Schlatter, Adolf - Der Römerbrief - Kap. 12 und 13. Der Wandel im Glauben und in der Liebe.

Auf den tröstenden Abschnitt folgt noch ein mahnendes Wort. Der Apostel hat uns zwar schon im ersten Hauptteil des Briefs die richtige Stellung angewiesen zur Lösung unsrer Lebensaufgaben. Da wir an Christi Tod und Leben teilhaben, geben wir uns selbst Gott hin und stellen unsre Glieder ihm zur Verfügung als Waffen der Gerechtigkeit, vgl. Kap. 6. Hier öffnet sich aber noch ein weites Feld der Belehrung, und Paulus hat sich nicht damit begnügt, seinen Gemeinden nur die Grundzüge einer christlichen Lebensführung vorzuzeichnen, sondern ihnen mit großer Weisheit geholfen, ihre besonderen, bestimmten Verhältnisse mit dem Evangelium in Einklang zu bringen und nach Christi Sinn zu behandeln. Darin besteht gerade die christliche Weisheit, dass wir das, was wir im Glauben an Christus innerlich geworden sind, auch festhalten und ausprägen lernen in den kleinen und großen Aufgaben, in welche uns das tägliche Leben führt.

Durch die Barmherzigkeit Gottes hat er soeben diejenigen getröstet, die um Israel Leid trugen, durch die Barmherzigkeit Gottes mahnt er nun auch. An sie schließt er alles Wollen und Wirken, Gebieten und Gehorchen an; sie ist die Quelle, aus der wir zum Dienste Gottes die Lust und Willigkeit schöpfen. Zuerst stellt er nochmals die Grundregel alles christlichen Wandels vor uns hin: gebt Gott euern Leib zum Opfer dar, Vers 1. Wir können die Güte und Gnade nicht empfangen und besitzen, ohne dass sie uns zu ihrem Instrument und Werkzeug macht. Das Gebiet unserer Tätigkeit und Arbeit ist aber die Welt um uns her, mit der wir durch unsern Leib verbunden sind. Darum besteht unsere Aufgabe darin, dass wir unser Leben im Leib Gott nicht entziehen, sondern es ihm hingeben, dass es zum Werkzeug Gottes werde und seinem Willen dienstbar sei. Das ergibt für uns einen priesterlichen Opferdienst, in welchem das alte Opferwesen zu seiner vernünftigen Wahrheit kommt. Das Verlangen, das im Opfer liegt, Gott eine Gabe darzubringen, ist heilig und lebt unzerstörbar in aller Liebe zu Gott; nur hat es noch nicht seine vernünftige. Gestalt, solange die Gabe nur in einem Zeichen besteht und an sich selber wertlos ist. Das vernünftige Opfer ist das lebendige, das wirklich Gott dient, nicht das, welches getötet wird, und zu solchem Priesterdienst sind wir von Gott ausgerüstet. Dazu ist uns unser Leib gegeben mit der mannigfachen Tätigkeit, die wir in ihm vollbringen. Das ist die Gabe, welche unsere Liebe Gott darbringen kann und mit der sie einen wahrhaftigen Gottesdienst auszurichten vermag.

Darin liegt, dass wir uns nicht nach dieser Welt gestalten, sondern nach der zukünftigen, Vers 2. Schöpfen wir das Ziel und die Regel unseres Lebens aus Gott, so leben wir nicht mehr für die Gegenwart. Was geht das Beispiel und der Beifall der Menschen, der Erfolg und die Ehre des Augenblicks, der Genuss und die Lust dieser Zeit den an, der Gott zu dienen hat? All dem dürfen wir uns nicht mehr anpassen und zu Willen sein. Denn diese Zeit und Welt ist noch nicht durchleuchtet zur Übereinstimmung mit Gottes Art und Willen; da ist noch Zwiespalt und Gegensatz gegen Gott; erst die zukünftige steht im Einklang mit ihm. Da deutet der Apostel auf den Ernst unseres Opfers hin. Indem wir für Gott leben und uns nach ihm gestalten, treten wir zu den Menschen und Verhältnissen um uns her in einen Gegensatz und werden ihnen fremd, und der Weg der Selbstverleugnung und des Leidens mit Christo tut sich vor uns auf.

