Man hat schon oft die Frage gestellt: „soll man aus Büchern beten?“ Andere haben geradezu behauptet: ein Christ darf nicht aus Büchern beten, d. h. er darf kein gedrucktes Gebet lesen; „er soll aus dem Herzen beten“, d. h. ohne Buch mit Gott reden, wie es ihm um das Herz ist. Letztere Behauptung ist überspannt und unnüchtern. Darf man in öffentlichen Gottesdiensten gedruckte Gebete lesen, waren soll man sie nicht auch in der Stille lesen? Auch die Christen, die gegen die gedruckten Gebete eifern, lesen alle gedruckte Gebete, indem sie die Psalmen und viele andere biblische Gebete lesen; die Psalmen sind ja meistens Gebete. Auch ein großer Teil unserer Lieder sind Gebete, und Jedermann liest und singt sie. Lassen wir also das Reden gegen den Gebrauch von gedruckten Gebeten. Es ist keine Frage, dass beim Gebrauch von gedruckten Gebeten große Gefahr ist, sie gedankenlos und ohne wahre Herzensandacht zu lesen, besonders wenn man dieselben Gebete oft liest. Gegen diese Gefahr muss man sich ernstlich wappnen; denn nichts ist mehr Geist tötend, als gedankenloses, mechanisches Ablesen von Gebeten. Es nützt auch rein nichts; denn ein solches Beten ist vor Gott geradezu Sünde, weil es nicht in seiner Furcht, nicht vor seinem Angesicht geschieht.
Jeder Beter, ob er ein gedrucktes Gebet liest, oder ohne Buch ein Herzensgebet spricht, soll vor dem Angesichte Gottes stehen, und mit Gott reden mit gesammeltem Herzen. Nur dann betet er in Wahrheit, und nur dann ist sein Gebet wohlgefällig vor Gott. Jedes Gebet soll ein Herzensgebet sein, auch die gedruckten Gebete. Alle Christen, die überhaupt beten, werden aber oft die Erfahrung machen, dass sie in mancherlei Lagen kommen, in welchen ein gedrucktes Gebet ihren jeweiligen, besonderen Bedürfnissen nicht entspricht. Da sollte man dann so mit Gott reden können, wie es einem ums Herz ist. Ich erinnere nur an unsere Familienverhältnisse und auch an geschäftliche Verhältnisse. Wie manche spezielle Not gibt es da, die in keinen Gebetbuch steht. Dann Jemand nur durch ein Buch mit Gott reden, so kann er in den schwierigsten Fällen seine tiefsten Bedürfnisse nicht vor Gott bringen. Diese eine unbestreitbare Tatsache beweist klar, dass wir lernen müssen, auch ohne Buch mit unserem Gott zu reden. Aber nicht nur unsere Bedürfnisse weisen uns auf diese Notwendigkeit hin, sondern unsere ganze Stellung zu Gott. Wir glauben ja an einen allgegenwärtigen Gott, in dem wir leben, weben und sind, der auf uns schaut, Alles sieht und hört, und selbst unsere Gedanken kennt. Diesen Gott soll ein Christ als seinen Vater anrufen lernen, wie der Herr uns im Vaterunser so klar lehrt. Der Heiland selber sieht seine Hauptaufgabe, die er an seinen Jüngern zu erfüllen hatte darin, dass er ihnen den Vaternamen Gottes geoffenbart habe Joh. 17,6. Unsere Hauptaufgabe während unserer ganzen Gnadenzeit auf Erden ist, dass wir mit unserem Gott wieder als mit unserem Vater in Christo Jesu umgehen lernen, also Kindesstellung bekommen. Von unserer Kindesstellung zu Gott hängt unser ganzes Gebetsleben ab.
