Spitta, Carl Johann Philipp - Führet euren Wandel, so lange ihr hier wallet, mit Furcht.

Es ist wahr, denn es stehet geschrieben! -: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibet die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein“ (1 Joh. 4, 18.). „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe“ (2 Tim. 1, 7.). „Denn ihr habt nicht einen knechtlichen Geist empfangen, daß ihr euch abermal fürchten müßtet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater“ (Röm. 8, 15.). Aber eben so wahr ist, was geschrieben steht 1. Petri 1,17: „Sintemal ihr den zum Vater anrufet, der ohne Ansehn der Person richtet nach eines jeglichen Werk; so führet euren Wandel, so lange ihr hier wallet, mit Furcht.“ Der Apostel Petrus kennet die alle peinliche Furcht vor Gott austreibende Liebe, und den kindlichen Geist, durch welchen wir Gott als Vater anrufen, eben so wohl als Johannes und Paulus. Es ist nicht seine Meinung, daß anstatt der freudigen Zuversicht zu Gott, die peinliche Furcht vor dem zukünftigen Zorn, und anstatt des Geistes der Liebe, der Geist der Furcht das Regiment im Herzen der Christen haben sollte. Er verkümmert ihnen ihre Hoffnung auf die Gnade Gottes in Christo so wenig, daß er sie vielmehr ermahnt (1 Petr. 1, 13.), ihre Hoffnung ganz auf diese Gnade zu setzen. Er löset die Seile der Liebe nicht, spannet sie nicht in das knechtische Joch des Gesetzes und zeigt ihnen nicht in der gesetzlichen Furcht den Stecken des Treibers; sondern lehrt sie, wozu und wie lange ihnen die Furcht Gottes nütze sei, nämlich ihren Wandel, so lange sie hier wallen, also zu führen, wie es dem gerechten Vater wohlgefalle. Die Furcht, Gott zu mißfallen, ist so wenig der Liebe zuwider, daß im Gegentheil keine wahre Liebe ohne diese Furcht denkbar ist. Zu der Gerechtigkeit vom Gesetz erfordert, gehört auch die Furcht Gottes, und so wird auch sie, wie alle Gerechtigkeit in uns erfüllet durch den Geist. Darum ist hier kein Widerspruch zwischen Johannes und Paulus einerseits, und Petrus anderseits, wie denn auch Paulus gleich dem Petrus ermahnt (2 Cor. 7, 1.): „Lasset uns fortfahren mit der Heiligung in der Furcht Gottes.“ Und Philipp. 2, 12: „Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.“ - Ja, so lange wir hier wallen - im Fleische, welches gelüstet wider den Geist; in der Welt, die im Argen liegt; unter den listigen Anläufen des Bösewichts, und so mancher andern Seelengefahr: können wir der Furcht nicht entbehren. Die Furcht des Herrn ist Zucht zur Weisheit. Sie ist nicht blos der Weisheit Anfang, sondern auch ihr Fortgang. Auf dem Wege der Furcht lernen wir Gnade bei Gott suchen, und wenn wir Gnade gefunden haben und Gott lieben, so findet sich auch wiederum die Furcht; die zwar nicht wie vorher Pein, aber doch große Besorgniß hat, dem Vater zu mißfallen. Denn bei dem Herrn ist die Vergebung, daß man ihn fürchte (Ps. 130, 4.). Du stehest durch den Glauben: sei nicht stolz, sondern fürchte dich. Du rufest Gott zum Vater an: so führe deinen Wandel, so lange du hier wallest, mit Furcht. Bete mit David (Psalm 86, 1l.): „Weise mir, Herr, deinen Weg, daß ich wandle in deiner Wahrheit; erhalte mein Herz bei dem Einigen, daß ich deinen Namen fürchte.“ Denke nicht: das sei nicht evangelisch. Denn der Herr selbst hat verheißen Jerem. 32, 40: „Ich will einen ewigen Bund mit ihnen machen, daß ich nicht will ablassen, ihnen Gutes zu thun; und will ihnen meine Furcht ins Herz geben, daß sie nicht von mir weichen!“ - Amen.