Spurgeon, Charles Haddon - Christi Erhöhung

“Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen.“
Joh. 12,32

Es war eine ungewöhnliche Gelegenheit, bei welcher der Herr diesen Ausspruch tat. Es war die Rede vom entscheidenden Gericht über diese Welt (V. 31). Wir reden im Geschäftsleben gar oft von „entscheidenden Ereignissen,“ und zu allen Zeiten hats Leute gegeben, die da meinten, ihre Zeit bilde den Wendepunkt der Weltgeschichte. Sie begreifen ganz richtig, dass von ihren Handlungen gar Vieles für die Zukunft abhängt; aber darin täuschen sie sich, dass sie diesen Einfluss überschätzen, und glauben, die Zeit ihres Daseins sei der Angelpunkt der Weltgeschichte, sie sei das Weltgericht. Nun, wie dem auch sein möge, dass in gewissem Sinne jeder Zeitabschnitt eine entscheidende Bedeutung für die Folge hat, so konnte doch nie mit so vollem Recht irgend eine Periode der Weltgeschichte ein Weltgericht genannt werden als gerade die, von welcher der Herr spricht. Im 31. Vers, unmittelbar vor unseren Textworten, heißt es: „Jetzt gehet das Gericht über diese Welt.“. Im Grundtext lautet es eigentlich: „Jetzt gehet die Entscheidung über diese Welt.“ Die Welt war zu einer ersten Entscheidung gekommen; es war der Wendepunkt der ganzen Weltgeschichte. Sollte Christus sterben oder nicht? Hätte er den bitteren Leidenskelch verschmäht, so war damit die ganze Welt verdammt; machte er sich aber auf, den furchtbaren Kampf mit den Mächten der Hölle und des Todes zu bestehen, und ging er als Sieger aus dem Kampf hervor, so war damit die Welt erlöst, und sie sah einer überaus herrlichen Zukunft entgegen. Unterliegt er? Dann ist die Welt unter die Füße der alten Schlange geworfen und dem unausweichlichen Verderben anheimgegeben. Siegt er, führt er das Gefängnis gefangen und gibt den Menschen Gaben (Eph. 4,8): dann wird diese Welt noch Zeiten erleben, wo man sich freuet „eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in welchem Gerechtigkeit wohnt“ (2. Pet. 3,13). „Die Entscheidung,“ spricht er, „ist eine zwiefache, über Satanas und über die Menschen. Ich will es euch sagen, wie es kommen wird.“ „Nun wird der Fürst dieser Welt ausgestoßen werden.“ „Fürchtet nicht, dass die Hölle siegen werde. Ich werde ihn ausstoßen; und wiederum zweifelt nicht, dass ich auch der Menschen Herzen werde siegreich überwinden.“ „Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.“

Wir haben nun dreierlei zu betrachten. Die Kreuzigung Christi als seine Verherrlichung. Er nennt sie eine Erhöhung. Der gekreuzigte Christus als die Anziehungskraft der Herzen. Ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen. Seine Verherrlichung - der evangelischen Predigt Inhalt - des Herzens Anziehungskraft.

1.

Christi Kreuzigung ist Christi Verherrlichung. Er bedient sich des Ausdrucks „erhöht“, um damit seine Todesart anzuzeigen. „Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen. Das sagte er aber, zu deuten, welches Todes er sterben werde.“ (V. 33). Er sagt nicht: Und ich, wenn ich gekreuzigt werde; ich, wenn ich ans Holz geheftet werden; nein, sondern: „Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde.“ Er bediente sich der äußeren und sichtbaren Gestalt des Kreuzes, das zur Erhöhung diente, zu einem Sinnbild und Gleichnis der Herrlichkeit, womit ihn gerade das Kreuz bekleiden sollte. „Ich, wenn ich erhöht werde von der Erde.“

Christi Kreuz ist Christi Herrlichkeit. Wir wollen sehen, auf welche Weise. Der Mensch sucht Ruhm in dem Hinopfern anderer - der Herr Jesus in seiner eigenen Hinopferung; der Mensch sucht goldene Kronen zu gewinnen - er eine Dornenkrone; der Mensch meint, die Herrlichkeit bestehe in der Erhöhung über andere - der Herr Jesus legte seine Ehre darein, dass er ward „ein Wurm und kein Mensch“ (Ps. 22,7), ein Verspotteter und Verachteter vor aller Augen. Er beugte sich, da er siegte, und er achtete es gleich rühmlich, sich zu beugen wie zu siegen.