Von Natur tragen auch wir Art und Gepräge dieser Welt an uns und wenn wir uns über sie erheben und himmlisches Wesen an uns erscheint, so kann dies nur durch eine Veränderung und Umwandlung unserer selbst geschehen. Würden wir den Brief hier zu lesen beginnen, so müsste uns freilich dieses Gebot unmöglich scheinen. Nun aber wissen wir, dass das himmlische Wesen uns im neuen Menschen, Jesus Christus, erreichbar worden ist. So werden wir dadurch verwandelt und erneuert, dass wir glaubend suchen und empfangen, was in ihm erschienen und uns gegeben ist.

Das erste, was in uns neu werden muss, ist unser Sinnen und Denken, unsere Vernunft. Wir müssen neue Gedanken erhalten, einen neuen Blick, neue Maßstäbe, nicht die, welche dieser Zeit und Welt entnommen sind. Das ist die unentbehrliche Ausrüstung zu allem Gottesdienst in Tat und Werk, und wir können den Mangel derselben durch nichts ersetzen, durch kein Glauben, durch kein Beten, durch keine Zeichen und keine Wunder. Der Weg zum Handeln führt durchs Denken; denn wir können dem Willen Gottes nicht dienen, wenn wir ihn nicht prüfen und erkennen. Es treten mannigfaltige Stimmen an uns heran und aus uns hervor, nicht nur Gottes Stimme. Wir müssen zur Prüfung derselben geschickt und fähig sein und merken, was Gottes Wille ist. Dazu bedürfen wir aber der Befreiung von unseren blinden törichten Gedanken und der Erneuerung unserer Vernunft aus Gott.

Die erste spezielle Mahnung des Apostels geht auf Bescheidenheit, dass wir in unseren Grenzen und Schranken bleiben und nicht alles anstreben und unternehmen, auch das, was wir nicht können, Vers 3. Warum warnt er nicht vor dem entgegengesetzten Fehler, vor der mutlosen Verzagtheit, welche die Kraft, die wir haben, nicht braucht und benutzt, sondern hinter unserem Vermögen träge und schwächlich zurückbleibt? Er redet zu einer christlichen Gemeinde, die im Glauben an Christum innerlich einen kräftigen Anstoß empfangen hat und sich redlich bemüht, mit erneuerten Gedanken wahrzunehmen, wo sie ihrem Herrn dienen kann. Darum bedarf sie der Erinnerung an die besonnene Abwägung ihrer Kräfte, damit niemand die Schranken, welche ihm gezogen sind, zu überspringen versuche und sein Streben und Trachten auf Dinge richte, die ihm zu hoch und entzogen sind.

Die Grenze, bei der wir stehen zu bleiben haben, ergibt sich aus dem Maß unseres Glaubens. Der Glaube hat in jedem Menschen, der mit Gott innerlich in Verkehr getreten ist, seine besondere Gestalt und Begrenzung im Zusammenhang mit der ganzen Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der persönlichen Lebensführung. Unser Glaube bestimmt aber unmittelbar auch unsere Aufgabe. Denn das, was wir sollen, hängt ab von dem, was wir haben und können; dies unser Können und Vermögen beruht in dem, was wir empfangen; unser Empfangen entspricht unserem Suchen und Bitten, und dieses ist die Frucht und Äußerung unseres Glaubens. Soweit wir nun glauben können, dürfen wir handeln, weiter nicht, und zwar kann keiner nach irgend einem fremden Glauben handeln, sondern jeder nur nach seinem eigenen. In der Gewissheit, dass wir das, was wir tun, mit Gott tun können, dass die dazu erforderliche Gabe uns gegeben ist und wir sie von Gott erbitten und erwarten dürfen, liegt die innere Ermächtigung zum Handeln. Wenn ich aber auch das wage, was ich nicht mit meinem Glauben umfassen kann, so trete ich aus der gehorsamen Unterordnung unter Gott heraus und versuche ihn. So gibt uns der Glaube mit seinem Maß die Grenze an, wo unser Streben zur Überhebung wird und der Mut zum Übermut. Den Aufrichtigen leitet diese Regel zuverlässig; freilich kann man sich auch dann, wenn uns Vernunft und Gewissen sagen: „das kannst du von Gott nicht erwarten, er hilft dir dazu nicht!“ gleichwohl einen erdichteten Glauben einbilden, aber nur dann, wenn man sich selbst anlügen will.

