Das Wort „erleuchten“ bedeutet: etwas ins Licht setzen, was verborgen ist. Meist wird in der Schrift dafür das sinnverwandte Wort gebraucht: „offenbaren“ = etwas enthüllen, was aus sich der Mensch nicht weiß. Schon „ins Innere der Natur dringt kein geschaffener Geist“; viel weniger aber in die Tiefen des Menschen und in die Tiefen der Ratschlüsse Gottes zu des Menschen Heil. Wie ein Blinder ist der natürliche Mensch in undurchdringliche Nacht getaucht, um und um umgibt sie ihn; er weiß nicht, woher er kommt und wohin er geht.
Am ersten Schöpfungstage sprach Gott: Es werde Licht! (1. Mose 1,3.) Denn „die Erde war wüste und leer, und es war finster auf der Tiefe“ (Vers 2). Als nun die Lichtwellen herniederfluteten, bot sich dar ein Bild grauser Zerstörung und Verwüstung. Was vorher bedeckt mit Nacht und Grauen, trat zutage mit all seinen Schauern und Schrecken. Ans Licht mußte es kommen und offengelegt werden, was Tod und Verderben angerichtet. Des Lichtes Anfang sollte indes der Auftakt sein zur Erneuerung der Erde im Schmucke des Lebens. Das war der Schöpferwille des Gottes, der ins Dasein rufen kann, was nicht ist, daß es sei.
Weit größer als jene Verwüstung, in welcher der erste Schöpfungstag die Erde fand, ist diejenige des Menschen durch seinen Fall. Kann jemand ohne Erschütterung das Bild anschauen, das der Apostel Römer 1,21-32 vom Menschen zeichnet? In 23 verschiedene Farben hat er seinen Pinsel getaucht, und sie sind gar noch abgeblaßt. Fast schauerlicher noch ist, was er Kapitel 3,9-18 vom Menschen sagt, ein Wesen, das untermenschlich, dämonisch, satanisch ist. Schon Jeremia ruft aus: „Wer kann das Herz ergründen?“ Die Antwort lautet: „Ich, der Herr, kann das Herz ergründen“ (Kapitel 17,10); niemand schaut die Tiefen und Abgründe des Menschenherzens, als Gott allein. Ist Gott aber darob verzweifelt, an die Erneuerung des Menschen heranzugehen? Nur eine noch größere Tiefe des Erbarmens, so wie sie in Gott ist, konnte sich an diese schier unmögliche Aufgabe heranwagen.
Auch aller Anfang der Neuschaffung des Menschen beginnt mit dem gleichen Schöpferwort am ersten Tage: „Es werde Licht!“ Es ist aber das unerschaffene Licht, unmittelbar ausgehend aus dem Wesen Gottes selber, das hier helfen kann. Diese Arbeit ist dem Heiligen Geist, dem göttlichen Werkmeister zugefallen, und er ist ihr gewachsen.
Die Erleuchtung des Heiligen Geistes hat mit verstandesmäßigem Verstehen nichts zu tun. Das Verstandes- und Begriffsvermögen ist eine herrliche Gottesgabe; aber es wird bei jener göttlichen Erleuchtung gar außer Tätigkeit gesetzt. Diese Erleuchtung ist nicht „reflexives“ (abgeleitetes) Denken, sondern „intuitives“ (unmittelbares) Schauen. Man sieht alles in hellem, göttlichem Licht; es enthüllen sich Geheimnisse, die „kein Verstand der Verständigen“ geahnt; es werden Dinge bloßgelegt und offenbart, gegen die sich die gepriesene Vernunft gar wehrt. Dazu mit der Kraft einer Ueberzeugung, gegen die kein Einspruch möglich ist, die alle Vernunft mit ihrer „kritischen“ Einstellung gefangennimmt und vergewaltigt - eine Ueberzeugung, die mit gewaltigem Ruck dem Wollen und Streben des Menschen eine neue Richtung gibt.
