“Danach spricht Er zu Thomas: Reiche deinen Finger her, und siehe meine Hände, und reiche deine Hand her, und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig.“
Joh. 20,27.
Heutzutage haben wir viele Personen unter uns, welche Thomas ähnlich sind: sie zweifeln, fordern Zeichen und Beweise und sind argwöhnisch und oft traurig. Ich bin nicht ganz sicher, ob nicht die meisten von uns etwas von dem Thomas in sich tragen. Es gibt Zeiten, da auch der Starke schwach wird und der feste Gläubige einen Augenblick inne hält und sagt: „Ist es so?“ Vielleicht kann unsere Betrachtung über obigen Text denen von Nutzen sein, welche von der Krankheit heimgesucht werden, an welcher Thomas litt.
Ehe wir völlig auf unsren Gegenstand eingehen, beachtet, dass Thomas etwas von unsrem Herrn forderte, was er nicht hätte fordern sollen. Er wollte unsren auferstandenen Herrn auf die Probe stellen, und das war keine Ehrerbietung gegen seine heilige Person. Bewundert seines Meisters Geduld mit ihm. Er sagt nicht: „Wenn er nicht glauben will, so mag er für seinen Unglauben leiden;“ sondern Er heftet seinen Blick auf den Zweifler und redet ihn besonders an, aber nicht mit strafenden oder zürnenden Worten. Jesus konnte Thomas tragen, obgleich Thomas lange Zeit bei Ihm gewesen war und Ihn noch nicht kannte. Seine Finger in die Nägelmale und seine Hand in seine Seite legen – das war mehr, als ein Jünger das Recht hatte, von seinem göttlichen Meister zu fordern; aber siehe die Herablassung Jesu! Unser Herr handelt nicht immer nach seiner Würde, sondern nach unsrem Bedürfnis, und wenn wir wirklich so schwach sind, dass es nötig wird, die Hand in seine Seite zu legen, so will Er es geschehen lassen.
Beachtet auch, dass Thomas sofort überzeugt wurde. Er sagte: „Mein Herr, und mein Gott!“ Dies zeigt die Weisheit unseres Herrn, in welcher Er ihm solche Vertraulichkeit gestattete; wenngleich die Forderung eine sehr vermessene war, wusste Er doch, dass die Tat zu seinem Besten sein würde. Zuweilen versagt der Herr etwas in seiner Weisheit und spricht: „Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren;“ aber zu anderen Zeiten gewährt Er es weislich, weil Er es weise findet, zu geben, obgleich die Bitte unsrerseits eine fast zu große ist.
Der Gegenstand unserer diesmaligen Betrachtung ist: Die Heilung von Zweifeln. Dem Thomas wurde es gestattet, seine Finger in die Nägelmale zu legen, damit er von seinen Zweifeln geheilt werde. Vielleicht wünschen wir für uns etwas Ähnliches. „O, wenn unser Herr mir nur einmal erscheinen möchte und ich meine Hand in seine Seite legen könnte, oder wenn ich Ihn nur einmal sehen und mit Ihm sprechen dürfte – wie fest würde mich das machen!“ Dieser Gedanke ist ohne Zweifel schon in vielen Gemütern aufgetaucht. Solche Beweise, meine Brüder, werden wir nicht erhalten; aber wir werden etwas erhalten, das dem sehr verwandt ist und das ganz demselben Zweck entspricht.
Der erste Teil meiner Predigt ist dieser: Fordere keine Zeichen. Wenn solche auch möglich wären, begehre sie nicht. Wenn es Träume, Gesichte, Stimmen gibt, bitte nicht darum.