Diese Begrenzung unseres Glaubens, Trachtens und Sollens hängt damit zusammen, dass Christus nicht nur einzelne Menschen erlöst und in den Dienst Gottes stellt, sondern dazu eine Gemeinde schafft, in der jeder einzelne die Stellung eines Gliedes hat, das nicht alles tun kann noch soll, Vers 4 u. 5. Darum teilt sich die Arbeit, durch welche sich die Gemeinde erhält und erbaut, mannigfach. Sie hat Weissagung empfangen, aber mit der Weissagung allein müsste sie verkümmern. Sie bedarf außerdem der dienenden Männer, die sich mit hilfreicher Arbeit den mancherlei Bedürfnissen, auch denjenigen des äußeren Lebens, hingeben. Nicht weniger unentbehrlich ist ihr die Lehre, die wiederum eine eigenartige Ausrüstung erfordert, damit sie das göttliche Wort unseren Gedanken fassbar mache zur Erneuerung unserer Vernunft. Aber auch sie ist nicht der einzige Dienst am Wort, sondern neben ihr steht die Ermahnung, welche den Einzelnen seelsorgerlich hilft, das Wort in ihren Willen und ihr Verhalten hineinzunehmen nach ihren besonderen Verhältnissen. Aber das Wort allein richtet nicht alles aus; für vieles bedarf es auch der äußeren Mittel. Darum hat die Gemeinde solche nötig, welche geben, weiter solche, welche leiten und regieren, und endlich hat die Barmherzigkeit in denen, die nach Geist und Leib elend sind, ihr weites Arbeitsfeld. Alle diese verschiedenen Tätigkeiten ruhen auf verschiedenen Gaben, und die Mahnung des Apostels geht nun dahin: jeder tue, was er nach seiner Gabe tun kann, und dies ganz. Der Prophet lege seinen ganzen Glauben in sein prophetisches Amt und trete gläubig vor Gott, um bei ihm Erleuchtung zu suchen, und ohne Furcht im Glauben vor die Menschen, wenn er ihnen das Wort und den Willen Gottes vorzulegen hat. Und so tue ein jeder nicht das, was des andern ist, sondern das, was seine Gabe ihn tun heißt, und nicht mit halbem Herzen, sondern ganz und mit Lust, Vers 6-8.

Von unsern besonderen Aufgaben geht der Apostel zu dem über, wozu wir alle in allen unsern besonderen Stellungen berufen sind, Vers 9-21. Da steht die Liebe voran. Ohne viele Worte hat uns der Apostel im ersten Teil des Briefs gezeigt, wie sie in uns entsteht. Wir erleben Christi Tod in uns, wir geben uns selber preis, wir verlangen glaubend nach Jesu verklärtem Leben, wir öffnen uns der Leitung des Geistes: dadurch ist die selbstsüchtige Verknechtung unseres Trachtens an uns selbst durchbrochen und unser Leben bewegt sich nicht mehr um uns selbst, sondern um den, der für uns gestorben und auferstanden ist. So wird die Liebe in uns geboren, aber es gilt nun über ihr zu wachen, damit sie ungeheuchelt sei. Gerade in die Liebe mischt sich sowohl auf ihrer natürlichen als auf ihrer geistlichen Stufe leicht Heuchelei. Sie ist so wohltuend, dass wir auch den Schein derselben noch schätzen und festhalten, auch wo das Wesen fehlt. Es soll wenigstens das Auswendige an uns ihr entsprechen, auch wenn unser Sinn in selbstsichtiger Verdorbenheit verharrt. Paulus mahnt, dass zum Schein auch das Wesen kommen muss.

