Er sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, und verachteten die andern, ein solch Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel zu beten, einer ein Pharisäer, der andre ein Zöllner. Der Pharisäer stund und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner; ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, das ich habe. Und der Zöllner stund von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden; und wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden.
Lukas 18,9-14.
Das zeigt uns unser heutiger Text, und indem wir ihm zuhören und sinnen über seine Weise und über sein Wort, werden wir alle manches Licht und manche Kraft bekommen, wie mannigfaltig und mannigfach auch unsere Bedürfnisse seien.
Er, der das lebendige Wort des Vaters, der Abglanz seiner Herrlichkeit, die Verwirklichung und Verkörperung der Gedanken Gottes ist, er redet niemals nur, er tut, was er redet, ja er ist, was er spricht. Er predigt Demut, aber indem er sich anschickt, sie zu predigen, übt er sie und stellt sie dar: Ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich sein, er entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an und ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. So war also sein bloßes Dasein unter den Menschen ein Akt, nein ein Leben, ein fortwährender Stand und Zustand tiefster Erniedrigung.
Aber auch in dieser seiner Erniedrigung trat aus seinem ganzen Wesen eine Hoheit hervor, der jeder, welcher länger mit ihm umging, abspüren mußte: dieser Jesus ist etwas ganz anderes als wir, sein Denken, Reden, Tun und Sein ist so unablässig und so eng mit Gott verknüpft, ist so los und unbefleckt vom Irdischen. Er ist nicht wie wir gebunden an die Erde, er stammt nicht von der Erde, sondern von oben her. Und wenn allen dies unbewußt gewesen wäre, wenn keiner seine eigene Niedrigkeit und Jesu Höhe geahnt hätte, so war es doch um so stärker dem bewußt, der auch als Menschensohn noch der ist, der „im Himmel ist“. Und obwohl ihm diese seine Höhe bewußt war, hat er doch sich allezeit als den bewiesen, der von Herzen demütig ist, nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene. So sehen wir ihn auch jetzt in seiner Heilandsschöne am Dienen. Er war durch Samaria und Galiläa gereist und hatte Samaritern und Galiläern gedient, er hatte sich noch immer nicht ermüden lassen, die Pharisäer so gut wie seine Jünger zu warnen und zu unterweisen. Kranke hatte er geheilt, Irrtümer berichtigt, zum Wachen gemahnt und dann von der Macht unablässigen Gebets geredet. Da wird er andere Leute gewahr, die wieder andere Mängel haben, und so redet er auch zu ihnen; nachher bringt man ihm Kindlein, er segnet sie, dann kommt ein Oberster des Volks, den wir unter dem Namen des reichen Jünglings kennen, und alsbald wendet sein ganzes Herz voll Heilandsliebe und Gottesernst sich jenem zu, um ihn von seinen Gütern weg in seines Heilands Nachfolge zu bringen. Er macht nicht viele Worte über seinen Dienst, er hat nicht Genüge und nicht Wohlgefallen an sich selber; wie muß nun er, der unermüdliche Knecht aller, der doch das Anrecht auf den Namen des Meisters und Herrn, ja auf den Königs- und Gottesnamen hat, wie muß er es peinlich, abstoßend empfinden, wenn er da nun in seiner Umgebung einige Hoffärtige sieht, die sich selbst vertrauten, gerecht zu sein! Soll er sie nicht mit einem niederschmetternden Königsblick von sich weisen? O nein, er tut es nicht. Schlicht und für den, der es vernimmt, doch so herzergreifend und anschaulich erzählt uns Lukas: Er sprach auch zu etlichen, die auf sich selbst vertrauten. O dieses köstliche “auch“, auch zu Hochmütigen und Selbstgerechten sprach er. Man erzählt eine liebliche Geschichte aus der Jugendzeit unseres Kaisers. Er hatte als Knabe sich mit seinem Bruder Heinrich einmal in der Nähe von Berlin aus einer Anzahl Bürgersöhnen ein kleines Regiment Soldaten zusammengestellt. Da bemerkte er einen Jungen in dürftiger Kleidung, dessen sehnsüchtige Blicke das Verlangen mitzuspielen verrieten. Freundlich reihte der Prinz ihn unter seine Soldaten ein, aber siehe, die hochmütigen Bürgersöhne dünkten sich besser als der arme Junge und gaben das unzweideutig zu verstehen. Da befiehlt der Kaiser seinem Bruder Heinrich, den Degen einzustecken, steckt den seinigen ein, heißt den armen Jungen mitkommen und läßt die hochmütigen Bürgersöhne stehen mit der Erklärung, daß, wenn sie nicht mit diesem armen Jungen spielen wollten, dann wolle er und sein Bruder auch nicht mehr mit den Bürgersöhnen spielen. Das war menschlich schön gedacht und geredet; aber wieviel schöner noch ist es, von Jesu zu lesen: Er sprach „auch“ mit etlichen, usw. Ja, mit wem hätte Jesus nicht geredet! Der Landpfleger und der Hohepriester, Pharisäer und Sadducäer, Samariter und Judäer, Galiläer und Syrophönizier, der Schächer und die Ehebrecherin, Nikodemus und Nathanael, die Sünderin und die Zöllner, die Aussätzigen und der römische Hauptmann, er sprach auch zu ihnen, wie viel es ihn kosten mochte, wie tief sie unter ihm standen. Er bückte sich nieder zu ihnen und hatte ein Wort für sie, um sie durch seine demütige Liebe hineinzuziehen in den seligen Stand derer, denen Gott Gnade gibt, bei denen er wohnt und die er erhöht. Er hatte für alle ein Wort, sollte er für dich keins haben? Er hatte für alle ein Wort, solltest du für irgend jemanden keins haben?
