Wir kennen alle den kleinen Ärger der Martha, als Jesus bei ihr einkehrte, vermutlich von seinen Jüngern begleitet, so daß es zu kochen gab, wobei ihr die Schwester die Arbeit allein überließ. Der Herr antwortete ihr: Maria hat das gute Teil erwählt. Was erwählte sie denn? Was zog sie vor? Sie hörte ihm zu. Ihn zu hören nennt Jesus somit „das gute Teil“. Doch nicht an allen seinen Hörern hat der Herr Freude gehabt. Wer das Wort hört und versteht es nicht, da ist es, wie wenn der Same auf den Weg geworfen wird (Mat. 13,10). Somit sein Wort hören und verstehen, Kenntnis und Verständnis des Wortes Jesu, nicht nur anderer Leute, sondern des Herrn selbst, Schriftverständnis, das ist ein gutes Teil. Es hat ein alter Araber sein Lied, worin er von seinem Streben nach Wissenschaft spricht, mit der Strophe beschlossen:
Nicht ließ ich mich's kränken,
durch Wüsten zu lenken,
um dann mich zu tränken
am Quell statt am Bach.
Das ist ein edler Stolz: „Nicht nur am Bach!“ und ein reines Verlangen: „Zur Quelle hin!“ Dieser Stolz und dieses Verlangen steht auch unserm Christentum trefflich an. Hätten wir doch nur mehr von jenem Sinn: „…um dann mich zu tränken am Quell statt am Bach.“ Quelle ist und bleibt die Schrift. Alle erbauliche Literatur und alle methodischen Lehrbücher und biblischen Kommentare, nicht bloß das Schlechte und Geringe darunter, sondern auch das Beste und Gediegenste, alle Predigt, auch die wärmste, geistvollste, sind nur dem Bache zu vergleichen, ein hübscher Bach, ohne Frage, der trefflich verwertet werden kann. Aber mancher kommt nur bis zu ihm hin und nicht über ihn hinaus, und vergißt, daß es gesund ist, aus der Quelle zu trinken, und daß, wer den Herrn hört, ein gutes Teil erwählt hat. Wir müssen uns immer wieder Weg und Steg bauen über den Bach hinüber zur Quelle hin, d.h. in die Schrift hinein.
Wenn ich meine inneren Erlebnisse überblicke und wohl aufzählen kann: „Jene Predigt hat mich gefaßt und dies Buch einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, und jene Versammlung mich stark bewegt“, und ich komme dann an die Schrift: „Die Bergpredigt, ist sie mir jemals bedeutungsvoll geworden? Nein, - der Römerbrief? Ach! Da weiß ich nicht recht, was darin steht; hell, durchsichtig, wichtig ist er mir nie geworden“ usw. - das ist nicht in der Ordnung. Wenn ich zusammenzähle, was sich von der Schrift mir aufgeschlossen hat in seiner Wahrheit, Fülle und Kraft, und es bleibt bei einem gar kleinen Sümmchen, etwa beim Konfirmationsspruch und sonst noch einigen vereinzelten Sprüchen, die mir besondere Gelegenheiten ins Herz geschrieben haben, nun, dann wollen wir uns sagen: „Um dann mich zu tränken am Quell statt am Bach“, und die Maria hat ein gutes Teil, die Jesu eigenes Wort erfaßt.
Wir kommen allerdings nicht durch jeden, sondern nur durch richtigen Schriftgebrauch in die Bibel hinein. Wer liest aber richtig? … Das richtige Schriftlesen beginnt erst dann, wenn wir an sie mit der Frage herantreten: Was sagst du mir Brauchbares? Was enthältst du für mich? Hast du auch für mich etwas, was ich bedarf? Dann öffnet sich uns die Bibel.
Ohne Arbeit und Anstrengung kommt niemand weder für sich noch für andere in die Bibel hinein. Das Teil, das Maria sich erwählte, war kein träges Müßiggehen. Wir wissen ja, wie Jesus sprach, wie sich ihm in jedes kurze Wort eine Fülle von Wahrheit zusammendrängte. Hier zu hören und zu verstehen war keine geringe Arbeit. Lassen wir uns von unserer Bequemlichkeit leiten, so gehen wir sicherlich nicht zur Quelle, sondern bleiben bei dem erbaulichen Wort der Kirche und anderen Hilfsmitteln stehen, die in Rede und Buch uns reichlich zufließen. Denn hier wird es uns viel leichter, wenigstens etwas von göttlicher Wahrheit zu erfassen, als bei der Schrift. Das Zeugnis der Kirche hat aber in seiner größeren Leichtigkeit und Faßlichkeit nicht nur einen Vorteil, sondern zugleich auch einen großen Nachteil der Schrift gegenüber. Wie die Arbeit, so der Ertrag. Leicht gewonnen und wiederum rasch verloren. Wie oft schüttet die Predigt die köstlichsten Wahrheiten des Evangeliums über uns aus, wir sitzen passiv dabei, hören gern zu, erquicken uns daran, aber unser Eigentum ist es damit noch lange nicht. Sie haben einmal Jesus gefragt: Warum sprichst du so schwer? Niemand versteht dich ja! „Wer da hat, dem wird gegeben!“ antwortete er. Zum Haben will er uns bringen. Eigentum entsteht aber aus Arbeit. Wenn wir die Schwierigkeiten, die die Schrift uns bietet, allmählich überwinden und einen Schatz von Schriftverständnis in uns sammeln, dann erst ist das Evangelium wirklich unsere Habe geworden, ein Besitz, der uns unverlierbar angehört. Erst wenn wir recht gehört haben, können wir recht reden und recht leben.
Um Maria war es Jesus nicht mehr bange. Mit welcher Ruhe blickt er auf sie. „Ihr Teil wird ihr nicht genommen werden!“ Solange unser Zusammenhang mit dem Herrn und dem Evangelium nur erst durch allerlei Zwischenglieder vermittelt ist, wer weiß, was wir da noch für Sprünge machen! Aller menschlichen Predigt und allen Lehrbüchern gegenüber kann sich innere Unlauterkeit behaupten. Aber bei aufmerksamen Schriftgebrauch wird es zu einem „entweder … oder“ kommen. Entweder legt man die Schrift wiederum weg, oder es kommt am nüchternen, heiligen Schriftwort zu jenem Bade innerer Reinigung, wodurch das aufrichtige Herz in uns zustande kommt, dem Gott es gelingen läßt.
Quelle: „Der Einzige“