Christus ward am Kreuz verherrlicht, weil die Liebe allezeit etwas Herrliches ist. Wenn ich irgend eine Herrlichkeit wünschte, so wäre es die, von den Menschen geliebt zu werden. Gewiss, die höchste Herrlichkeit, die ein Mensch unter seines Gleichen genießen kann, ist nicht die der bloßen Bewunderung, dass man ihn anstaunt, wenn er über die Straße geht, dass man ihn bewundernd umdrängt, wenn er stolz vorüberreitet; der größte Ruhm, die höchste Ehre für einen Staatsmann ist die Liebe seines Landes, zu fühlen, dass Jünglinge und Jungfrauen, Greise und Männer bereit sind, ihm in liebevoller Ergebung zu Fuße zu fallen, ihm, der ihrem Wohl lebt, mit allem, was ihnen zu Gebote steht, bereitwillig zu dienen. Der Herr Jesus hat aber durchs Kreuz mehr Liebe errungen, als es sonst irgendwie geschehen wäre. O, Herr Jesu, du wärest nie so sehr geliebt worden, wenn du stets im Himmel gethront hättest, als nun, da du dich im Tode gebeugt hast. Nicht Cherubim und Seraphim, noch lichtumwallte Engel hätten dich je so innig geliebt wie deine Erlösten droben oder selbst deine Erlösten hienieden. Viel reichere Liebe haben dir die Kreuzesnägel erworben als dein Herrscherstab. Deine geöffnete Seite hat dir nicht Liebesmangel gebracht, denn die deinen lieben dich von ganzem Herzen. Christus erntete Herrlichkeit durchs Kreuz. Er war nie so hoch erhoben, als da er niedergeworfen ward; und der Christ muss es bezeugen, dass, ob er gleich seinen Herrn allezeit liebt, doch nichts so sehr sein Herz mit Entzücken und Wonne der Liebe erfüllt, als die Geschichte von seiner Kreuzigung und seinem Todeskampf.

Christus hat damals große Herrlichkeit erlangt durch seinen Heldenmut. Das Kreuz war ein Prüfstein für den Heldenmut und die Heldenkraft Christi, und insofern war es ein Garten, in welchem seine Ehre gepflanzt ward. Die Lorbeeren seiner Krone fielen in einen Boden, der mit seinem Blut getränkt war. Manchmal sehnt sich der ehrgeizige Krieger nach der Schlacht, weil er sich im Frieden nicht auszeichnen kann. „Hier sitze ich,“ spricht er, „das Schwert rostet mir in der Scheide, und ich erringe keinen Ruhm; ich will hinausstürmen in die Schlacht, unter den alles zermalmenden Schlund der Kanonen; mögen manche ein gemaltes Pergament eine Ehre nennen, und mag es auch so sein, so bin ich doch ein Soldat und kann nicht anders!“ Und er sehnt sich nach Handgeld, um sich Ehre zu erkämpfen. Aber in einem unendlich höheren Sinne blickte Jesus nach dem Kreuz als dem Weg zu seiner Verherrlichung. „Ach,“ sprach er, „es kommt die Zeit meines Leidens. Vieles habe ich erlitten, aber ich muss noch mehr leiden, und dann soll die Welt erfahren, was für ein starkes Herz der Liebe ich in mir trage; wie ist das Land so geduldig, wie so stark im Leiden.“ Nie wären Christus zu Ehren solche Lobhymnen und solche erhebenden Gesänge erschallt, wie es geschieht, wenn er dem Kampf, dem Schmerz und dem Todesleiden sich entzogen hätte. Wir hätten ihm Lob und Preis dargebracht für das, was er ist, und für das, was er Großes für uns erstrebte, wir hätten ihn sogar für seine innige Liebe gegen uns gepriesen; aber nie hätten wir den Anlass gehabt, ihm für seine unüberwindliche Liebe zu erheben, wenn wir ihn nicht in die Fluten der Kreuzesleiden und der Todesschmerzen jenes furchtbaren Tages hineingetaucht erblickt hätten. Christus gewann durch seine Kreuzigung Ehre und Herrlichkeit.