Verlange keine Wunder, erstens, weil es entehrend für das heilige Wort ist, sie zu begehren. Du glaubst, dass diese Bibel ein inspiriertes Buch – das Buch Gottes – ist. Der Apostel Petrus nennt es „ein festes prophetisches Wort, und ihr tut wohl, dass ihr darauf achtet.“ Bist du damit nicht zufrieden? Wenn jemand, auf dessen Wahrhaftigkeit du das größte Vertrauen setzest, dir dies oder jenes bezeugte, worauf du sofort antwortest: „Ich möchte doch gern weitere Beweise dafür haben“ – würdest du ihn damit nicht ungerecht verdächtigen? Willst du den Heiligen Geist verdächtigen, welcher in diesem Wort Zeugnis von Christo ablegt? O nein, lass uns mit seinem Zeugnis zufrieden sein. Lass es uns glauben. Wenn sich dem Glauben Schwierigkeiten entgegenstellen, wäre das nicht ganz natürlich, da der, welcher glaubt, endlich, das zu Glaubende aber an sich unendlich ist? Lass uns das Wort glauben und keine Zeichen fordern.
Begehre keine Zeichen, weil es unvernünftig ist, mehr zu wünschen, als wir bereits haben. Das Zeugnis des Herrn Jesu Christi, das im Worte enthalten ist, sollte uns ganz allein genügen. Außerdem haben wir das Zeugnis der Heiligen und Märtyrer, welche uns vorangegangen und im Glauben triumphierend gestorben sind. Wir haben das Zeugnis vieler, die noch unter uns weilen und die uns sagen, dass es sich so verhält. Zum Teil haben wir das Zeugnis unseres eigenen Gewissens, unserer eigenen Bekehrung, unserer späteren Erfahrung, und das sind überzeugende Zeugnisse. Lasst uns damit zufrieden sein. Thomas hätte sich an dem Zeugnis der Maria Magdalena und der anderen Jünger genügen lassen sollen, aber er tat es nicht. Wir sollten dem Wort unserer Brüder vertrauen.
Fordere keine Zeichen, weil du, indem du das tust, vermessen erscheinst. Wer bist du, dass du Gott ein Zeichen bestimmen wolltest? Was soll Er noch tun, ehe du an Ihn glauben willst? Wenn Er nun nicht darauf eingeht, willst du darum trotzig sagen: „Ich weigere mich, zu glauben, wenn der Herr nicht tun will, was ich will?“ Es ist Vermessenheit, welche es wagt, von Gott etwas mehr zu fordern als das Zeugnis von Ihm selbst, das Ihm gefällt, in seinem Worte uns zu geben.
Es ist ferner nachteilig für uns, Zeichen zu fordern. Jesus sagt: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Thomas erhielt sein Zeichen und glaubte; aber er ging des besonderen Segens verlustig, welchen die erhalten, die nicht sehen und doch glauben. Beraube dich nicht der besonderen Gunst, welcher sich die erfreuen, die auf das Zeugnis des Geistes Gottes hin ohne weiteres an den Herrn Jesum zum ewigen Leben glauben.
Ferner, fordere keine Zeichen, denn dieses Begehren ist höchst gefährlich. Nach anderer und jedenfalls richtigerer Übersetzung sagte unser Heiland: „Reiche deine Hand her, und lege sie in meine Seite, und werde nicht ungläubig, sondern gläubig,“ um anzudeuten, dass Thomas in Gefahr war, nach und nach ungläubig zu werden. Sein Glaube war so gering geworden, dass er bald ganz verschwinden konnte, wenn er fortgefahren wäre, dies oder das als Zeichen oder Beweis zu fordern. „Werde nicht ungläubig, sondern gläubig.“ Lieben Freunde, wisst ihr, was sich zutragen würde, wenn ihr anfinget, Zeichen zu suchen, und wenn euch dieselben gewährt würden? Nun, ihr würdet mehrere nötig haben, und wenn ihr auch diese erhieltet, würdet ihr noch mehr fordern. Die, welche nach ihren Gefühlen leben, beurteilen die Wahrheit Gottes nach ihrem Zustande. Wenn sie freudige Gefühle haben, dann glauben sie; aber wenn sie niedergeschlagen sind, wenn die Witterung trübe wird, oder ihre Konstitution ein wenig in Unordnung gerät, dann sinkt auch ihr Glaube. Wer eines Glaubens lebt, der sich nicht auf Gefühle gründet, sondern auf dem Wort des Herrn erbaut ist, bleibt fest, wie der Berg Gottes; aber wer bald dies, bald das als ein Zeichen von der Hand des Herrn fordert, steht in Gefahr, wegen mangels an Glauben verloren zu gehen.