Und wie sprach er nun mit jenen hochmütigen Selbstgerechten? “Er sagte ihnen ein Gleichnis.“ Er hätte ihnen ein Wort sagen können, daß sie in ihrer Häßlichkeit und Verblendung vor aller Augen entlarvt hätte, aber er tat es nicht. Nicht ums Richten, nicht ums Bloßstellen nur war es dem Herrn zu tun, sondern der Heiland will heilen. Darum reißt er nicht rücksichtslos die Wunde auf, sondern mild und sanft sucht er die Leute zur Selbsterkenntnis zu bringen. Sie sollen selber urteilen, selber ihre Schuld erkennen und bekennen; das war Gottes Art von Anfang an bei Adam wie bei Kain, bei Israel zu Bochim wie bei Saul. Wie dort Nathan dem David eine Geschichte erzählte, so erzählt der Herr hier jenen Selbstgerechten dieses Gleichnis, an dem auch wir alle uns prüfen mögen. Jene Leute hätten vielleicht nichts als eine Beleidigung darin gesehen, wenn der Herr sie als solche bezeichnet hätte, die hoffärtig seien; aber indem er ihnen nicht einmal im Spiegel ihre Krankheit zeigt, sondern an irgend einem anderen Kranken, macht er es ihnen so leicht als möglich, zunächst diese Sünde an sich zu erkennen; später mochten sie dann an ihnen selber die Symptome derselben Krankheit erkennen und auf dem ihnen vom Herrn gewiesenen Weg Heilung suchen.
Dieses Vorgehen des Herrn nötigt uns unsere Bewunderung für seine zarte Liebe ab. Es treibt uns, in uns zu gehen und uns zu fragen, ob wir nichts von den Zügen des Pharisäers und alles von den Zügen des Zöllners in uns entdecken und uns zu prüfen, ob wir mit ebenso umsichtiger und vorsichtiger Liebe bemüht sind, den Splitter aus des Bruders Auge zu ziehen, nachdem wir uns vergewissert haben, daß kein Balken in unserem eigenen Auge ist.
Wir lernen von ihm, für den jene Selbstgerechtigkeit in ihrer ganzen Nichtigkeit dastand, niemand „für nichts achten,“ sondern in vielseitiger Liebe auch zu denen und auch zu jenen, die uns heillos scheinen, zu reden. Denn sich selber für gerecht und die andern für nichts achten ist ein schneidender, dem Geiste Jesu fremder Gegensatz.
Und wenn wir schon inne geworden wären, daß wir noch Selbstgerechtigkeit an uns haben, oder wenn irgendein anderer Schaden, irgendeine andere Sünde, die in Gottes Augen eben ein Greuel ist, sie heiße wie sie wolle, uns drückt bis zur Schwermut und Hoffnungslosigkeit, o so fassen wir doch Mut im Gedanken daran, daß jeder unserer Mängel und Schwächen den entsprechenden Reichtum, die entsprechende Kraft in Jesu weckt, wie eben der Hochmut jener die demütige Liebe des Heilandes anspornte, sich zu entfalten. – Sind wir aber selber von Leuten umgeben, die den in Rede stehenden oder irgendeinen anderen Fehler an sich haben, so dürfen sie, die Jesu Sinn haben, getrost erwarten, daß wie ihr Herr für jede Krankheit die entsprechende Arznei sofort zur Stelle hatte, wie er vom Vater für jeden Menschen, jeden Augenblick, jedes schwierige Verhältnis das bekam, was er bedurfte, daß so auch wir, seine Jünger, zur Stunde das Wort empfangen werden, das wir reden sollen (nicht das, das wir reden möchten und das, welches die Leute zu hören erwarten und wünschen) und daß er in uns das Vollbringen dessen wirkt, was getan werden muß.
