Schlatter, Adolf - Der Römerbrief - Kap. 14, 1-15, 13. Der Friede zwischen den Schwachen und Starken.

Aus dem inneren Leben der Gemeinde bespricht der Apostel einen einzigen Punkt, und es ist lehrreich, welchen er herausgreift: er wehrt dem Zank und spricht zum Frieden. Das ist die Klippe, welche aller christlichen Gemeinschaft immer wieder droht. Vielleicht hatte er dazu einen besonderen Anlass durch die Nachricht, dass es unter den römischen Christen Männer gab, welche der Natur mit scheuer Ängstlichkeit gegenüber standen und sich von ihr so weit als möglich zurückzogen.

Eine Gemeinde hat mancherlei Formen und Stufen der Frömmigkeit in ihrer Mitte, nicht nur Starke, sondern auch Schwache. Diese inneren Unterschiede treten besonders in der Behandlung der natürlichen Dinge ans Licht. Der eine meidet den Genuss von Fleisch und Wein; das alles erscheint ihm schon als fleischliche Lust, die von Gott abführt. Ein anderer bewegt sich in diesen Dingen mit Freiheit und ist alles ohne Bedenken und Zweifel. Ebenso werden auch die gottesdienstlichen Formen und Übungen verschieden. Der eine bedarf bestimmter heiliger Tage und Stunden und hält darum z. B. am Sabbat fest; das Leben erschiene ihm leer und unheilig ohne abgesonderte gottesdienstliche Zeiten. Ein anderer macht zwischen den einzelnen Tagen keinen Unterschied. Nun ist es keineswegs gleichgültig, wie man sich zu diesen Dingen stellt. Denjenigen, der nur Kräuter isst, heißt der Apostel am Glauben schwach, Vers 2; dagegen von dem, der in Bezug auf die Nahrung ohne Sorge und Ängstlichkeit handelt, sagt er, er tut das, weil er glaubt. Die Furcht, die in der Berührung mit den natürlichen Dingen sofort eine Gefahr für unsre Verbindung mit Gott sieht, ist Kleinglaube. Sind wir im Glauben Christo verbunden, so nehmen wir alles, was die Natur enthält, hin als von Gott uns zum Genuss und Gebrauch gegeben, und wissen, dass unsre Heiligkeit einzig und allein darin steht, dass wir uns Christo verbunden halten, bei dem wir Kraft und Sieg zu einer reinen Gestaltung unsers natürlichen Lebens finden. Das gibt uns die freie Bewegung in den natürlichen Dingen, während jene Heiligungsregeln, durch die wir uns diesen oder jenen natürlichen Genuss verbieten, darauf beruhen, dass es unserm Anschluss an Christus an Festigkeit und Stärke fehlt. In ihm hätten und besäßen wir das, was wir mit jenen Heiligungsregeln erst noch suchen und doch nicht erlangen. Ebenso zählt Paulus das Bedürfnis, gewisse Tage vor den andern als heilig auszusondern, zur Schwäche unsers Glaubens. Wir haben noch nicht gelernt, alles, Ruhe und Arbeit, Feier und Geschäftigkeit, vor Gott ihm zum Dienst zu treiben und uns den Zugang zu ihm allezeit offen zu halten. Allein die Gemeinde ist nicht bloß für die Starken da, sondern auch für die Schwachen, und Paulus schafft auch diesen in der Gemeinde Raum und Recht.

Die Schwachen sollen aufgenommen werden und zwar nicht so, dass ihre Gewissen verwirrt werden, Vers 1, nicht um sie zu bearbeiten und ihnen zuzureden, so dass sie schwankend und in ihrer Überzeugung erschüttert werden. Sie sollen bleiben dürfen, was sie sind, und ungehindert in ihrer Weise Christo leben. Natürlich verwehrt es ihnen der Apostel nicht, sich aus ihrer Schwäche in die Freiheit zu erheben, wie sie der reife und völlige Glaube gibt, noch verbietet er den Starken, ihnen hierbei Dienst und Handreichung zu tun. Aber es darf dies nur dadurch geschehen, dass eine eigene feste Überzeugung in ihnen. zustande kommt, und diese kann unmöglich entstehen, wenn die Gemeinde auf sie drückt und sie bestürmt, sondern nur dann, wenn ihnen Raum und Freiheit gegeben wird.

