem Esel, auf einem Füllen der lastbaren Eselin durch die Straßen von Jerusalem reitet, und die Eselin bei sich haben muss, damit die beiden guten Tiere sich nicht vermissen. Er ist ebenso auchder Freund der stummen Geschöpfe, wie der Menschen Freund; so sinnig und gütig, so voller Einfalt und Demut in Allem, was er tut!
Wir denken uns ein heiliges Kind in allen Dingen gehorsam. Wir brauchen nur zu ihm zu sagen: „Tue das“ so geschieht’s; da ist gar keine Frage. War es bei Jesus nicht auch so sein Leben lang? „Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen des, der mich gesandt hat“ (Joh. 4,34). „Wisset ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vater ist“ (Luk. 2,49).
Und so erwarten wir auch von heiligen Kindern, dass sie zur Vergebung geneigt sind. Wir wissen ja Alle, wie auch den Kleinen manchmal das Blut in’s Gesicht steigt und der Unmut sie übernimmt; aber der Groll ist schnell überall vorbei, und sie schlingen einander die Ärmchen um den Nacken und vergessen mit ein paar zärtlichen Küssen alles Vorgefallene. Seht, dieser Zug des kindlichen Gemüts macht sich bei Jesu im vollsten und reinsten Maße geltend. Eins seiner letzten Worte ist: „Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Luk. 23,34). O! heiliges Kind! Du rufst kein Feuer vom Himmel herab, wie Johannes; von Deinen Lippen kommt kein Wort der Klage gegen Sünder. „So verdamme ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht wieder“ (Joh. 8,11), sprach er zu dem Weib, das im Ehebruch ergriffen war. Er ist durch und durch Kind. Die Heilige Schrift nennt ihn den Schönsten unter den Menschenkindern (Psalm 45,3) wie sollten wir ihn nicht dürfen den schönsten Kind-Menschen heißen? Er war als Mann noch Kind. Er hatte nichts Kindisches abzulegen in dem Sinn, wie der Apostel davon spricht (1. Kor. 13,11), denn von aller Torheit, von allem Leichtsinn und wetterwendischen Wesen der Jugend wusste Christus nichts; sondern was schön, was lieblich, was gerecht ist, jungfräuliche Unschuld eines reinen und heiligen Kindes, - eine Herrlichkeit wie von Kindern, deren Eltern nie in den Sündenfall geraten wären – das Alles ist wirklich und wahrhaftig vorhanden in der Person Jesu Christi.
Geliebte, es ist etwas außerordentlich Liebliches in diesem Bilde der Menschheit Jesu, weil Keines von uns sich zaghaft vor einem Menschen scheut, sondern sich ihm gerne nähert. Menschen, die etwas Kindliches haben, schrecken uns nie zurück. Es gibt Leute, denen man sein Leid nicht zu klagen wagt; es ist etwas Stolzes in ihnen, sie schauen verächtlich auf euch herab; ihr fühlt, dass euer wort nicht bis zu ihren Herzen dringt. Es gibt aber Andere mit einem offenen, treuherzigen Blick, bei denen man augenblicklich fühlt: „Da, da kannst du dein Herz ausschütten, ja, dem darfst du Alles sagen. Dem kannst und musst du deine Noth klagen; wenn er irgend kann, so hilft er dir.“ Und was weckt denn ein solches Zutrauen? Das Kindliche, was ein solcher Mensch an und in sich hat. Das aber ist in der Person Christi im vollsten Maße vorhanden. So komm denn, und sage dem Herrn Jesus Alles. Lass dich keine Scham noch Furcht abhalten, ihm all deine Noth an’s Herz zu legen. Willst du deinen Immanuel fürchten? Willst du vor dem Lamm Gottes zittern? Erschrickst du vor einem heiligen Kind? Nein, komm doch Lieber, und nimm ihn wie Simeon in deine Arme und mach’ ihn dir als deinen Trost und deine Zuversicht zu eigen. Ich wollte, ich könnte jetzt jenen Furchtsamen Mut einflößen, die immer sagen: „Ich fürchte mich vor Jesu.“ Ach, liebe Freunde, wie könnt ihr nur so sagen? Ihr tut ihm Unrecht. Ihr kennt ihn nicht, sonst würdet ihr nicht so sprechen. Das ist der allerunseligste Irrtum, wenn ihr meint, das Vergeben sei ihm zuwider. Er ist ja für euch gestorben, er hat als ein heiliges Kind für euch gelebt; wie wär’s denn auch möglich, dass er euch nicht gern zu Gnaden annehme?