Christus blickte auch auf seine Kreuzigung als auf die Vollendung seines ganzen Erlösungswerkes, und darum betrachtete er sie auch als eine Erhöhung. Die Vollführung eines Unternehmens ist seine Ehrenernte. Ob Tausende im nördlichen Eis erstarrten und ob ihres unerschrockenen Mutes gepriesen werden, so wird doch der Mann am höchsten geehrte, der die nordwestliche Durchfahrt zuletzt wirklich entdeckt. Gewiss ist die Ausführung eines Unternehmens der Punkt, von welchem schließlich die Ehre abhängt. Und, liebe Zuhörer, der Herr Jesus sehnte sich nach dem Kreuz, weil er es als das Ende und Ziel aller seiner Prüfungen betrachtete. Es sollte die Stätte werden, an der er sprechen konnte: „Es ist vollbracht!“ Nicht von seinem himmlischen Throne herab konnte er sagen: „Es ist vollbracht!“, sondern vom Kreuz rief er dieses Wort. Er ertrug viel lieber die Leiden Golgathas als die Hosiannarufe derer, die sich sonst um ihn gedrängt hatten. Denn er konnte ihnen wohl predigen und sie wohl segnen und auch heilen, aber damit war sein Werk noch nicht vollendet. Er musste erhöht werden. Er musste sich taufen lassen mit einer Taufe, und wie war ihm so bange, bis dass es vollendet werde (Luk. 12,50). „Nun aber“ sprach er, „verlanget mich sehnlich nach meinem Kreuz, denn es ist die Krone meines Werkes. Ich sehne mich nach meinem Leiden, weil sie die Vollendung meines großen Erlösungswerkes sind.“ Teure Brüder, die Vollendung ist es, die Ehre bringt; der Sieg ist es, der den Krieger und Ruhm krönt, und nicht die bloße Schlacht. Und darum sehnte sich Christus, zwar mit bangem, aber doch mit unaussprechlich liebe- und muterfülltem Herzen, nach seinem Sterben, auf dass er die Vollendung seines Werkes gewinne. „O,“ sprach er, „wenn ich gekreuzigt werde, dann werde ich erhöht und hoch erhaben.“

Und dann schaute Christus auch mit dem Auge des unerschütterlichen Glaubens auf seine Kreuzigung als auf die Stunde seines Sieges. Seine Jünger dachten, seine Kreuzigung wäre sein Untergang. Der Herr Jesus aber schaute tiefer; durch das äußere und sichtbare blickte er auf das geistliche. „Das Kreuz,“ sprach er, „die Richtstätte meiner Verurteilung mag mit Schande und Fluch beladen scheinen, und die Welt wird spottend und höhnend umher stehen. Mein Name mag auf immer entehrt bleiben wie der eines Gekreuzigten, und Spötter und Verächter mögen zu allen Zeiten meinen Freunden ins Gesicht werfen, dass ich unter den Übeltätern gestorben sei; dennoch schaue ich nicht aufs Kreuz wie ihr. Ich kenne, welcher Fluch an ihm haftet, aber ich achte der Schande nicht - ich bin bereit, alles zu erdulden, ich schaue hin aufs Kreuz als auf die Ehrenpforte, auf den Triumphbogen. Ach, soll ich euch sagen, was für ein Anblick mir am Kreuz vorbehalten ist?

„Dann, wenn in meinem Auge die letzte Träne blickt,
Dann, wenn in meinem Herzen der letzte Pulsschlag zückt,
Und wenn in meinem Busen der letzte Krampf erstickt -
Dann sieht mein Aug des Drachen so stolzes Haupt geknickt!“

Dann sehe ich die Zinnen der Hölle bersten und die Burg des Todesfürsten zerstört. Mein Auge schaut dann meine Erwählten ewiglich erlöst, und ich werde meine Erkauften, die aus dem Gefängnis kommen, mit Wonne betrachten.

