Schlatter, Adolf - Der Römerbrief - Kap. 4. Die Kindschaft Abrahams.

Nach dem, was uns Paulus soeben gesagt hat, könnte er unmittelbar mit dem Anfang des fünften Kapitels weiterfahren: da wir durch den Glauben gerecht geworden sind, so haben wir Frieden mit Gott. Er hätte uns, nachdem uns die Rechtfertigung in Jesu Tod angeboten und durch den Glauben unser Eigentum geworden ist, sofort anleiten können, zu Gott aufzublicken und unser Verhältnis zu ihm zu betrachten in seiner neuen Gestalt. Er macht aber vorerst Halt und sieht in die Geschichte Israels zurück und zeigt uns, dass Abraham uns zur Seite steht und wir auf Abrahams Wegen wandeln, und dann erst, nachdem er die Stellung der Gemeinde angeschlossen hat an die Grundlage und den Anfang Israels, geht es wieder vorwärts in den Ruhm der Hoffnung hinein.

Die Erklärung des Apostels, dass die Glaubenden die Kinder Abrahams seien, hatte zunächst für die Gemeinde der apostolischen Zeit große Bedeutung und Wichtigkeit. Es standen in der ersten Gemeinde gleichsam zwei Klassen von Christen nebeneinander, glaubende Juden und glaubende Heiden, und das ergab für die letzteren eine beständige Ursache der Verwirrung und Erschütterung. Es hatte zunächst den Anschein, als besäßen die glaubenden Juden eine höhere Art und Stufe des Christentums, weil sie dies vor den glaubenden Heiden voraus hätten, dass sie auch noch Kinder Abrahams seien. Dieser Gedanke, es sei eigentlich doch mehr, ein gläubiger Jude als ein gläubiger Heide zu sein, ging verwirrend durch die Gemeinden und zog ihren Blick von Christus ab auf Dinge, die uns nichts helfen; er erzeugte den Wahn, als gebe es über dem Glauben drüben noch etwas höheres, Gott wohlgefälligeres, als wäre es etwas geringes, an Christus gläubig zu sein, als wäre nicht eben das unsre Gerechtigkeit und unser Leben, dass wir Christo im Glauben verbunden sind. All dieser Verwirrung war der Riegel gestoßen, wenn die heidnischen Gläubigen einsahen: wir haben im Glauben alles, was wir in Selbsttäuschung und Verblendung durch Beschneidung oder irgend ein anderes Mittel erst noch suchen und erwerben wollen; wir sind Abrahams Söhne und Erben und müssen es nicht erst werden, sondern können durch Gesetz und Beschneidung unsre Abrahamskindschaft bloß verlieren; es gibt keine höhere Stellung und Nähe vor Gott als den Glauben an Christus, und alles, was das alte Testament an Verheißung Gottes enthält, ist durch den Glauben an Christus uns zugefallen. War das erkannt, dann war keine Bezauberung der heidnischen Christen mehr möglich wie in Galatien. Das war das lebendige seelsorgerliche Interesse, welches Paulus bewog, im Römer- wie im Galaterbrief mit solcher Ausführlichkeit auf die Frage einzugehen, wer denn eigentlich Sohn Abrahams sei.

Dabei bestimmt ihn aber noch ein anderer Zweck. Paulus sah mit hellem Blick in die große Wandlung der Zeit hinein, welche die Erscheinung Christi herbeigeführt hat. Das Alte ist vergangen, siehe es ist alles neu geworden. Nun aber, lasen wir Kap. 3,21, ist alles anders als unter dem Gesetz. Aber gerade darum hat der Apostel zugleich die Einheit des göttlichen Waltens aufgesucht und hervorgestellt, den einen sich selbst gleich bleibenden göttlichen Gedanken und Rat, der die ganze Geschichte Israels trägt. Und darum war dem Apostel der Blick auf Abraham so wichtig, weil es ihm hier vor allem deutlich wurde, dass der Weg der glaubenden Gemeinde mit dem Wege Israels einstimmig sei und der Anfang und das Ergebnis der göttlichen Offenbarung sich zusammenschließen zu einem einigen Gotteswerk.

Darum hat dieses Kapitel eine bleibende Bedeutung auch für uns. Es ist etwas großes um dieses stetig fortschreitende Gotteswerk innerhalb des Wandels der Geschlechter, um diesen Stammbaum des Glaubens und der Erkenntnis Gottes, um diese Zusammenfassung der Menschen in eine Familie, in der dieselbe Gabe Gottes vom einen zum andern weiterströmt.