Ist man von seinem leiblichen Vater getrennt, so verkehrt man brieflich mit ihm. Ist aber ein Kind daheim, im Vaterhause, so trägt es seinem Vater seine Anliegen nicht schriftlich, sondern mündlich vor. So sollen auch Kinder Gottes sich nicht auf schriftliche Ansprache an ihren Gott durch Gebetbücher beschränken, sondern es lernen, mündlich und einfältig, nach den täglichen Bedürfnissen, ihre Anliegen vor ihren überall gegenwärtigen Gott zu bringen. Lieber Vater! Liebe Mutter! Wie redet dein Kind mit dir? Lerne mit deinem Gott reden, wie dein Kind mit dir redet. Du bist ja in den Namen Gottes, des Vaters getauft; wozu denn? Damit du in Glauben lernst das Abba rufen. Woher kommt denn das geschraubte, unnatürliche Wesen, unserem Gott gegenüber? Woher kommt die innere Furcht, Gott kindlich anzurufen? Woher kommt das Gefühl, Gott ist mir fern, und ich bin ihm fern? Du kennst den noch nicht, der allein dich sprechen lehren kann: Vater. Er heißt Jesus Christus, dein Heiland.
Willst du ein Beter werden nach dem Herzen Gottes, so musst du einen offenen Zugang haben zum Gnadenthron, zum Vaterherzen Gottes. Nichts, im Himmel und auf Erden, verschafft dir diesen Zugang, als das Blut Jesu Christi Hebräer 10,19. Deine Sünden scheiden sich von deinem Gott. Jesus Christus der Gekreuzigte hat dich mit Gott versöhnt 2. Korinth. 5,19; er hat durch sein heiliges Opfer am Kreuz den Fluch deiner Sünde getilgt, und deine Schuld bezahlt. Von dem Augenblick an, in dem du glaubst: es ist nichts mehr zwischen mir und meinem Gott, ich bin durch Christum völlig und ewig mit ihm versöhnt, er hat ein Vaterherz zu mir, lernst du von Herzen und kindlich beten. Auf Golgatha bekommst du Kindeszunge und Kindesherz. Säume nicht und lerne dort Vater sagen. Hast du durch deinen gekreuzigten Heiland gelernt, mit gläubigem Herzen Abba zu sagen, so sei recht einfältig; je einfältiger und kindlicher du betest, desto wohlgefälliger bist du deinem Vater. Fliehe Alles, was gegen die Einfalt im Gebet ist. Alles Gesuchte, alles Künstliche muss vom Gebet ferne gehalten werden, es ist nicht aus dem Geiste Gottes, es ist Fleisch. Redest du allein mit deinem Gott, und dein Herz treibt dich, in deiner Mundart mit Gott zu reden, statt in Hochdeutsch, so rede doch ja in deiner Mundart, sie gilt für Hochdeutsch im oberen Heiligtum. Lerne Alles mit deinem Gott durchzusprechen; er versteht Alles und weiß wohl, dass du im Kleinen, wie im Großen, im Leiblichen und im Geistlichen von ihm abhängig bist. Lass das Gebet am frühen Morgen das Erste und am Abend das Letzte sein. Wache während des Tages, dass nichts zwischen dich und deinen Gott komme, damit du jeden Augenblick innerlich mit deinem Gott verkehren kannst, und nichts dir den Zugang zu ihm verschließe. Sollte während des Tages dein Gewissen befleckt werden, so warte nicht bis am Abend, sondern seufze innerlich sofort, und bitte um Vergebung und Reinigung. Bete im Glauben. Ein Kind hat Vertrauen zu seinem Vater, und so hat ein Kind Gottes ein herzliches Vertrauen zu seinem himmlischen Vater, dessen Gnade, Liebe und Treue unendlich ist. Vergiss in deinen Gebeten das Danken und die Fürbitte nicht. Mache dir keine Unruhe über die Frage: soll ich zum Vater und zum Sohne beten? Die ganze Kirche tut Beides; mache es in Einfalt auch so, aber hüte dich vor dem Irrtum zu meinen, der Heiland habe mehr Herz für dich als der Vater. Vater und Sohn haben dasselbe Herz für dich, ein Herz voll Liebe. Lerne betend leben und betend arbeiten; je mehr du das lernst, desto klarer wirst du über die Frage: soll ich gedruckte Gebete lesen, oder aus dem Herzen beten? Wer betend lebt und betend arbeitet, ist nicht mehr an gedruckte Gebete gebunden, er geht ohne Krücken.