In jener letzten Stunde meiner Schmach, wenn mein Mund sich auftun will zum letzten Schrei: „Es ist vollbracht!“ dann ist das Halljahr meiner Erlösten angebrochen, und ich werde ausbrechen in den Siegesjubel über die Errettung aller meiner Geliebten! Ja, und dann werde ich die Welt, meine Erde, mir gewonnen und all ihre Tyrannen und den Fürsten der Finsternis vom Throne gestoßen sehen, und ich werde im Gesicht der Offenbarung die Herrlichkeit der letzten Tage erblicken, wo ich werde sitzen auf dem Throne meines Vaters David und werde die Welt richten, und die Huldigung der Engel und das Jauchzen meiner Geliebten wird mich begleiten! Ja, Christus sah in seinem Kreuzesleiden den Sieg, und darum sehnte er sich und verlangte danach als nach der Siegesstätte und Siegeswaffe. „Und ich,“ sprach der Herr, „wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen.“

II.

Aber Christus wird noch eine andere Erhöhung, keine schmach- sondern eine ehrenvolle; er wird erhöht durchs Evangelium, durch die Predigt des Wortes. Der Herr Jesus muss täglich erhöht werden, denn dazu ist er in die Welt gekommen: Dass „wie Moses in der Wüste die Schlange erhöht hat“ (Joh. 3,14), auch er durch Predigt des Wortes der Wahrheit erhöht werde, „auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“ (V. 15). Christus ist der eine große Inhalt der Predigt, im Gegensatz zu tausend anderen Dingen, welche die meisten Menschen vorziehen. Ich wünsche nichts anderes, als dass in meinem Amte die Predigt von Christus stets die Hauptsache bleibe. Christus muss vor allem vorherrschen, nicht Hölle und Verdammnis. Gottes Prediger muss zwar Gottes Schrecken so eindringlich predigen wie Gottes Gnade; wir müssen den Donner des Gesetzes Gottes ja erschallen lassen; wenn die Menschen Sünde tun, so müssen wir ihnen sagen, dass sie deshalb Gericht und Verdammnis zu erwarten haben; und wenn sie Unrecht vorhaben, wehr dem Wächter, der sich scheut zu sagen: „Der Herr kommt, zu strafen!“ (Jud. 14.15). Wir wären treulos an dem teuren Amt, das uns Gott anvertraut hat, wenn wir gottvergessen genug sein könnten zu verschweigen alle Gotteswarnungen. Wenn Gott spricht: „Die Gottlosen müssen zur Hölle gekehrt werden, alle Heiden, die Gottes vergessen“ (Ps. 9,18), ist es unsere Pflicht, es zu verkündigen. Wenn der liebevolle Heiland selber vom feurigen Pfuhl spricht, und vom Wurm, der nicht stirbt, und vom Feuer, das nicht verlöscht, so ist es unsere Pflicht, zu reden, wie er redete, und die Sache nicht zu vertuschen. Es geschieht den Menschen keine Barmherzigkeit, wenn man ihnen ihre Verdammnis verschweigt.

Aber - teure Brüder, nie sollten die Schrecken der Verdammnis der Hauptgegenstand der Predigt sein. Viele ältere Gottesmänner meinten das Rechte zu treffen, wenn sie so harte Worte predigten; ich glaube es nicht. Manche Seelen werden erweckt und erschreckt durch solche Predigten; aber ihrer sind wenige. Von Zeit zu Zeit muss das heilige Geheimnis vom ewigen Zorn Gottes recht ernst und eindringlich verkündigt werden, aber noch weit öfter wollen wir die wunderbare Liebe Gottes verherrlichen. Es werden weit mehr Seelen gewonnen durch Locken als durch Drohen; nicht die Hölle, sondern den Heiland wollen wir predigen. O ihr Sünder, wir dürfen nicht davor zurückbeben, euch eure Verdammnis vorzuhalten, aber wir verweilen nicht gerne lange bei diesem furchtbaren Gegenstand. Viel lieber wollen wir euch Christus, den Gekreuzigten, verkündigen. Wir wollen lieber, dass unsere Predigt mit dem Weihrauch des Verdienstes Christi, als mit dem Feuer, Rauch und Donner Sinais erfüllt sei. Wir sind nicht zum Berge Sinai, sondern zum Berge Zion gekommen, wo sanftere Worte den Willen Gottes verkündigen und die Ströme des Lebens reichlich fließen.