Paulus fasst zuerst den Grund ins Auge, auf dem Abrahams besondere Berufung steht: war sie der Lohn seiner Werke, oder das Geschenk der Gnade? Das Kennzeichen, nach dem er diese Frage beantwortet, ist dies: rühmt ihn die Schrift? An diesem Punkt scheiden sich ja der Weg der Werke und derjenige des Glaubens. Wer durch sein Wirken nach dem Gesetz die Gerechtigkeit gewinnt, der hat vor Gott Ruhm; er steht als der Sieger vor ihm, dem Gott den Lorbeerkranz aufs Haupt legen kann, und Gott wäre der letzte, der ihm diesen Ruhm versagte oder schmälerte. Wo aber der Glaube die Gnade anruft und empfängt, da hört der Ruhm auf; denn dann habe nicht ich das Ziel erreicht, sondern Gott hat mich ans Ziel der Gerechtigkeit hin versetzt. Wie stehts nun mit Abraham? Vor Gott hat er keinen Ruhm, denn die Schrift rühmt ihn nicht, sondern sagt, er habe Gott geglaubt, und dies habe ihm Gott angerechnet als Gerechtigkeit. Diese beiden Erklärungen der Schrift nehmen Abraham allen Ruhm. Er glaubte, das will sagen: er sah ein, dass sein eignes Wirken ihm nichts helfe, und er damit nichts ausrichte und gewinne; er legte sich darum in Gottes Hand und erwartete Gottes Werk und Gottes Gabe. Gott rechnete ihm die Gerechtigkeit zu, das heißt: er hatte sie nicht in sich selbst, noch einen Anspruch auf sie, so dass er seine Rechtfertigung hätte fordern können. Nichts nötigte und verpflichtete Gott zu seinem rechtfertigenden Urteil über ihn; nichts trieb ihn dabei als seine eigene Gütigkeit. In Gnaden ließ er sich den Glauben Abrahams wohlgefallen als Gerechtigkeit. Sein Glaube ward ihm zur Gerechtigkeit, das will schließlich sagen: Gott hat in ihm den Gottlosen gerecht gesprochen, und gottlos war er nicht nur einst, als er noch in Mesopotamien in heidnischer Umgebung war, sondern eben damals, als er sich glaubend an Gott wandte, da suchte er den Gott, der den Gottlosen gerecht zu sprechen vermag, weil er eine vergebende und heilende Gnade hat, und er fand ihn auch.

Neben Abraham steht David, der denjenigen selig preist, welchem Gott die Sünde nicht anrechnet, dem er also trotz seiner Sünden die Gerechtigkeit zurechnet. Denn Gottes Gnade lässt es nicht nur dabei bewenden, dass sie unsre Sünde deckt, sondern wenn er sie nicht geltend macht gegen uns, so behandelt er uns auch als gerecht und schenkt uns allen Lohn und alle Güter der Gerechtigkeit. Der Weg zu dieser führt jedoch nach Davids Wort durch die Vergebung unsrer Sünden hindurch.

Aber übersieht nicht Paulus über jener einen Stelle all das viele Rühmliche und Große, was die Schrift von Abraham erzählt? Gewiss nicht! er kennt den Abraham des Gehorsams wohl, der auszog, ohne zu wissen wohin, den Mann des Friedens, der Lot das Beste des Landes überließ, den heldenmütigen Abraham, der seinen Sohn Gott zum Opfer bringen konnte. Aber dadurch wird es nur um so bedeutsamer und wichtiger, dass Abraham da, wo Gottes Verheißung an ihn ergeht, nichts anderes tun kann, als sie glaubend hinzunehmen, dass hier von Werk und Leistung keine Rede ist, sondern nur von dankbarer Beugung und vertrauendem Aufblick zu der Gnade, die ihm gebend entgegenkommt, und dass eben dies sein, Glauben vor Gott als Gerechtigkeit gilt.

Die Weise, wie Abraham selbst in den Besitz der Gerechtigkeit tritt, bestimmt nun weiter den Kreis derer, die von ihm aus die Verheißung empfangen. Der Jude achtet alle die für Abrahams Kinder, welche beschnitten sind. Aber er vergisst dabei, dass Abraham seine Gerechtigkeit nicht seiner Beschneidung, sondern seinem Glauben verdankt. Die Beschneidung empfing er als Siegel der Gerechtigkeit, Vers 11; sie kam erst bestätigend und besiegelnd zu der Gabe Gottes hinzu, die ohne Beschneidung im Glauben sein Eigentum geworden war. Da offenbart sich die Ordnung Gottes, die für alle Zeiten gilt. Auf demselben Wege, wie Abraham zum Vater derer erhoben wird, welche die Verheißung ererben, tritt man in den Besitz derselben und in seine Kindschaft ein. Abraham ward ohne Beschneidung durch Glauben mit der Verheißung begabt, weil Gottes Absicht auf die Heiden zielte, und er diese Abraham als seine Söhne beigeordnet hat ohne Beschneidung durch Glauben allein. Das sind die kühnen Spitzen in der Predigt des Apostels, die er gegen das jüdische Pochen auf die Abrahamskindschaft kehrt. Kein Wunder, dass die Juden mit grimmigem Hasse gegen ihn tobten! Wenn er ihnen sagte: dazu ist Abraham die Beschneidung gegeben, damit die Heiden sein Same seien, Ja, das griff dem jüdischen Stolze tief ins Herz.