Die Erleuchtung bewirkt Aenderung des Sinnes (Buße). Diese setzt mit jener ein; sie ist mit ihr da - mit ihrem Todesschrecken. Denn es geht hier dem Menschen ans Leben. Die Erleuchtung in Sinnesänderung ist Gottesgericht, das hier vorweggenommen wird, um es hinter sich zu haben. Alte, verjährte Sünden stehen auf und werden Wirklichkeit. Sie erheben ihr Haupt und schlagen den Schuldigen zu Tode. Kein Atem bleibt in ihm; es vergehen ihm die Sinne. Aengste des Gewissens machen ihn zittern; es ist eine Höllenfahrt. Man erlebt es mit Beben, was Sünde ist vor dem dreimal heiligen Gott. Die Erleuchtung geht wie ein Blitz durch eine bisher verdeckte Vergangenheit und bringt zutage, was vergessen war. Da hilft kein Beschönigen, kein Entschuldigen. Man schreit auf: „Ich bin ein verdammenswerter Mensch, nach allem Recht schuldig, verloren! Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Dabei ist nichts Gemachtes, Gottes Licht fällt in die Seele; man zuckt zusammen. Und noch ist es wenig, was man von seinem Verderben schaut; aber wie man es sieht, so sah man es nie. Glückliche Stunde, denn sie gehört der Ewigkeit an, und eine ewige Entscheidung hat angehoben! Besser hier geheult, als einst zu spät! Erleuchtung wird immer zum Erlebnis.
Nicht anders die Erleuchtung, die die Gnade Gottes ins Licht setzt. „Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervorleuchten, hat gegeben einen hellen Schein in unsere Herzen“ (2. Korinther 4,6), und die Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi leuchtet hell hinein in Menschenherzen. Es ist ein anderes Leuchten, als das schreckende von Sinai; es ist das milde und doch glanzvolle Aufleuchten einer Gnade, die auf ihren Strahlen Leben und Frieden in die Seele trägt. Es geht dabei, wie Johannes bekennt: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Johannes 1,14). Auch Erleuchtung von Christus her ist Erleben, und was man erlebt, darauf kann man schwören. Wie Schuppen fällt es von den Augen: Jesus, mein Heiland! Es jubelt das Herz in ureigenem Drang; es ist nichts Gemachtes. Wer kann eine Quelle aufhalten, die, einmal aufgeschlossen, mit Allgewalt hervorbricht? Jesus sagt: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“ (Matthäus 12,34).
Erleuchtung ist Enthüllung, darum ist Gottes- und Christuserkenntnis nicht Wissenschaft, sondern Offenbarung. In diesem Sinne redet die Schrift auch vom Evangelium als einem Geheimnis („Mysterium“, 1. Korinther 4,1; Epheser 6,19; Kolosser 1,27; 2,2; 4,3; 1. Timotheus 3,16). Die Engel gelüstet es, in dies Geheimnis zu schauen; aber uns ist es verkündigt durch den Heiligen Geist, vom Himmel gesandt (1. Petrus 1,12) - ein Vorzug, den wir vor den Engeln haben. Durch die Erleuchtung sind wir Eingeweihte Gottes, eingeführt in seine ewigen Ratschlüsse; wir schauen hinein in Gottes Herz und Erbarmen und spüren den Pulsschlag seiner Liebe.