Fordere darum keine Zeichen. Wenn du eine Geschichte von jemand liest, der ein Gesicht gesehen hat, oder wenn du einen anderen erklären hörst, dass eine Stimme zu ihm gesprochen habe – glaube diese Dinge, oder glaube sie nicht, aber begehre sie nicht für dich. Diese Wunder mögen Einfälle der Einbildungskraft sein oder nicht, ich will darüber nicht urteilen; aber du darfst dich nicht darauf verlassen, denn wir sollen nicht im Schauen, sondern im Glauben wandeln. Verlasse dich nicht auf etwas, das mit den Augen gesehen, oder mit den Ohren gehört werden kann; sondern vertraue einfach Ihm, von dem wir wissen, dass Er der Christus Gottes, der Fels unseres Heils ist.
Zweitens, wenn du des Trostes bedarfst, so begehre keine Zeichen, sondern wende dich zu den Wunden deines Herrn. Du siehst, was Thomas tat. Er bedurfte des Glaubens, und er wandte sich um des willen zu dem verwundeten Jesus. Er sagt nichts über Christi Haupt, das mit Ehren gekrönt ist; er ist selbst in seinem Unglauben weise, denn er wendet sich um Trost zu seines Herrn Wunden. Wenn dein Unglaube überhand nimmt, so folge in dieser Beziehung dem Verhalten des Thomas und richte deinen Blick direkt auf die Wunden Jesu. Das sind die Quellen nie versiegenden Trostes. Wer einmal davon getrunken hat, vergisst seines Elends. Wende dich den Wunden des Herrn zu, und wenn du das tust, was wirst du sehen?
Zuerst wirst du die Zeichen der Liebe deines Meisters sehen. O Herr Jesus, was sind diese Wunden in Deiner Seite und in Deinen Händen? Er antwortet: „Ich duldete sie, als ich für dich litt. Wie kann ich dein vergessen? Ich habe dich in meine Hände gezeichnet. Wie könnte ich je anders, als dein gedenken? Der Speer hat deinen Namen auf mein Herz geschrieben.“ Blick’ auf Jesum, der gestorben, begraben und auferstanden ist, und dann sprich: „Er hat mich geliebt und sich selbst für mich dargegeben!“ Für einen sinkenden Glauben gibt es kein besseres Heilmittel als den Blick auf den verwundeten Heiland. Blicke, Seele, und lebe durch die Beweise seines Todes! Komm und lege im Glauben deinen Finger in die Nägelmale, und diese Wunden werden dich vom Unglauben heilen. Die Wunden unseres Herrn sind die Zeichen seiner Liebe.
Sie sind auch – und besonders jene Wunde in seiner Seite - die Siegel seines Todes. Er muss tot gewesen sein, denn „der Kriegsknechte einer öffnete seine Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und der das gesehen ha, der hat es bezeugt.“ Der Sohn Gottes starb wirklich und gewisslich. Gott, der den Himmel und die Erde gemacht, nahm unsere Natur an sich, und in einer wunderbaren Person war Er Gott sowohl als Mensch, und siehe, dieser wunderbare Sohn Gottes ertrug unaussprechliche Leiden und vollendete alles durch seinen Tod. Dies ist unser Trost, denn wenn Er an unserer Statt starb, so werden wir um unserer Sünden willen nicht sterben; unsere Übertretung ist weggenommen, und unsere Missetat ist vergeben. Wenn das Opfer nie getötet worden wäre, so könnten wir verzweifeln; aber seitdem die Speerwunde beweist, dass das große Opfer wirklich gestorben ist, ist die Verzweiflung getötet, die Hoffnung lebt und das Vertrauen macht uns fröhlich.