Sie vereinigt, was im ungeordneten Herzen als Gegensatz wider einander steht, Vers 9-12. Sie wird bei aller Zartheit doch nicht weichlich, so dass sie den Unterschied zwischen dem, was gut und böse ist, verwischte und auflöste, sondern hat den kräftigen, ernsten Abscheu gegen alles Böse neben sich. Sie wendet sich allen zu und hat doch ihre besondere Herzlichkeit für den Bruderkreis. Sie hebt die Entfernung und Scheidung zwischen den Menschen auf und wahrt doch sorgsam die Ehre, die jedem gebührt, indem sie den andern nicht herabzieht, sondern vielmehr über sich selbst erhebt. Sie treibt in emsige Tätigkeit, und weiß nichts von kaltem schlaffem Wesen, sondern hegt und nährt im Menschen eine warme Glut, die auch in heller Flamme aus ihm in Wort und Werk hervorbrechen soll. Und doch wird sie nicht eigenmächtig und eigenwillig, sondern bleibt in der Stellung des Knechts, der vom Winke seines Herrn abhängig ist.

Das geschieht freilich nur dann, wenn diese Glut nicht von unten, sondern von oben aus dem Geiste stammt. Sie ist zur Freude und zum Leiden fähig und geschickt. Jene kann uns nicht erlöschen, weil unsere Hoffnung nicht hinfällt, an der wir uns immer neu zur Freude erwecken können. Und ins Leiden legt sich die aushaltende Geduld hinein, die ihm mit ihrer Tragkraft gewachsen ist, und dies alles ist durchzogen von der wachsamen und gläubigen Beharrlichkeit im Gebet.

Wie mannigfach gestaltet sich der Verkehr mit den Menschen und die Liebe gibt jedem ihre besondere Gabe, vgl. Vers 13-21. Da sind die bedürftigen Glieder der Gemeinde, die notleidenden Heiligen, welche Unterstützung finden sollen, die Fremden, welche Herberge bedürfen, die Verfolger, denen gegenüber die Reizung zum Fluche niedergekämpft werden muss, weil auch sie des Segens bedürfen. Da ist's bald Freude, bald Schmerz, die im Miterleben der Liebe auch ins eigene Herz überfließen sollen. Da treten mannigfache Interessen und Bestrebungen in der Gemeinde hervor, die sich oft kreuzen und auseinandergehen, so dass es gilt Eintracht zu bewahren, sich unterzuordnen, auch die kleinen Leute und geringen Dienste hochzuschätzen, dem Rat und der Meinung der andern sich offen zu halten und nicht allein weise zu sein. Da sind auch die außerhalb der Gemeinde stehenden, die sie mehr oder weniger feindselig beobachten, auf deren Urteil ebenfalls beständig Rücksicht genommen werden muss, damit das, was geschieht, in aller Augen löblich sei, und mit allen der Friede bewahrt bleibe. Und mit besonderem Nachdruck verweilt der Apostel bei den ungerechten, gehässigen Eingriffen anderer in unser Leben. Da offenbart sich im Verzicht auf Rache und Gericht die königliche Freiheit und Vollkommenheit der Liebe, ihre Unabhängigkeit vom Verhalten der andern, ihre Zuversicht, dass sie auch den Feind mit feuriger Kraft erfassen und mit dem Guten das Böse besiegen wird. Das Recht fällt deshalb nicht zu Boden, auch wenn wir auf Vergeltung und Strafe verzichten. Gottes Zorn hält über demselben Wache und nimmt die Vergeltung in seine Hand. So gibt die Liebe dem göttlichen Zorne Raum und überlässt ihm Rache und Gericht und bleibt bei ihrem heilsamen gütigen Werk und ist gewiss, dass sie mit demselben auch über die Bosheit den Sieg gewinnt.