Gehen wir nun vom Allgemeinen zum Besonderen und betrachten das Gleichnis Jesu. Der Herr erzählt uns von zwei Menschen, die, Glieder eines Volkes, beide hinaufgingen zu demselben Tempel, mit dem gleichen Zweck, nämlich um zu beten. Während der Zöllner von keinem anderen Menschen redet, der Pharisäer von den übrigen Menschen nur, um seine Verschiedenheit von ihnen hervorzuheben, redet der Heiland, der diese Verschiedenheit wohl sieht (und noch eine andere Verschiedenheit dazu), zunächst von dem ihnen gemeinsamen. Er, der sich so gerne des Menschen Sohn nannte, er hat immer den ins Ebenbild Gottes geschaffenen Menschen gesehen, selbst im Verworfensten und Verkehrtesten, der ihm begegnete, und so lehrt er auch uns ein gleiches.
Wieviel gerechter werden wir gegen unsere Mitmenschen sein, wieviel leichter den Weg zu ihren Herzen finden, wenn wir sie als Mitmenschen betrachten und behandeln und ihnen jede mögliche Gleichberechtigung einräumen; wenn wir bei ihnen zunächst alles gemeinsame aufsuchen, ehe wir das Verschiedene und Scheidende hervorheben. Haben wir uns nicht schon gestraft fühlen müssen, wenn wir bei dem und jenem nicht einmal voraussetzten, daß er auch hinaufgehe zur Stätte, wo Gottes Name gepriesen wird, ja daß er sogar „hinaufgehe, um zu beten?“ Die Stimmen der Raben, die zu ihm schreien, die Stimmen von Menschen und Vieh, die Gott anrufen, kommen vor Gottes Thron zusammen, wie einst von Gottes Thron aus das Wort erscholl und der Odem ausging, der sie alle zur lebendigen Seele machte. Wenn wir uns dies vergegenwärtigen und uns daran erinnern, daß auch der Heiland der ganzen Welt Sünde trug, daß der Geist Gottes an der ganzen Welt arbeitet, wie die Liebe Gottes die ganze Welt umfängt, dann haben wir, abgesehen von allem anderen, des Gemeinsamen so viel, das uns mit anderen Menschen verbindet, daß wir nicht so hastig sein werden, das Tuch zwischen ihnen und uns zu zerschneiden und die Bande zu verachten oder zu vergessen, die uns verbinden.
Und wie wird es uns erst zur heiligen Pflicht, alle die mit brüderlicher Liebe zu umfassen, die durch einen Geist zu einem Leib mit uns getauft sind! Immer neu, und so auch hier wieder, wollen wir es lernen, alles Gemeinsame und Verbindende aufzusuchen, anzuerkennen und zu pflegen, denn ein Trennen, wie es beim Pharisäer zutage tritt, ist Feindeswerk.
Aber wenn wir das Gemeinsame anerkannt und beachtet haben, dann wollen wir dem Herrn auch weiter folgen und die Verschiedenheiten ins Auge fassen. “Pharisäer“ und „Zöllner“, welche großen Gegensätze schon an sich! Die einen vom Volke geachtet und geehrt als Vorbilder der Frömmigkeit, als Wahrer der altehrwürdigen Gottesgesetze, als eifrige Verfechter der Reinheit und Unabhängigkeit Israels, als die Feinde der verhaßten Römer und als solche, die immer wieder das baldige Kommen des verheißenen Messias und seines Weltreiches ankündigten; die anderen aber, obwohl Juden, doch im Dienste der römischen Machthaber stehend, die Vollstrecker ihrer Zollgesetze, die vor Betrug und Ueberforderung nicht zurückscheuten, um möglichst viel Geld über die Summe hinaus zu bekommen, die sie als Pacht für das Recht, die Steuern an ihrem Ort zu erheben, hatten zahlen müssen.