Die Wunden Jesu sind demnächst die Kennzeichen der Nämlichkeit. Daran sehen wir, dass seine gesegnete Person nach seiner Auferstehung dieselbe ist. Derselbe Christus, welcher starb, ist wieder auferstanden. Hier ist keine Illusion; hier kann kein Irrtum obwalten. Es ist nicht jemand statt seiner untergeschoben, sondern Jesus, welcher gestorben ist, hat die Toten verlassen, denn in seinen Händen und Füßen sind die Markzeichen seiner Kreuzigung, und in seiner Seite ist der Speerstich noch. Es ist Jesus: derselbe Jesus. Dies ist ein großer Trost für einen Christen – diese unbestreitbar bewiesene Lehre von der Auferstehung unseres Herrn. Sie ist der Schlussstein der Arche des Evangeliums. Nimm sie hinweg oder bezweifle sie, und es bleibt nichts übrig, das dich trösten könnte. Aber weil Jesus starb und in derselben Person auferstand und immerdar lebt, darum ist unser Herz ruhig und getrost, und wir glauben, dass Gott die durch Jesum Entschlafenen mit Ihm führen werde, und ebenso glauben wir, dass das Werk Jesu wahr, vollendet und von Gott angenommen worden ist.
Ferner, diese Wunden oder Narben unseres Herrn waren die Denkmäler seiner Liebe zu seinem Volk. Sie stellen seine Liebe so dar, dass seine Erwählten die Zeichen sehen können; aber sie sind auch Denkzeichen für Ihn selbst. Er trägt sie in seiner Herablassung als seine Erinnerer. Noch in diesem Augenblick befinden sich die Narben seiner Kreuzigung an der Person unseres herrlichen Herrn im Himmel. Jahrhunderte sind vergangen, und noch immer ist Er „wie ein Lamm, das erwürget ist.“ Unser erster Blick auf Ihn wird uns versichern, dass Er es ist, von dem sie sagten: „Kreuzige, kreuzige Ihn!“ Richte die Augen deines Glaubens fest auf Ihn, der in der Herrlichkeit ist; siehe deines Meisters Narben und sprich zu dir: „Er hat noch Mitleid mit uns; Er trägt die Markzeichen seines Leidens.“ Blick’ auf, armer Dulder! Jesus weiß, was physischer Schmerz ist. Blick’ auf, arme bedrückte Seele! Er weiß, was ein gebrochenes Herz ist. Kannst du das nicht einsehen? Jene Nägelmale in seinen Händen erklären, dass Er nicht vergessen wird, was Er für uns übernommen hat, dass Er noch Mitgefühl für uns hat.
Noch eins. Diese Wunden können uns trösten, weil sie die beständigen Zeichen seines vollendeten Werkes im Himmel vor Gott und den heiligen Engeln sind. Jene seine Leiden können nie wiederholt werden und bedürfen es auch nie wieder: „Nachdem Er ein Opfer für die Sünden gebracht hat, das ewig gilt, hat Er sich gesetzt zur Rechten Gottes.“ Sondern die Denkmäler werden beständig dem unendlichen Wesen Gottes vorgeführt, und diese sind zum Teil die Wunden in der herrlichen Person unseres Herrn. Die verklärten Geister können nie aufhören, zu singen: „Würdig ist das Lamm, das erwürget ward,“ denn jedesmal, wenn sie Ihn ansehen, erblicken sie seine Narben. Wie sie leuchten, diese Nägelmale! Obgleich Er ist Gott hochgelobt in Ewigkeit, kommt wenigstens sein hellster Glanz von seinem Tode uns zu gute.
Mein Zuhörer, wenn deine Seele umwölkt ist, so wende dich diesen hellleuchtenden Wunden zu. Sieh’ nicht auf deine Wunden, noch auf deine Schmerzen oder Sünden oder Gebete oder Tränen, sondern bedenke, dass „durch seine Wunden sind wir geheilt.“
Dies bringt mich zu meinem dritten Punkt: wenn der Glaube wankend geworden ist, so suche solche Hilfsmittel für deinen Glauben, soviel du kannst. Obgleich wir unsere Finger nicht buchstäblich in die Nägelmale legen können, so lasst uns doch solche Erkennungsweisen benutzen, wie sie uns zur Verfügung stehen. Lasst uns davon reichlich Gebrauch machen, und wir werden dann nicht länger wünschen, unsere Hand in die Seite des Heilands zu legen. Wir werden auch ohne sie vollkommen zufrieden sein. Ihr, die ihr von Zweifeln und Befürchtungen heimgesucht werdet – euch möchte ich folgendes empfehlen.