Dem Starken liegt es nahe, den Schwachen zu verachten. Er steht im Bewusstsein seines Rechts und seiner Kraft und sieht den Mangel des Glaubens in der Ängstlichkeit und Unfreiheit der andern. Der Schwache verteidigt sich dagegen dadurch, dass er den Starken richtet. Was ihm für sich selbst als gefährlich und sündig erscheint, gilt ihm auch an diesem für verdächtig und er verurteilt seine Freiheit als sündliche Ungebundenheit. Aber weder jene Verachtung noch diese Verurteilung verträgt sich mit der Christenstellung; mit beidem überhebt sich der Mensch gegen den Herrn.

Uns steht das Richten nicht zu, denn wir sind Knechte, und haben darum das Urteil unserm Herrn zu überlassen, und er hat nicht nötig, dass wir ihm dabei helfen, sondern wird selbst jedem das seine geben in seiner alles durchschauenden Gerechtigkeit. Zugleich hebt Paulus die ungläubige Wurzel jenes Verdachtes heraus. Du meinst, die Freiheit des andern werde ihm zum Fall; warum traust du aber dem Herrn nicht zu, dass er ihn aufrecht zu halten vermag? Vers 4.

Nach der andern Seite hin hebt Paulus hervor, dass auch das Fasten und Feiern des Schwachen nicht wertlos ist vor Gott. Auch der Schwache tuts dem Herrn, Vers 5 u. 6. Derselbe greift dabei allerdings fehl und hält für gemein, was nicht gemein ist, für schädlich, was nicht schädlich ist, für nötig, was nicht nötig ist, und über diese Verirrung seines Urteils würde er hinausgehoben, wenn sein Glaube stärker wäre, weil dieselbe aus einer ungläubigen Furcht entspringt. Allein auch der Blick des Schwachen ist, wenn er nur redlich handelt, dabei auf den Herrn gerichtet; in seiner Gemeinschaft will er sich durch sein Fasten und Feiern erhalten und seinem Willen damit untertan bleiben. Das schützt auch den Gottesdienst des Schwachen vor Verachtung und Geringschätzung; denn hierin ist er mit dem Starken eins.

Das Zeichen, dass er auch bei seinem Gottesdienst die Verbindung mit dem Herrn bewahrt, liegt im Dank, zu dem er ihm Antrieb gibt. Wenn er mit seiner Enthaltung nicht sich selbst verherrlicht, sondern Gott um ihretwillen herzlich dankbar ist, weil er in ihr eine Scheidewand gegen Sünde, Fleisch und Welt erkennt, wenn er mit seinen Feiertagen nicht prahlt und prunkt, sondern Gott ihretwegen dankt, weil sie ihm zur Weckstimme werden, die ihn nach oben leitet, dann tut er es dem Herrn. So ist auch aller Genuss und Gebrauch der Welt dadurch als rein und im Glauben gegründet erwiesen, dass ich damit eine Gabe Gottes mit Dank genieße. Das, wofür ich Gott danke, reißt mich nicht vom Herrn los, sondern verbindet mich fester und inniger mit ihm; denn solange wir danken, bleibt unsre Grundstellung vor Gott richtig: wir stellen uns als die Empfangenden vor Gott unter seine Güte, als die da leben durch das, was er uns gibt.