Paulus sagt nicht nur: Gott hat Abraham so geführt, damit die Heiden ihm nachfolgen und sein Beispiel nachahmen, sondern er heißt das Verhältnis der glaubenden Heiden zu Abraham eine Kindschaft, und darin liegt allerdings auch die Gleichgestaltung mit dem, der mir Vater ist, das Wandeln in seinen Fußstapfen. Aber „Kindschaft“ sagt offenbar noch mehr; es spricht von einem Lebenszusammenhang. Vater ist mir nicht nur der, der mich lehrt, sondern der, der mich ins Dasein setzt und mir mein Leben gibt. Paulus spricht deshalb von Vater- und Kindschaft zwischen Abraham und den Glaubenden, weil ihm der Glaube nicht ein Selbstgemächte ist, ein Gebilde, das wir in uns nach unserer Willkür hervorbringen. Glaube ist ein Empfangenes, denn er entspringt an dem, dem wir glauben, also an Christus, dem Sohne Abrahams, der Abraham verheißen ward. So reicht auch der Glaube der Heiden durch Christus auf Abraham zurück; und eben der Glaube, und nichts anderes ist es, was sich von Abraham her in die Welt ausbreiten und den folgenden Geschlechtern eingepflanzt werden sollte. Das ist der tiefgegründete Lebenszusammenhang, der den ganzen Gang der Geschichte durchwirkt. Aus Abrahams Glaube kommt Israel, aus Israel Christus, aus Christus der Glaube der Heiden; da ist allerdings Fortpflanzung, nicht des Bluts, wohl aber dessen, was den innersten Bestand des Menschen, des Herzens Saft und Kraft ausmacht und in ihm zum ewigen Leben wird. So fällt also die Zusage Gottes, welche Abraham und seinem Samen die Verheißung gab, durch die Berufung der Heiden nicht dahin, sondern es bleibt dabei, dass niemand als die Söhne Abrahams die Erben des Reichs sind. Nun hat Gott den Kreis der Abrahamskinder weit hinaus erstreckt über diejenigen, welche der jüdische Stolz allein zu den Kindern Abrahams rechnete. Und zwar steht die Weise, wie Gott die Heiden zu Abrahams Söhnen macht, in voller Übereinstimmung mit Abrahams eigner Berufung. So ist auch alles dazwischen liegende als derselben göttlichen Absicht dienend erwiesen: die Gerechtigkeit zu offenbaren aus dem Glauben heraus.

Nun aber fragt der Jude: wo bleiben denn wir? und darum fährt Paulus fort: und auch ein Vater der Beschneidung, Vers 12. Abraham hat nicht nur unter den Heiden Kinder, sondern auch unter den Beschnittenen. Aber nach dem Vorangehenden bedarf dieses Wort noch einer Erläuterung. Die, welche nur aus der Beschneidung sind, gehören nicht zu seinem Samen. Ihre Beschneidung ist eine andre als die Abrahams, weil ihr das fehlt, was sie als Gottes Siegel dem Abraham bekräftigte. Ohne Glauben und ohne dessen Gerechtigkeit ist sie nichtig und leer, und der Jude ist somit nicht deshalb schon Abrahams Sohn, weil er beschnitten ist, sondern muss es erst werden und zwar dadurch, dass er sich von der Beschneidung innerlich löst, indem er sie nicht als seinen Halt und seine Stütze betrachtet, worauf er seinen Ruhm vor Gott gründen will, sondern sich zum Glauben kehrt, gleichwie es Abraham tat.