Zuerst, wenn ihr euren Glauben lebendig und stark haben wollt, so studiert die Geschichte von dem Tode eures Heilandes recht viel. Lest sie; lest sie; lest sie. „Tolle; lege,“ sagte die Stimme zu Augustin; „Nimm es; lies es.“ So sage auch ich. Nimm die vier Evangelisten; nimm das drei und fünfzigste Kapitel im Jesaias; nimm den zwei und zwanzigsten Psalm; nimm alle anderen Teile der Heiligen Schrift, die sich auf unsren leidenden Stellvertreter beziehen, und lies Tag und Nacht, bis du mit der ganzen Geschichte seines Leidens und Sündetragens vertraut bist. Halte deinen Sinn fest darauf gerichtet, nicht nur zuweilen, sondern beständig. Crux lux: das Kreuz ist Licht. Du wirst es in seinem eigenen Licht sehen. Das Studium der Erzählung wird, wenn du den Heiligen Geist bittest, dich zu erleuchten, Glauben in dir erzeugen und es wird dir dadurch wesentlich geholfen werden, bis du schließlich sagen wirst: „Ich kann nicht zweifeln. Die Wahrheit von dem Versöhnungsopfer hat auf mein Herz, auf mein Verständnis, auf mein Gedächtnis tiefen Eindruck gemacht. Der Bericht davon hat mich überzeugt.“
Wenn dies nicht genügen sollte, so betrachte oft die Leiden Jesu. Ich meine damit: wenn du die Geschichte gelesen hast, so setze dich und versuche, sie dir zu schildern. Lass sie an deinem Geist vorübergehen. Versetze dich in die Stellung der Apostel, welche Ihn sterben sahen. Keine Beschäftigung wird den Glauben so erheblich stärken, und gewisslich wird keine dir mehr Genuss gewähren. Du wirst erstaunt sein, zu finden, wie vertraut dich selbst das mit der Geschichte macht und wie mit der Hilfe des Heiligen Geistes dir alles so lebendig wird, als ob du es sähest, und die Betrachtung wird eine bessere Wirkung auf dich ausüben, als das Gesicht es getan haben würde, denn das tatsächliche Gesicht würde wieder verschwinden und vergessen werden, während die Betrachtung der traurigen Szene tief in deine Seele eindringt und ewige Züge zurücklässt! Du wirst wohl daran tun, zuerst die Geschichte zu lesen und kennen zu lernen, und dann sie sorgfältig und ernstlich zu betrachten – ich meine nicht, so gelegentlich eine bis zwei Minuten daran zu denken, sondern eine oder zwei Stunden Zeit zu dem Zweck abzusondern, die Geschichte vom Tode deines Heilandes zu erwägen. Ich bin überzeugt, dass dir das viel mehr Nutzen bringen wird, als Thomas Nutzen davon hatte, seinen Finger in die Nägelmale zu legen.
Und was dann? Nun, lieben Freunde, der Herr hat einen Weg, seinem Volk wunderbare Klarheiten zu geben. Ich hoffe, ich sage nichts Unrichtiges, wenn ich bemerke, dass es Zeiten bei uns gibt, da der Herr uns gegenwärtig ist, und wir von diesem Umstande tiefe Eindrücke erhalten und darum unter dem Bewusstsein von dieser Gegenwart gerade so handeln, als ob die göttliche Herrlichkeit tatsächlich sichtbar wäre. Wisst ihr, was es ist, einem Freunde einen Brief schreiben in dem Gefühl, als ob euch der Herr über die Schulter sähe? Ich weiß, was es zuweilen ist, hier zu stehen und zu predigen und zu fühlen, dass der Herr mir so nahe ist, dass es mich nicht überrascht haben würde, wenn ich Ihn buchstäblich gesehen hätte. Habt ihr nie in den Nachtwachen, da nichts anderes als das Ticken der Uhr zu hören war, dagelegen und euch mit dem Herrn beschäftigt, bis ihr dessen gewiss wurdet, dass Er da war, als ob ihr sein trauriges Angesicht sehen könntet, obgleich ihr wusstet, dass keine Gestalt vor euch stand? Diese und andere Verwirklichungen sind zuweilen so freudig überwältigend für euch gewesen, dass ihr jahrelang durch sie über alle Macht des Zweifels erhaben wart. Wenn ich je zu einem Zweifel über die Existenz meines Herrn und Meisters versucht werde, fühle ich, dass ich den Versucher verlachen kann, denn ich habe Ihn gesehen und mit Ihm geredet. Nicht mit diesen Augen, wohl aber mit den Augen meines inneren Lebens habe ich meinen Herrn gesehen und mit Ihm verkehrt.