Die Predigt des Evangeliums soll den Herrn Jesus Christus zum Gegenstand haben und nicht Lehrsätze. Etliche liebe Brüder predigen immer Lehrsätze unseres Christenglaubens. Ganz recht, sie tun wohl daran; mich aber könnte so etwas nicht befriedigen. Ich möchte lieber von mir sagen hören: „Er legt alles Gewicht auf die Person Jesu Christi, und es ist ihm nicht wohl, wenn er nicht vom Leiden und Versöhnungstode predigen kann. Er schämt sich der Lehre nicht, scheut sich auch nicht vor dem Strafen und Drohen, aber es ist, als ob er das Drohen des Gesetzes mit feuchten Augen und die Glaubenslehre als Gottes eigenes Wort verkündigte; wenn er aber von Jesus predigt, dann ist das Band seiner Zunge gelöst, und sein Herz ist in seinem Element.“ Teure Brüder, lieber will ich von Christus predigen, als von der Gnadenwahl, so herrlich auch diese Lehre ist. Wir wollen Christus über die Lehre stellen; diese soll nur der Thron für den Herrn der Herrlichkeit sein.

Der Prediger soll aber Christus auch verkündigen im Gegensatz zur bloßen Sittenpredigt. Wie manche Prediger gibt es nicht, sie könnten ebenso leicht aus Homer wie aus der Bibel predigen, denn sie bedürfen keinen anderen Text als irgend ein Tugendvorbild. Dem armen Mann kommt nie zu Sinn, etwas von der Wiedergeburt zu sagen. Er schwatzt wohl zuweilen etwas von sittlicher Erneuerung, aber er denkt nicht daran, vom Beharren in der Gnade zu reden. Er geht an dem Wort vorbei: „Glaube, so wirst du selig.“ Nein, sondern seine beständige Ermahnung lautet: „Liebes Christenvolk, bete und führe dich anständig auf, so wirst du ins Himmelreich eingehen.“ Summe und Inhalt seines Evangeliums geht darauf hinaus, dass es ganz gut auch ohne Christus geht, und ob auch ohne Zweifel mancher Fehler an uns ist, so brauchen wir uns bei redlichem Streben nicht an den alten Spruch zu kehren: „Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde.“ Wäret ihr gern Trunkenbolde, Diebe und Wüstlinge, dann geht nur und hört einen solchen Moralprediger. Vernehmet das Zeugnis des seligen alten Bischof Lavington: „Wir habens lange versucht, das Volk mit Sittenpredigten zu bekehren. Mit welchem Erfolg? Mit keinem. Im Gegenteil, wir haben das Volk damit erst recht in die Gottlosigkeit hineingeführt. Wir müssen eine andere Sprache führen; wir müssen Christus predigen, den Gekreuzigten; allein das Evangelium ist eine Kraft Gottes zu Seligkeit.“