Es heißt 1. Korinther 2,14: „Der natürliche (seelische) Mensch vernimmt nichts von den Dingen des Geistes Gottes“. Damit ist es begründet, daß sie nur durch Erleuchtung von oben her geschaut werden können. Dies zeigt der Apostel in schlüssiger Gedankenfolge. Er sagt, daß nur dem eigenen Geist die eigene Innenwelt offenliegt, diese dagegen einem anderen Menschen verschlossen ist; daraus leitet er ab, daß ebenso nur der Geist Gottes weiß, was in Gott ist. „Kein Auge hat es gesehen und kein Ohr hat es gehört, uns aber hat es Gott geoffenbart; denn der Geist erforschet alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit“ (Vers 10). Wie der menschliche Geist der Träger des menschlichen Bewußtseins ist, so der Heilige Geist des göttlichen Bewußtseins. Deshalb wissen wir auch, was uns von Gott „gegeben“ ist (Vers 12). Kaum eine andere Stelle stellt so wie diese die Erleuchtung in eine Reihe mit „Empfangen“. Es kann dies auch nicht anders sein; denn im Reiche des Geistes waltet das Gesetz der Durchdringung. „Der Herr ist der Geist…, und wir werden verklärt von einer Klarheit zur andern als vom Herrn, der der Geist ist“(2. Kor. 3,17.18). Erleuchtung ist Erneuerung in Christi Bild; gerade so, wie der Photograph durch das Licht ein Lichtbild von dem Gegenstand schaffen läßt, das er dem Licht darbietet. Licht schafft Lichtesmenschen; man bleibt unter seiner Einwirkung nicht, wie man ist. „Glaubet an das Licht, auf daß ihr des Lichtes Kinder seid“ (Johannes 12,36); „glauben“ heißt hier: den verklärenden, heiligenden Wirkungen des Lichtes Raum geben. Gezeugt von dem Licht, sind wir „Kinder des Lichtes“ (1. Thessalonicher 5,5).
Es gibt überhaupt keine Geisteswirkungen, die nicht auch „ethisch“ (sittlich) bestimmt sind. Die Erleuchtung göttlicher Wahrheit hat befreiende Kraft gegenüber der Lüge, die im Bunde mit dem Fleisch steht. Die Sünde lebt von der Lüge, die in ihrer betörenden und verführenden Macht der Sünde Nahrung gibt und sie kräftigt; der Bann der Sünde wird aber durch das Licht zerstört und ihrer verstrickenden Kraft entkleidet. Im Lichte der Gottes- und Christuserkenntnis muß der Mensch genesen, gerade so, wie unter dem Strahl der Sonne keine Krankheitskeime aufkommen, sie vielmehr getötet werden.
Deshalb betet der Apostel Epheser 1,17.18 für die Leser, daß Gott ihnen gebe „den Geist der Weisheit und Offenbarung zu seiner selbst Erkenntnis und erleuchtete Augen des Verständnisses“, damit ihnen die Hoheit und Größe des Christus aufgehe. Ja, nach Kapitel 3,14 f. zielt das Gebet um Kräftigung am inwendigen Menschen durch den Geist letztlich darauf ab, daß die Leser dazu gelangen, mit allen Heiligen die Breite und Länge, Tiefe und Höhe der alle Erkenntnis übertreffenden Liebe des Christus zu erkennen, in dem ihnen die ganze Gottesfülle zu eigen wird (vergleiche Epheser 3,19; 4,13).
Die Wechselwirkung von Erleuchtung und geheiligtem Wandel bestätigt sich auch im Erfahrungsleben. Schon Jesus sagt: „Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben“ (Johannes 8,12). Die Geisteserleuchtung wird nur denen zuteil, die bereit sind, sie in alle Herzensfalten hineinzulassen, jede erkannte Sünde abzutun und der Geistesherrschaft Raum zu geben. Geheiligte Menschen sind immer erleuchtete Menschen, und die Erleuchtung schreitet weiter mit dem Gehorsam der Wahrheit. Wenn wir die Dinge ansehen lernen, wie Gott sie ansieht, werden wir befreit von allem Leid. Ursprünglichkeit (Originalität) ist da, wo man schöpft aus dem Quell göttlicher Erleuchtung. Die Erleuchtung mit dem Heiligen Geist ist Anfang und Fortgang aller Lebensneuheit, die abzielt auf ein Tun des Willens Gottes, ihm zu gefallen. „Herr, sie werden im Lichte deines Antlitzes wandeln; sie werden über deinem Namen täglich fröhlich sein und in deiner Gerechtigkeit herrlich sein!“ (Psalm 89,17.)