Wir können ihn uns denken, den Pharisäer mit den langen Haarlocken, die ihm rechts und links an den Schläfen herunterhingen, den Gebetsriemen um die Hand geschlungen, das breitgesäumte Kleid mit den langen Quasten sorgfältig zusammennehmend, um sich nicht zu verunreinigen, hie und da ein Almosen austeilend, würdevoll einen Gruß erwidernd, so schreitet er hinaus zum Tempel, vorbei an den Wächtern, die ihn alle gut kennen, weil er so oft kommt, und im Gehen überdenkt er gewissenhaft nochmals, ob er auch von dem Kümmel, den ihm sein Garten getragen, von den Kräutern, die dort wuschen, nicht vergessen hat, den Zehnten zu geben. Vielleicht ist heute gar ein Fasttag und er hat keinen Grund, es zu verbergen, daß er etwas angegriffen ist von der Arbeit des Tages, die er, ohne nennenswerte Nahrung zu sich zu nehmen, vollbracht hat. Er ist müde und matt, er ist nicht so wohlhabend wie sein sadduzäischer Nachbar oder wie der Zollamtsvorsteher, aber dafür hat er das erhebende Bewußtsein, alle Aufsätze der Aeltesten genau erfüllt zu haben, und wenn der Messias kommt, dann wird er mit unter denen sein, die die Heiden richten, und reicher Segen wird ihn für alle Zeit- und Geldverluste, die Gottesdienste und Waschungen, Opfer und Almosen ihm brachten, entschädigen. Wir nehmen an, er ist einer von den besten, er ist im Geheimen ebenso gewissenhaft wie öffentlich. Wie so ganz anders verläuft da sein Leben als das der meisten seiner Volksgenossen, und mit welcher Befriedigung darf er sich im Blick auf Moses Gesetz sagen: „Das habe ich alles gehalten von Jugend auf.“ Das Bewußtsein, seine Pflicht erfüllt zu haben und ein rechter Repräsentant Israels zu sein, berechtigt ihn auch dazu, da zu stehen, wo jedermann ihn sehen und sich ein Beispiel an ihm nehmen kann. Das ist ja nun eine geringe Entschädigung für das viele, das er sich versagen muß.
Und nun der Zöllner. Er kennt auch Jehovas Gesetz, denn er gehört zu Jehovas Volk, aber ach, dieses Gesetz, er hat es nicht erfüllt, er hat in seinem Innern ein ganz anderes Gesetz entdeckt, das dem Gesetze Jehovas widerspricht, und er muß gestehen, daß er dem Gesetz in seinen Gliedern nur zu oft zu leicht gefolgt; er hat sich manches vorgenommen zu tun und zu lassen, ab und zu ist es ihm gelungen, aber wenn er ehrlich sein will, muß er sagen, es fehlt ihm etwas im Innersten seines Wesens, er spürt das steinerne Herz, von dem Jehova geredet hat durch seinen Knecht Hesekiel. Er spürt, daß er Jehovas Namen entheiligt hat, er hat gelebt von Jehovas Güte, der ihn bewahrt und erhalten hat bis jetzt, aber wie hat er ihm gedankt und ihn verherrlicht? Je mehr er Jehovas Taten an ihm und an seinem Volk mit dem vergleicht, was er, der Zöllner, getan hat, desto zerrissener wird sein Herz. Der Pharisäer, der vor ihm geht, die anderen, die ihm begegnen und spöttisch oder finster auf den Zöllner blicken, der auch in den Tempel will, sie sind alle Ankläger gegen ihn; aber hat Jehova nicht verheißen ein neues Herz, hat er nicht verheißen, rein Wasser zu sprengen auf den Unreinen und sie um seinetwillen von all ihren Missetaten zu reinigen, gibt es nicht Opfer, gibt es nicht einen Versöhnungstag, an dem der Hohepriester ins Heiligste geht und ganz Israel versöhnt, trägt nicht der Sündbock des ganzen Volkes Sünde hinaus in die Wüste auf Nimmerwiedersehen und hat nicht Jehova durch seinen Knecht Sacharja einen freien und offenen Born wider alle Sünde verheißen? So darf auch er noch zu hoffen wagen auf Reinigung und Gnade von seinem Gott, dem er, wenn er könnte, doch dienen möchte, der doch auch sein Gott ist, das Höchste und Beste, an was er denken kann. Aber all das Unrecht, das auf seinem Gewissen lastet, das der Pharisäer da vorne mit Abscheu von sich gewiesen hätte, das läßt ihn nicht freudig aufblicken, das läßt ihn nur von Ferne stehen und sein Gebet lispeln.