Nicht nur in Zeiten des Genusses, sondern auch in Zeiten tiefer Not stehen uns diese Hilfsmittel zu Gebote. Vom Schmerz niedergeworfen, unfähig, einen Trost zu genießen, selbst unfähig, zu schlafen, habe ich die Seele der Gläubigen ebenso glücklich gesehen, als ob die Hochzeitsglocken läuteten. Manche von uns wissen, was es ist, in Stunden heftigster Trübsal recht froh und freudig zu sein, weil Christus so nahe gewesen ist. In Zeiten der Verluste und Beraubungen, da die Trauer groß war, von welcher ihr vorher meintet, dass ihr sie nicht ertragen könntet, seid ihr durch den Blick auf den einst Verwundeten und durch die Gemeinschaft mit Ihm in seinem Leiden so mächtig erhalten worden, dass ihr gesagt habt: „Was ist mein Leid im Vergleich zu seinen?“ Ihr habt euren Kummer vergessen und habt vor Freude des Herzens gesunden. Wenn euch in dieser Weise geholfen worden ist, so wird das eine eben solche Wirkung auf euch gehabt haben, wie sie euch nur hätte werden können, wenn ihr euren Finger in die Nägelmale gelegt hättet. Wenn vielleicht euer Leben schon aufgegeben worden war und ihr geistig den ganzen Sterbeprozess durchlebtet in der Erwartung, bald vor den Schranken Gottes zu stehen und ihr dabei doch glücklich wart, so dass ihr jubeln konntet, so konntet ihr die Wirklichkeit der Religion, die euch über die schäumenden Wogen hinweg trug, nicht bezweifeln. Nachdem ihr dem Leben noch auf kurze Zeit zurückgegeben worden seid, wird die Erinnerung an das, was ihr für eure Sterbestunde hieltet, ganz demselben Zweck entsprechen, als wenn ihr euren Finger in die Nägelmale gelegt hättet.
Zuweilen mag der stärkende Einfluss unter dem Andrang der Versuchung gewährt werden. Wenn sich jemals eine heftige Versuchung wider dich aufmachte und dein Tritt beinahe gleiten wollte, so dass du ausrufen musstest: „O Gott, hilf mir; wie kann ich dieser Gefahr entfliehen?“ und wenn du dann deine Augen wandtest und du deinen Herrn und seine Wunden sahst, und wenn du in demselben Augenblick fühltest, wie die Versuchung all ihren Reiz und all ihre Macht verlor – so hast du darin ein Siegel von dem Herrn erhalten und dein Glaube ist gestärkt worden. Wenn du bei dem Anblick deines Herrn angesichts der Versuchung ausgerufen hast: „Wie sollte ich ein solch groß Übel tun und wider Gott sündigen?“ so hast du damit den besten Beweis von deines Erlösers Macht, zu retten, erhalten. Welchen besseren und praktischeren Beweis konntest du dir wünschen?