Darum lautet die allgemeine Christenregel, die alle ohne Unterschied, seien sie schwach oder stark, umfasst: keiner von uns lebt sich selbst, sondern jeder bringt seine ganze Existenz mit allem, was er ist und tut, dem Herrn dar, Vers 7-9. Wer nicht den Bruch und Tod des selbstsüchtigen Willens in sich trägt, der ist nicht mehr nur schwach am Glauben, sondern weiß gar nicht, was glauben heißt. Er mag getauft sein, aber er hat nicht ergriffen, was ihm seine Taufe vorhält, dass sie ihn an Jesus anschließt, der ihn um einen teuren Preis, nämlich durch Tod und Auferstehung, zu seinem Eigentum erworben hat. Ein solcher ist der Sünde nicht gestorben, und ob er die Welt genießt oder ihr entsagt, beides ist gleicherweise sündig, weil er mit beidem nur sich selber dient; ihn zählt Paulus nicht zur Christenheit. Dass wir des Herrn sind, das erst macht unsern freien Gebrauch der Welt rein, und das erst macht auch alle Verleugnung der Welt rein; das bringt in unsern Genuss der Natur die Gebundenheit und in unser Fasten die Zuversicht, Freudigkeit und Freiheit hinein. So liegt hierin die Regel, die uns zeigt, was in der Kirche Christi Recht und Stelle hat: alles was für den Herrn geschieht und im Dank zu seinem Preise dient, das hat in der Gemeinde Raum; das, was aber nicht für den Herrn geschieht, womit der Mensch sich selber sucht, das hat in ihr kein Recht.

Aber ob wir auch alle des Herrn sind und deshalb für ihn leben, so kann sich doch unser Lebenslauf noch sehr verschieden gestalten, und Paulus nennt gleich den tiefgreifendsten Unterschied: leben oder sterben! Ob wir leben, ob wir sterben, das ist für unsere Verbindung mit dem Herrn gleichgültig; wir tun beides für ihn und legen uns im einen und im andern Fall als lebendiges und heiliges Opfer in seine Hand, und bleiben auch sein Eigentum, ob wir tot seien oder lebendig, da er mit seinem Tod und seiner Auferstehung die Toten und Lebendigen zu sich gezogen hat. Ist es aber nebensächlich, ob wir leben oder tot sind, so ist es noch viel nebensächlicher, ob wir Fleisch essen oder nicht, und ob wir am Sabbat arbeiten oder nicht. Und wenn uns solche Verschiedenheit von ihm nicht trennt, wie sollte sie uns von einander scheiden? Die Wege sind verschieden; doch das Ziel ist eins: wir leben ihm.

Der Apostel heißt zunächst die Starken und die Schwachen neben einander ihre Wege gehen, ohne dass sie einander stören und hindern. Allein damit ist ihre Aufgabe noch nicht erschöpft. Sie sind zu einer Gemeinde verbunden und können darum nicht so ihres Weges gehen, dass sie einander gleichgültig würden, sondern sie haben beständig auf einander acht zu geben und Rücksicht zu nehmen, aber so wie es die Liebe tut, Vers 13-23.