Und jetzt noch eine Bemerkung. Der Prediger sollte Christus verkündigen im Gegensatz zu denen, die da meinen, sie müssen Gelehrsamkeit predigen. Gott behüte, dass wir je etwas gegen die Gelehrsamkeit sagen sollten. Je mehr sich ein Mensch Wissen aneignen kann, umso besser für ihn; und umso besser für seine Zuhörer, wenn es ihm geschenkt wird, solcher Kenntnisse am rechten Ort zu gebrauchen. Es gibt aber so überaus gelehrte Leute, die, sobald ihnen ein tiefsinniges Wort in den Wurf kommt, es auch sogleich verwerten; sie notieren sichs, damit sie am nächsten Sonntag ob ihrer tiefen Gelehrsamkeit können angestaunt werden. Als ich letzthin eine Anweisung für Prediger unter die Hände bekam, fand ich das eben Gesagte darin bestätigt. Es heißt darin: „Ein Teil der Predigt muss allezeit auch solchergestalt abgefasst sein, dass das gemeine Volk es nicht verstehen kann; denn durch solchen Vorteil sicherst du dir das Ansehen eines gelehrten Mannes; und alsdann wird das andere, was verständlich ist, einen umso tieferen Eindruck auf deine Zuhörer machen. Denn wenn du einen oder zwei schwer fassliche Sätze lässt mit unterlaufen, so macht das auf ihr Gemüt den Eindruck, dass du weit über ihnen erhaben seiest, und sie glauben um der Würde und des Ansehens deiner Gelehrsamkeit willen, und schenken darum dem Übrigen, was ihnen fasslich ist, desto mehr Zutrauen.“ Da halte ich denn doch dafür, dass so etwas geradezu verkehrt ist. Der Herr Jesus will nicht, dass wir Gelehrsamkeit predigen, sondern dass wir das köstliche, teure Wort des Lebens auf die allerfasslichste und einfachste Weise darlegen. Ja, wenn ich lauter Vornehme und Gelehrte, die Blüte der feinsten Gesellschaft, um mich versammeln könnte dadurch, dass ich nur für sie verständlich mich ausdrückte, so könnten sie wohl weglaufen, ich würde deswegen nicht die Hand umkehren. Ich möchte so predigen, dass jeder Gassenkehrer und jede Schuhmagd mich verstehen kann, auf dass der Ungebildete und Arme das Wort bald und mit Freuden aufnehme. O, es wird wenig Gutes aus der Predigt kommen, wenn sie nicht so einfach wie möglich gemacht wird, wenn nicht die Brüder jene einfache Sprache sich aneignen, die sie noch nicht einmal zu verstehen scheinen. Sie verstehen lateinisch, griechisch, hebräisch, französisch, italienisch und zwanzig andere Sprachen dazu. Aber es gibt eine Sprache, die ich ihnen allen zu ernstlichem Studium empfehlen möchte, unsere Volkssprache, wie wir sie im täglichen Leben von den Armen und Ungebildeten vernehmen. Es ist zum Erstaunen, welch mächtigen Eindruck eine Sprache macht, die den Zuhörern mundgerecht entgegenströmt; da ertönen Saiten, welche ein wunderbar tiefes Echo in den Herzen wecken. Was in warmen, einfachen, ungeschmückten Worten ans Herz herantritt, erwärmt und erweckt es auch; und also wird Christus erhoben, und nicht mit dem Firlefanz und Popanz der Gelehrsamkeit und Schulberedsamkeit. Christus muss erhöht werden; der gekreuzigte Christus. Wenn er solchergestalt ernstlich gepredigt wird, dann wird er sie alle zu sich ziehen.

III.

Wir betrachten nun die Hauptsache vom ganzen Inhalt unseres Textes: Die Anziehungskraft des Kreuzes Christi. Wenn Christus so gepredigt, so völlig einfach dem Volk verkündigt wird, so ist die Wirkung die, dass er sie alle zu sich zieht. Das geschieht auf allerlei Weise. Christus zieht die Menschen zu sich wie die Trommel, womit ein Ausrufer die Leute aufmerksam macht und um sich versammelt. Dann wie ein Netz, womit Christus die Menschen aus dem Meer der Sünde zieht. Dann zieht er sie zu sich mit Seilen der Liebe. Er zieht sie zu sich, wie ein Panier die Kriegsschar zu sich versammelt, und endlich zieht Christus sie zu sich wie in einem Wagen. „Und ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen.