In dieser Zeit, da die Fundamente unseres Glaubens unterminiert werden, wird man zuweilen dahin getrieben, zu sich selbst zu sagen: „Nimm an, es sei nicht wahr.“ Als ich jüngst unter freiem Himmel stand und die Sterne beobachtete, fühlte ich mein Herz mit aller Liebe, deren ich fähig war, zu dem großen Schöpfer aufsteigen. Ich sagte zu mir: „Was hat mich veranlasst, Gott zu lieben, wie ich Ihn liebe? Was hat das Verlangen in mir wachgerufen, Ihm an Reinheit gleich zu sein? Was es auch sein mag, das mit das Sehnen gegeben hat, meinem Gott zu gehorchen – es kann keine Lüge sein.“ Ich weiß, dass es die Liebe Jesu zu mir war, die mein Herz umgeändert und mich, der ich einst sorglos und gleichgültig gegen Ihn war, mit der starken Sehnsucht erfüllt hat, Ihn zu verherrlichen. Was hat das zustandegebracht? Sicherlich keine Lüge. So hat es denn eine Wahrheit getan. Ich erkenne sie an ihren Früchten. Die teuren Wunden beweisen beständig die Wahrheit des Evangeliums und die Wahrheit unseres Heils durch sie. Die Menschwerdung Christi ist ein Gedanke, welcher nie von einem Dichter erfunden noch durch die Geschicklichkeit eines Philosophen herausgeklügelt werden konnte. Die Mensch gewordene Gottheit, die Idee von dem Gott, welcher in menschlicher Gestalt anstatt der schuldigen Menschen blutete und starb, ist an und für sich ihr eigener bester Zeuge. Die Wunden sind das untrügliche Zeugnis von dem Evangelio Christi.
Habt ihr nicht gefunden, dass diese Wunden euch in Gestalt der Unterstützung zuzeiten der Pflicht sehr behilflich waren? Du sagtest: „Ich kann es nicht tun; es ist zu schwer für mich.“ Du blicktest auf den verwundeten Jesus, und du konntest tun, was es auch sein mochte. Ein Blick auf den blutenden Christus hat uns oft mit Begeisterung und Kraft erfüllt; er hat uns stark gemacht in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke. Blicke auf die Gemeinde Christi in allen Zeiten. Könige und Fürsten wussten nicht, was sie mit ihr anfangen sollten. Sie gelobten sich, sie zu vernichten. Ihre Verfolgungsedikte gingen aus und Tausende und aber Tausende der Verfolger Christi wurden getötet. Aber was geschah? Der Tod Jesu machte die Menschen willig, für Ihn zu sterben. Keine Pein, keine Tortur konnte das gläubige Heer zurückhalten. Sie liebten Jesum so, dass, obgleich ihre Führer im blutigen Tode fielen, eine andere Schar und wieder eine andere und noch eine andere auftrat, bis die Despoten einsahen, dass weder Kerker, noch Folter, noch Scheiterhaufen den Lauf der Armee Christi aufhalten konnten. Es ist noch so. Christi Wunden flößen der Gemeinde Leben ein; das Lebensblut der Gemeinde Gottes kommt aus Jesu Wunden. Lasst uns ihre Kraft erkennen und lasst uns fühlen, wie sie in uns wirken „Wollen und Vollbringen nach seinem Wohlgefallen.“
Und was soll ich hinsichtlich derer sagen, die Ihm nicht vertrauen? Der Herr helfe euch, dies sogleich zu tun; denn so lange ihr Ihm nicht vertraut, befindet ihr euch unter einem schrecklichen Fluch, denn es stehet geschrieben: „So jemand den Herrn Jesum Christum nicht lieb hat, der sei Anathema, Maranatha“ verflucht bei dem Kommen des Herrn. Möchte das bei euch nie zutreffen! Amen.
„Auf Dich setz’ ich mein Vertrauen;
Du bist meine Zuversicht:
Dein Tod hat den Tod zerhauen,
Dass er mich kann töten nicht.
Dass ich an Dir habe Teil,
Bringt mir Trost, Schutz und Heil;
Deine Gnade wird mir geben
Auferstehung, Licht und Leben.
Hab’ ich Dich in meinem Herzen,
Du Brunnen aller Gütigkeit,
so empfind’ ich keine Schmerzen
Auch im letzten Kampf und Streit.
Ich verberge mich in Dich;
Kann ein Feind verletzten mich?
Wer sich legt in Deine Wunden,
Der hat glücklich überwunden.“