Vom Verhalten Abrahams und seiner Kinder lenkt nun Paulus den Blick empor auf Gottes Handeln, wie es uns auf den Weg des Glaubens stellt, Vers 13-16. Gott hat Abraham die Verheißung nicht durch ein Gesetz gegeben, nicht begleitet mit einer Forderung, die ihre Bedingung wäre; vielmehr handelt Gott mit ihm schon ebenso, wie er in Christo offenbar wird. Wie Jesus nicht mit einem Gesetz zu uns kommt, sondern als der für uns sterbende und auferstehende, so hat Gott schon Abraham seiner Verheißung als reine freie Zusage erteilt: ich will es tun. Israel bindet sie freilich an das Gesetz, aber es erreicht das Gegenteil von dem, was es erstrebt. Es meint sich die Verheißung damit zu sichern und hebt sie doch vielmehr auf, mitsamt dem Glauben. Denn wenn es am Gesetz hängt, so hängt es an mir, und wenn es an mir hängt, so bekomme ich die Güter der Verheißung nimmermehr. Denn ich stehe mit dem Gesetz in Zwiespalt und werde alsbald zum Übertreter, sowie es mir entgegentritt. So schärft und vollendet sich am Gesetz nur meine Sünde zur Übertretung, zum bewussten Widerstreit gegen Gott, bei dem ich seinen Willen weiß und ihn doch nicht tue. Und die Antwort Gottes auf Übertretung ist nicht Gnade und Gunst, sondern Zorn. Was ich also durch meine Abwendung von der Gnade gewinne, dadurch, dass ich mein Vertrauen an das Gesetz hefte, also auf mich selber stelle, das ist lediglich Zorn; dann widersteht mir Gott und ich verderbe mich. Darum, weil Gott uns nicht Zorn erweisen und nicht verderben will, darum kommt er uns nicht mit einem Gesetz entgegen, sondern hält uns die uns bestimmte Gabe vor und heißt uns glaubend auf ihn sehen, und nur so, dass er sie uns gibt als sein Geschenk, wird sie unverlierbar für uns und fest.

Und nun beschreibt uns Paulus den Glauben Abrahams, um uns zu zeigen, wie er unserm Glauben an Jesus innerlich gleichartig war, Vers 17-25. Gott sprach zu ihm: ich habe dich zum Vater vieler Heiden gesetzt, als er noch keinen Sohn hatte, noch auch auf dem Wege der Natur einen solchen erhalten konnte. Und doch sagt ihm Gott: du bist Vater; ich habe dich dazu gemacht. So war er's, aber nicht vor sich selbst, noch vor den Menschen, sondern nur vor Gott und zwar vor dem Gott, der die Toten lebendig macht und aus dem toten Abraham Völker erstehen lässt, und dem, das nicht ist, ruft und darum von Geschlechtern, die noch nicht bestehen, sprechen kann, als wären sie schon da. Auf diese Schöpfermacht Gottes gründet sich der Vatername, den ihm Gott schenkt. So ist Abraham Vater und er ist es nicht; er ist es nicht in sich selbst und er ists durch Gott, und das gibt seiner Seele eine doppelte Bewegung in die Hoffnungslosigkeit und in die Hoffnung zugleich. Alle Hoffnung erstirbt im Blick auf sich selbst; sich selbst und Sarah muss er für erstorben achten, und dennoch hofft er, weil die Verheißung Gottes ihn hoffen heißt. In dieser Lage kann er nichts anderes als glauben. Er zieht den Blick ab von sich selbst und stimmt dem bei, was Gott von ihm sagt, ohne dass er sich durch seine eigne Ohnmacht in Schwankung setzen lässt. Was ihn bestimmt, ist dies: er gab Gott Ehre. Wie sollte er der Macht Gottes, der Güte Gottes Schranken setzen? Er muss sich als das betrachten, wozu Gott ihn setzt, wenn er Gott als Gott behandeln und sich nicht an seiner Majestät vergreifen will.

Nicht anders gestaltet sich der Glaube nun, da wir an den glauben, der Christum auferweckt hat. Auch wir sind von Gott zu etwas gemacht, was wir in uns selbst nicht sind. Wir sind in die Gerechtigkeit gesetzt und haben sie doch nicht in uns, wir sind ins Leben erhöht und stehen doch im Tode drin. Es wird uns an Christus beides gezeigt, unsre Übertretung und unsre Rechtfertigung, unser Tod und unser Leben. Weil wir Übertreter sind, hat ihn Gott in den Tod dahin gegeben; weil er uns rechtfertigt, hat er ihn auferweckt als den Fürsten des Lebens, der uns in sein Reich erhöht. Was bleibt uns andres übrig, als zu hoffen, wo nichts zu hoffen ist? Nichts hoffen lässt sich von uns selbst, um derer willen Christus sterben muss; hoffen sollen wir, weil Gott uns in ihm als die Gerechten hingestellt hat. Und nun besteht der Glaube darin, dass wir dem, wozu Gott uns macht, beistimmen und das ergreifen mit einem festen, ganzen Ja, und es ohne Schwankung und Zweifel mitten in der täglichen Erfahrung unsrer Sündigkeit und Sterblichkeit festhalten und bewahren: heißt uns Gott gerecht, so sind wir‘s auch; heißt er uns lebendig, so stehen wir im Leben; was Christus hat, das haben wir. Es kann uns nicht mehr gelten, was wir in uns selbst sind, als was wir in Christo sind. Auch wir würden dadurch Gott und sein Werk verunehren. Das ist die Unerlässlichkeit und Notwendigkeit des Glaubens, das Gerechte an ihm, dass er Gott seine Ehre lässt und gibt, indem er seine Gabe hinnimmt mit Dank und Anbetung.