In Miss Beecher Stowe’s Erzählung: „Evangeline und die kleine Topsy“ ist ein recht sprechendes Bild eines heiligen Kindes gegeben. Das Gesetz ist geschildert in der Ophelia; sie züchtigt das Kind mit der Rute; aber je mehr sie es schlägt, desto verstockter wird es; es bringt nichts weiter heraus als: „Ich bin so böse gewesen, ich kann nichts dafür, dass ich so böse war.“ Weiter bringt’s das Gesetz nicht; es kann in einem Menschen nur das Gefühl erwecken, er sei „so gottlos“, dass keine Besserung mehr möglich sei; und er geht hin und sündigt fort. Aber welch ein Bild bietet sich uns dar, wenn St. Clair den Vorhang öffnet und die beiden Kinder beisammen sitzen sieht? Evangeline sagt: „Warum bist du so böse, Topsy? Willst du’s nicht wenigstens probiren und artig sein? Hast du denn Niemand lieb, Topsy?“ – „Was weiß ich doch von Liebe; ich liebe nur Zucker und so was; das ist Alles.“ – „aber du hast doch deinen Vater und deine Mutter lieb?“ – „Du weißt ja, dass ich nie einen Vater und eine Mutter gehabt habe; ich habe dir’s ja schon gesagt, Evangeline.“ – „ja, ich weiß es,“ sagte Evangeline traurig; „aber hast du denn keinen Bruder, keine Schwester, keine Tante, oder – „ – „Nein, nichts von dem Allem; Niemand und Nichts hab’ ich je gehabt.“ – „Aber Topsy, wenn du’s nur probiren wolltest, artig zu sein, du könntest – „ – „Ich wär’ doch nur ein Negerkind und wenn ich noch so brav wäre,“ sagt Topsy. – „O Topsy, armes Kind, ich liebe dich!“ sprach Evangeline, mit einem plötzlichen Ausbruch der Empfindung, und legte ihre kleine, zarte, weiße Hand auf Topsy’s Schulter. „Ich liebe dich, weil du keinen Vater und keine Mutter und keine Freunde hast, weil du ein armes unglückliches Kind bist! Ich liebe dich, und ach, wie gern möchte ich, dass du gut wärest. Ich bin recht krank, Topsy, und ich denke, dass ich nicht mehr lange lebe, und es macht mir rechten Kummer, dass du so böse gewesen bist. Ach, wenn du doch nur möchtest gut werden, mir zu Liebe; ich werde ja nicht mehr lange um dich sein.“ Die großen durchdringenden Augen des schwarzen Kindes füllten sich mit Tränen; große, helle Tropfen rannen rasch hernieder, eine um die andere, und fielen auf die kleine weiße Hand. Ja, in diesem Augenblick hatte ein Strahl des Glaubens, ein Strahl himmlischer Liebe die Nacht seines heidnischen Herzens durchdrungen! Es legt seine Händchen zwischen den Knien zusammen und weinte und schluchzte; während die liebliche kleine Evangeline, über Topsy hingebeugt, wie ein strahlender Engel erschien, der einen Sünder aus dem Staube zu erhebensucht. Etwas Ähnliches, nur in seiner Art unendlich Erhabneres, zeigt sich in dem Verhalten des Heilandes gegen uns Menschen. Er sieht, wie wir so elend und verdorben, so gottlos, so verzweifelt böse sind, und er kommt als ein heiliges Kind und setzt sich zu uns und spricht: „Ich habe euch lieb; ich liebe euch, weil ihr so elend, so verdorben, so hoffnungslos verdorben seid; weil ich weiß, welcher entsetzlichen Verdammnis ihr anheimfallet. Es ist so gar nichts Liebenswürdiges an euch, und doch habe ich euch lieb; ich kann es nicht ertragen, dass ich euch so dem Verderben entgegeneilen sehe. Lieber möchte ich sterben, als dass ihr müsstet in der Sünde gefangen bleiben. Lieber möchte ich sterben und meines Vaters Zorn über euch auf mich nehmen, als dass ihr solltet Sünder bleiben und im Ungehorsam gegen ihn beharren.“ Jetzt, heute setzt sich das heilige Kind Jesus zu euch und weint über euch. Wollt ihr euren Immanuel betrüben? Wollt ihr dem Herrn Jesus das Herz brechen, dem Liebhaber eurer Seelen? Ach, wollt ihr seine Wunden auf’s Neue aufreißen und ihn abermals kreuzigen? Wenn ihr das nicht wollt, o, so schenkt ihm doch jetzt Vertrauen; flüchtet euch zu ihm, gebt euch ihm gänzlich zu eigen. Er sehnt sich danach, euch seine Gnade zu erzeigen; seine Liebesarme sind weit geöffnet, um euch aufzunehmen. „Wer da will, der komme,“ spricht er, „und wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen.“ So kommt euch das „heilige Kind Jesus“ entgegen.
Betrachten wir endlich zum Schlusse, wie der Name dieses heiligen Kindes so große Wunder wirkt; denn darin beruht die Herrlichkeit seiner Menschheit.