1) Wenn der öffentliche Ausrufer seine Trommel rührt, so kommen die Leute aus den Häusern und lauschen der Verkündigung. Nun, meine teuren Brüder, ein Teil der Macht des Evangeliums liegt darin, dass es das Volk anzieht, um zuzuhören. Ihr könnt ja nicht erwarten, dass die Leute einen Segen von der Verkündigung des Evangeliums empfangen, wenn sie es nicht anhören. Das ist eben ein Teil des Kampfes, dass man sie dazu bringt, dass sie hören. Nun wirft man heutzutage die Frage auf: „Wie bringt man die arbeitenden Klassen dazu, dass sie Gottes Wort anhören?“ Die Antwort lautet: Christus übt selber diese Anziehung aus, er ist die Trommel, womit man die Leute zusammentrommelt. Predigt das Evangelium, so kommt das Volk von selber herbei. Das ist der einzige unfehlbare Weg, eine ordentliche Versammlung zusammen zu bringen. Was hat denn bei Whitfield das Herbeiströmen der Scharen von Zuhörern bewirkt? Nichts anderes als die einfache Predigt des Evangeliums, die er mit einer so hinreißenden Wärme verkündigte, dass ihr nichts zu widerstehen vermochte. Es liegt in der Wahrheit ein gewisses etwas, was sie immer beliebt macht. Sagt mir, ob auch eine Kirche leer bleibt, wo die Wahrheit verkündigt wird? Das würde wohl schwer zu bestätigen sein. Der Herr Jesus predigte seine Wahrheit, und alles Volk hörte ihm willig und gern zu, und Scharen eilten von allen Seiten herbei, ihn zu hören. Lieber Bruder Prediger, sind etwas deine Versammlungen öde geworden? Möchtest du gerne volle Bänke sehen? Dann will ich dir ein Rezept geben, das, wenn du es befolgst, deinen Betsaal gewiss bis in den hintersten Winkel bevölkert. Verbrenne alle deine geschriebenen Predigten, das ist Nr. 1. Lass deine gelehrten Anmerkungen Werg, das ist Nr. 2. Lies deine Bibel, und predige hernach mit der ganzen Einfalt ihrer Sprache. Fange an mitzuteilen, was du im eigenen Herzen erfahren hast, und bitte den Heiligen Geist, dass er dein Herz mit Feuereifer durchdringe. Dann gehe hin und rede mit dem Volk. Sprich mit ihm als ein Bruder. Sei Mensch unter Menschen. Verkündige ihnen herzlich mit freiem, offenen Mut, was du gefühlt hast.; und dann, teurer Freund, ist gar kein Zweifel, dass deiner Zuhörer bald viele sind. Wenn du aber sprichst: „Um eine zahlreiche Zuhörerschaft zu gewinnen, müssen wir eine Orgel haben!“ so sage ich, das hilft auch nicht so viel. „Aber wir müssen einen guten Gesangchor haben!“ Eine Versammlung, die nur durch einen solchen Gesangchor herbeigezogen würde, könnte mich nicht sehr erbauen. „Nein,“ sagt wieder einer, „ich muss mich aber einer edeln Sprache und gewählter Ausdrücke bedienen!“ Lieber Freund, nicht der edle Stil der Predigt tuts, sondern das edle Gefühl. Predigt aus dem Innersten eures Herzens heraus, und die seelenweckenden Worte des Evangeliums werden bald eine Versammlung herbeiziehen. „Wo das Aas ist, da sammeln sich die Adler!“ (Mat. 24,28)

2) Aber wenns damit abgetan wäre, was Nutzen hätten wir davon? Wenn die Menge herbeiströmte und hörte auf den Schall der Worte, und wenn sie ohne Errettung wieder von dannen gingen, was wäre damit ausgerichtet? Aber Christus ist eben wie ein Netz und ziehet die Menschen zu sich. Der Dienst am Worte Gottes wird mit dem Fischfang verglichen. Die Knechte Gottes sind die Fischer; sie gehen hin und fangen Seelen wie die Fischerleute Fische. Wie werden die Seelen gefangen? Durch die Predigt von Christus. Predigt nur eine Predigt, die von Christus erfüllt ist, und werft sie unter die Versammlung, wie ihr ein Netz ins Meer werft - ihr braucht nicht zu sehen, wer sie sind, noch eure Predigt auf ihre verschiedenen Umstände einzurichten; werft nur aus, und so wahr das Evangelium Gottes Wort ist, so wird es nicht leer wieder zu euch kommen; es muss ausrichten, was ihm gefällt, und soll geschehen, wozu er es gesandt hat. Noch nie blieb das Evangelium unfruchtbar, wenn es gepredigt ward mit Beweisung des Geistes und der Kraft. Nicht fürstliche Grabreden und nicht erschütternde Weltereignisse machen die Seelen selig. Wenn wir wollen das Reich Gottes ausbreiten, so ist das einzige, es hinauszuführen, die Erhebung Christi; denn „Ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen.“

3) Dann zieht Christus an mit Seilen der Liebe. Wenn auch die Menschen errettet sind, so können sie immer noch gar leicht abirren; es braucht Seile, um alle Wege eines Sünders gen Himmel zu leiten; und es bedarf einer Hand, die ihn den ganzen Weg führt. Nun aber ist der Herr Jesus Christus das Liebesband, das den Heiligen in den Himmel zieht. O du Kind Gottes, du würdest doch verloren gehen, wenn dich der Herr Jesus nicht mit starker Hand hielte; wenn er dich nicht zu sich zöge, so würdest du ihm dennoch entlaufen. Christenleute habens wie unsere Erde. Zweierlei Kräfte wirken auf diese ein. Die Schwungkraft reißt sie beständig nach außen hin vom Mittelpunkt hinweg; aber die Anziehungskraft der Sonne fesselt sie mit unwiderstehlichen Banden an die vorgezeichnete Bahn. O Christ, du wirst nimmermehr richtig wandeln noch in der Bahn der Wahrheit bleiben, wenn dich nicht der Zug des Heilandes beständig richtig leitet. Du fühlst eine fortwährende Anziehung zwischen deinem Herzen und Christo, und Christus zieht die fortwährend an, zu seinem Ebenbild, zu seiner Liebe, an seine Brust, und also wirst du vor deiner natürlichen Neigung zur Sünde bewahrt, dass du nicht in der weiten Wüste eines gottlosen Wesens umkommst.