So sind sie in der Tat verschieden, die zwei; verschieden, wenn man ihre Lebensstellung und Lebensführung vergleicht, verschieden, wenn man ihre Herzensstellung betrachtet. Der eine hat sich nichts vorzuwerfen und kein Mensch kann ihm etwas nachsagen, aber der andere muß sich von seinem eigenen Gewissen und von anderen Leuten so mancher offenbaren Sünde anklagen lassen. Klar und wahr hat sie so der Heiland gezeichnet und beurteilt, indem er uns die Gebete der beiden erzählt.
Es ist ein sehr bemerkenswerter Umstand, daß der Herr die beiden durch ihre Gebete charakterisiert! Nicht wie sie sich im öffentlichen Leben oder daheim geben, nicht die Sünden des einen und des anderen werden aufgedeckt, nicht nach einzelnen Aeußerlichkeiten, sondern aus ihren Worten werden sie beurteilt. Und zwar nach den Worten, die sie vor Gott reden, zu Gott reden.
Wie gerecht ist das vom Herrn, wie heilig, wahr und liebevoll! Kann der natürliche Mensch oft in seiner Schwachheit nicht handeln, wie es ihm um das Herz ist, so kann er doch in schwachen Worten das Leid und das Sehnen und den Dank seiner Seele aussprechen. Kann er vor Menschen nicht die rechten Worte finden oder nimmt er sich da in acht, - im Gebet offenbart er sich wie er ist; ist er kalt, betet er kalt, und wenn’s die schönsten und richtigsten Worte wären; ist er bedrückt im Gebet, schüttet er das lang verhaltene und nirgends eingestandene Elend aus und ist, was er ist, und sagt, was er sein möchte. Seinem Gott darf er das sagen; Menschen möchten lachen und nicht glauben, Gott kennt sein Herz.
So war es auch hier. Aus der Fülle des Herzens redete der Mund beim Pharisäer sowohl wie beim Zöllner. “Gott, ich danke dir,“ hebt der Fromme an; ein musterhafter Anfang für ein Gebet, und wir wollen es gerne von ihm lernen, daß es sich wohl ziemt, zu allererst dem Herrn zu danken für das, was er an uns getan. Ich danke dir, daß ich nicht bin wie andere Leute. Auch dieses Wort enthält etwas Wahres; wenn wir irgend etwas Gutes getan und irgend etwas Schlimmes gelassen haben, so haben wir das sicherlich Gottes Gnade zu danken. Aber ach, man kann mit Gott und Dank anfangen, man kann ganz korrekt Gott preisen für das, was man ist und tut und im Grunde des Herzens meint man nur sich. Denn je länger man dem Pharisäer zuhört, desto mehr wird man inne, wie er nicht von Gottes Güte erfüllt ist, sondern von der eigenen, wie er für Gottes Werke und Verheißungen, für Gottes Heiligkeit und Liebe keinen Sinn und keinen Dank hat; wie sein Leben sich eben nicht um seinen Gott und dessen Gnade dreht, wie er nicht merkt, daß sein Herz fern ist von Gott und fern von seinen Brüdern. Es ist ganz recht, wenn man Stoff zu Dank und Fürbitte sammelt, wo man geht und steht, aber die Art von Dank ist es wahrhaftig nicht, die kein Leidtragen um des Bruders Elend, sondern nur ein Verurteilen seiner Sünde kennt. Wie haben ein Daniel, Esra und Nehemia sich gebeugt vor dem Herrn über ihrer Väter und Brüder Sünde, so tadellos sie selber wandelten; wie haben ein Zacharias, eine Maria, ein Simeon das Bedürfnis gehabt, daß der „Trost“ Israels kommen möchte, der sein Volk errettet von ihren Sünden, obgleich ihnen persönlich die Schrift das Zeugnis eines unsträflichen Wandels gibt. Aber von alledem empfand er nichts, denn sein Herz war liebearm, arm an Liebe zu seinem Gott, arm an Liebe zu seinem Bruder. Wenn er wirklich erkannt hätte, daß er es nur Gott zu danken habe, daß er vor all den Sünden bewahrt blieb, so hätte er für sich und andere Gnade erfleht mit gebeugtem Herzen. Wo aber ein ungebeugtes Herz ist, da mangelt auch die Liebe, da wohnt aber auch Gott nicht.