Obgleich Christus ein Mensch war, so gehorchten doch alle Kräfte der Natur ihrem Herrn und beugten sich vor ihm in den Staub. Er bedrohte Wind und Meer; Krankheiten, des Todes Streitkräfte und den Tod selber, ihr Fürst; alle anerkannten die Oberhoheit Dessen, der die Unsterblichkeit und das Leben ist. Nach seiner Auferstehung übertrug er seine Gewalt auf seine Jünger, ja mehr als seine Gewalt: „Größere Werke, denn diese, werdet ihr tun, denn ich gehe zum Vater“ (Joh. 14,12). Der Name Jesu wird ausgesprochen, von schwachen Menschen ausgesprochen, und die bösen Geister fuhren aus; der Mund der Stummen fing an zu lobpreisen, die Lahmen hüpften wie die Hirsche, und dem Blinden war das Gesicht gegeben; ja, etliche male gab selbst das Grab seine Beute wieder, wenn der Name Jesu durch seine hohlen Räume erscholl. Die Zeit der sichtbaren Wunder ging vorbei, und das war gut. Denn diese Wunder waren nur die Wiege, in welcher das Menschenkind, die Gemeine Gottes, sollte erstarken. Als die Gemeinschaft der Gläubigen stark genug war, um auf eigenen Füßen zu stehen, ließ sie das Gängelband zurück; aber der Name Jesu hat heutzutage nicht weniger Kraft, wenn schon keine auferstandenen Toten, keine geöffneten Augen nachfolgen. Noch heute vernehmen tote Seelen die Stimme Gottes und leben. Noch jetzt werden den geistlich Blinden die Augen geöffnet; Herzen von Stein werden in fleischerne Herzen verwandelt, und Zungen, die sich nur zum Fluchen regten, fangen an zu lobsingen. Die Wunder der geistigen Welt sind unendlich größer als die der leiblichen. Es ist etwas Geringes, einen Stein in Brot zu verwandeln; aber es ist etwas Großes, wenn ein steinernes Herz in ein fleischernes verwandelt wird. Es ist verhältnismäßig etwas Kleines, ein blindes Auge zu öffnen; aber es ist wahrlich etwas Göttliches, den verdunkelten Verstand zu erleuchten und das finstere Herz zu erhellen. Der Name Jesu ist heute eben so mächtig unter uns, wie im Munde des Apostels Pauli auf dem Areopag zu Athen, oder da er in seinem eigenen Gedinge stand zu Rom. Sagt nicht, dass ihr hierüber Zweifel hegt. Schaut um euch und überzeuget euch. O, lieben Männer und Brüder, wir alle sind die freiwilligen Siegeszeichen der Macht dieses großen Namens. Überall, wo dieser Name verkündigt wird, fallen ihm Seelen zu, zerschlagene Herzen, die sonst härter waren als Diamant. Tränen der Buße fließen; schwerer Kummer und tiefe Niedergeschlagenheit zerstreuen sich vor der Sonne der Gerechtigkeit. Wenn wir jetzt einhergehen im Schmuck eines heiligen Wandels, so ist dies eines der vielen Zeichen und Wunder seines Namens. Wenn Trunksucht und Wollust unter uns aufgehört haben, so ist’s zu seinem Preis. Wenn der Besessene, der von einer Legion Teufel geplagt war, zu den Füßen Jesu saß und war bekleidet und vernünftig, so ist dies abermals eines jener Zeichen und Wunder. Und hier, und überall, wo Christus und sein großes Erlösungswerk gepriesen und verkündigt wird, fügen sich die dürren Totengebeine zusammen, der Geist haucht sie an, und sie erstehen zum Leben, ein unübersehbares Heer. Die ganze Welt hat nichts aufzuweisen, was von ferne der Macht des Namens Jesu gleich käme. Es ist eine größere Wunderkraft in ihm verborgen, als in einem Stabe Mosis; er ist mächtiger als Mosis Stimme, der doch das Schilfmeer teilte und Wasser aus dem Felsen brachte. Teure Brüder, diesen Namen wollen wir hoch erheben und allen Landen verkündigen; er sei allezeit in unserem Munde. Möge ein Jeder von uns nach Vermögen und Gelegenheit seine Herrlichkeit preisen, so werden wir sein Reich kommen sehen und sein Wille wird geschehen auf Erden wir im Himmel. Ach, dass doch auch unter uns heute Jemand ein solches Zeichen und Wunder der Liebe Christi würde! Möchtet ihr das werden? Ach dann, dann hoffe ich, dass es geschieht. Wollet ihr? Dann stehet die Tür offen. „Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet“ (Joh. 3,18). Ein Blick auf Jesum, so bist du erlös’t – ein gläubiges Vertrauen zu ihm, so bist du gerettet. Gott schenke dir’s, dass du das jetzt kannst, so wirst du an der Veränderung, die in dir vorgeht, einen inneren Beweis von der Majestät der Person Christi empfinden, und es wird dir nichts mehr mangeln. Du wirst durch das, was du in dir erfährst, innerlich so befestigt werden, dass dich die Einwürfe des Unglaubens oder des Halbglaubens nie wieder vom sicheren Fels des Heils herabstürzen können. Das gebe Gott um seines heiligen Namens willen. Amen!
’’Predigten von C. H. Spurgeon, Prediger in London. Aus dem Englischen. Vierter Band. (Miniatur-Ausgabe.) Hamburg. Verlag von J. G. Oncken. 1869.’’