4) Dann ist Christus auch der Mittelpunkt der Anziehung: er ist das Panier, der Vereinigungspunkt der großen Christenschar. Wir bedürfen der Einigung gar sehr in diesen Tagen; wir rufen laut: „Fort mit aller Spaltung!“ O, um die Einheit! Es gibt viele unter uns, die aufrichtig danach verlangen. Wir reden nicht vom evangelischen Bund; Bündnisse werden zwischen entfernten Völkern geschlossen. Ich glaube, dass das Wort: „Evangelischer Bund“ unrichtig ist; es sollte heißen: „Evangelische Union“. Ach, ich möchte nicht bloß in einem Bunde stehen mit einem Kind Gottes, aus welcher Kirche es stamme. Ich möchte vereint sein mit ihm von ganzem Herzen. Ach, wie möchte ich so gerne ausrufen: „Herr, teurer Heiland, du hast uns in eins verschmolzen!“ O teure Brüder! Wir wollen das Evangelium mit Macht verkündigen, so wird die Frucht solcher Predigt die Einigung sein. Ich freue mich über die gegenwärtige liebliche Regung und Bewegung. Ich danke Gott herzlich dafür und flehe zu ihm, dass doch der Tag komme, wo jeder Diener Gottes sich ebenso freut. Und ich freue mich nicht bloß deshalb darüber, weil ich darin den Anfang einer wahren Union erblicke, sondern um der Predigt des Evangeliums willen. Aber ich weiß auch, dass noch andere Schranken fallen werden. Einer wird zum anderen sagen: „Lieber Bruder, mein Kampf ist dir nicht mehr verschlossen; du gehörst wohl einer anderen Gemeinschaft an; aber komm und predige hier, du bist willkommen.“

5) Und schließlich noch den letzten lieblichen Gedanken: „Ich, wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen!“ Dann wird der Herr Jesus sein ganzes Volk in den Himmel ziehen. Er spricht: er will sie alle zu sich ziehen. Das Volk des Herrn wallet den Weg zum Himmel; sie werden geleitet vom allmächtigen Arm; das ist der gewaltige Arm Jesu Christi. Christus führt sie heim in sein Haus zu seinem Thron; es erfüllt sich nach und nach sein Gebet: „Vater, ich will, dass wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast!“ (Joh. 17,24). Und eben jetzt erfüllt er es, denn er ist wie ein starker Renner und zieht seine Kinder im Wagen des Bundes der Gnade zu sich hinauf. O, gelobt sei Gott! Das Kreuz ist das Holz, auf welchem wir uns aus dem Wagen des Irdischen in den Himmel retten; es ist das große Bundesschiff, das alle Stürme überdauert und glorreich in den himmlischen Hafen einzieht. Es ist der Wagen mit goldenen Säulen und silbernem Getäfel, bekleidet mit dem Purpur der Versöhnung unseres Herr Jesu Christi.

Und nun, armer Sünder, hoffe ich zu Gott, der Heiland möge dir vergeben; denke an seinen Tod auf Golgatha; an seinem blutigen Schweiß und Todeskampf - das alles tat er für dich, wenn du fühlst, dass du ein Sünder bist. Ziehet dich das nicht zu ihm?

„Und bist du schuldvoll; Er ist gut.
Er wäscht dich ab in seinem Blut“

Du hast dich gegen ihn empört und aufgelehnt; aber er hat gesagt: „kehret wieder, ihr abtrünnigen Kinder!“ Ziehet dich seine Liebe nicht? Ich bitte, dass beides dich mit aller Macht möge zu ihm ziehen und zuletzt in den Himmel bringen. Dazu verleiht Gott seinen Segen, um Jesu willen. Amen.