Der Starke ist für den Schwachen unwillkürlich und unvermeidlich eine Gefahr, da er ihm zum Anstoß werden kann, an dem er fällt. Unser Handeln ist sündig, sei es wie es sei, wenn es nicht auf fester innerer Überzeugung ruht. Tue ich, was ich innerlich missbillige, so handle ich gewissenlos und das bleibt Sünde, selbst dann wenn mein Urteil in unnötiger Ängstlichkeit befangen ist. Es liegt darin eine Geringschätzung der Sünde, die Gottes spottet. Wer etwas für gemein achtet, dem ist es gemein und versagt. Sein Urteil ist nicht für die andern, aber für ihn selbst Gesetz, woran er sich zu halten hat. Denn was nicht aus Glauben geht, das ist Sünde, und sei es auch tausendmal unschädlich und erlaubt. Ich muss zu meinem Verhalten innerlich berechtigt sein, und muss wissen, dass Gott mir diesen Weg geöffnet hat und ich ihn gehen darf. Aber nun reizt und zieht uns auch das Beispiel der Menschen mit großer Gewalt. Wir wollen hinter den andern und ihrer Freiheit und ihrer Kraft nicht zurückbleiben; wir wollen nicht schwach sein, sondern auch stark scheinen. So reißen wir uns unserm eigenen Gewissen los und laufen den andern Menschen nach, zweifeln und essen doch, handeln und verdammen uns selbst dabei, uns zum Fall. Das ist die Gefahr, in die wir einander bringen, und der Apostel ermahnt die Starken mit dringendem Ernst, dass sie dieselbe wohl bedenken und ihr nach Kräften entgegenarbeiten sollen. Was brauchen sie ihre Freiheit hervorzustellen und mit ihr groß zu tun? Ihr Glaube, in welchem sie ungehemmt die Welt brauchen dürfen, verliert dadurch nichts, wenn sie ihn auch nicht vor den Menschen zeigen. Und die Dinge, um die sich's handelt, Essen und Trinken usw. sind ja Kleinigkeiten, in denen sie mit Leichtigkeit den Schwachen nachgeben und sich ihnen anpassen können. Daran hängt Gottes Reich nicht, sondern die Gerechtigkeit, der Friede und die Freude, wie sie der heilige Geist im Menschen gründet und erhält, das sind die Güter des Reichs, in denen der Genuss und Anteil an demselben steht. Und was ist neben diesem Besitz Fleisch und Wein? Nicht Bearbeitung und Bestürmung der Schwachen, nein! das direkte Gegenteil davon, die vorsichtigste Zurückhaltung und schonendste Sorgfalt ist die Pflicht der Starken. Sie haben die Schwachen mit hingebender Aufopferung zu behüten, dass sie sich nicht zu etwas fortreißen lassen, wozu sie nicht reif sind, und nicht um ihres Beispiels willen nach einer Freiheit greifen, zu der ihnen das Vermögen fehlt. Sie sind dessen schuldig, weil sie Gottes Werk nicht zerstören und den nicht verderben dürfen, für den Christus starb.

Wie sollte da nicht Friede in der Gemeinde regieren, wenn sich der Starke selbst zum Hüter und Pfleger der Schwachen macht? Wer hat je so hoch und herrlich erfasst wie Paulus, was Freiheit ist, ihr Recht, aber auch ihre Gefahr, ihr Wert für uns selbst, aber auch ihre Unentbehrlichkeit für die andern?

Nicht sich selber zu gefallen leben, 15, 1-3, das ist die einfache durchgreifende Lösung der Aufgabe, die uns die christliche Gemeinschaft stellt. Gefällt sich der Schwache in seinem Fasten und Feiern selbst, dann vertritt er dem Freien den Weg und schilt ihn. Zur Mehrung seines Wohlgefallens an sich selbst erniedrigt er den, der es anders hält. Und gefällt sich der Starke in seiner Freiheit selber wohl, dann wird er zum Tyrannen, der sich dadurch erhöht, dass er den Schwachen erniedrigt und erdrückt. Es gilt nach der Regel Christi zu wandeln, die unsere Größe in unser Dienen setzt. Auch hier hält uns Paulus wieder Jesu Kreuzesbild vor, das uns den Weg zum Frieden weist, nicht nur mit Gott, sondern auch untereinander. Sah er mit selbstgefälligem Blick auf sich selbst? Suchte er das, was glänzt und scheint und ihn verherrlichte? Die Schmach derer, die Gott schmähen, fiel auf ihn und er wehrte sie nicht von sich ab, sondern ließ sich auch die Schande wohlgefallen bis zum Kreuz hinab. So handelt er auch an der Gemeinde als der, welcher die Schwachen nicht abstößt, sondern zu sich zieht und dienend ihrer verschiedenen Lage sich anpasst, 15, 7-13. Er wurde der Diener Israels und der Diener der Heiden. An Israel diente er der Wahrheit Gottes, welche die den Vätern gegebene Verheißung nicht fallen lässt; an den Heiden dient er der Erbarmung Gottes, welche sie mit freiem neuem Anfang herbeiruft, weil er sich erbarmen will. Und hier und dort ist das Ziel und Ende Gottes Verherrlichung. So werde denn auch die Gemeinde, so mannigfach sie sich zusammensetzt, aus Starken und Schwachen, aus Juden und Heiden, einträchtig und einmütig in Gottes Preis.