Unter den mannigfachen Verhältnissen, in welchen die Gemeinde sich zurecht finden musste, kam demjenigen zu den staatlichen Regenten und Behörden eine besondere Bedeutung zu, 13, 1-7. Auch darüber war der ersten Christenheit Belehrung und Anweisung nötig. Das Leben war im Glauben an Christus völlig neu geworden, und man konnte nirgends die bisherige Übung und Sitte einfach fortsetzen, sondern man musste sich darüber klar werden: wie haben nun wir, die wir in Jesus unsern Herrn gefunden haben, uns zur heidnischen, römischen Obrigkeit zu verhalten? muss man sich ihnen widersetzen als den Widersachern Gottes? oder soll man ihnen aus dem Wege gehen und sich möglichst wenig um sie kümmern? oder soll man sie ehren und ihnen willfährig sein? Es ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Kirche und dem Staate, welche Paulus hier bespricht, indem er ihr gleich eine bestimmte deutliche Gestalt gibt, dadurch dass er zeigt, wie sich der Christ zur Obrigkeit zu verhalten hat. Ein Christ soll sich aller staatlichen Ordnung willig unterziehen, und er kann dies, weil er nicht mehr der Sklave der Menschen wird. Er wird dadurch nicht abhängig von der Laune und Willkür des Regenten; ihn knechtet derselbe nicht mehr durch die Furcht vor dem Schaden, den er ihm zufügen könnte, noch lockt er ihn durch die Ehre und den Vorteil, den er ihm gewähren kann. Denn er hat sich Gott unterworfen, und sucht in ihm die Leitung und den Antrieb zu seinem Werk in der Welt. So ist er dem Staate und der Obrigkeit gegenüber wahrhaft frei und über sie hinaufgestellt, und eben darum kann er die Obrigkeit ehren in ihrem Beruf und ihren Weisungen gehorchen in Untertänigkeit.

Diese Unterordnung soll eine willige sein und nicht nur aus Rücksichten der Klugheit geschehen, um die üblen Folgen der Auflehnung abzuhalten, sondern um des Gewissens willen. Denn die Obrigkeit ist von Gott. Er führt die Völker zusammen und gibt ihnen ihre Häupter und Leiter. Dies im allgemeinen einzusehen ist nicht schwer; aber schwerer wird es uns, dies auch festzuhalten im Blick auf die bestimmten Personen und Verhältnisse, in denen wir stehen, die ja oft so mangelhaft und widerwärtig sind. Darum betont Paulus, dass eben die Obrigkeit, welche besteht und vorhanden ist, nicht bloß die, welche wir uns wünschen und die unsern Gedanken entspräche, durch Gottes Ordnung über uns gesetzt ist. Sie sind freilich nicht Gottes Diener zum Werk seiner Gnade, die uns die himmlischen Güter zuteilt, sondern ihr Amt fällt ins Gebiet des natürlichen Lebens. Es wird aber dadurch nicht unheilig und ungöttlich, sondern auch das, was der Zeit und Natur angehört, hat Gottes Wirkung und Ordnung in sich, und auch diese göttlichen Gründungen und Einrichtungen müssen heilig gehalten werden und rufen, wenn wir sie antasten und zerstören, dem Gericht.

Wir fürchten die Obrigkeit nur, wenn wir böses tun. Die Neigung, sie zu missachten und ihre Weisungen zu durchbrechen, stammt nur daher, dass wir nicht auf geradem und gerechtem Wege handeln möchten. Aber die Verhinderung und Unterdrückung der bösen Werke, und zwar auch mit Gewalt und dem Schwert, ist gerade der Beruf der Obrigkeit. Eben hierin ist sie das Werkzeug Gottes, Dienerin seines Zorns, der durch ihren Dienst den Übeltäter fasst und ihm nach seiner bösen Tat vergilt. Für das gute Werk dagegen haben die Ordnungen des Staates Raum und die Obrigkeit Anerkennung und Lob.

Es ist allerdings möglich, dass eine Obrigkeit auch das gute Werk, das im Dienst Gottes und seiner Wahrheit geschieht, verfolgt und bestraft. Was wir dann zu tun haben, das hat uns Jesus deutlich gesagt und Paulus mit seinem eigenen Beispiel gezeigt. Ihn hinderte das Schwert der römischen Obrigkeit nicht, seinem Gott mit brennendem Eifer und unermüdlich am Evangelium zu dienen. Dann gilt es freilich sein Leben nicht lieb zu haben und sich allein vor Gott zu fürchten. Aber auch in diesem schwersten Fall, wenn wir das, was wir Gutes zu wirken haben, gegen den Willen einer blinden und verirrten Obrigkeit ausrichten müssen, dürfen wir nicht mit ihrer Verirrung auch sie selbst bekämpfen, sondern haben sie in ihrem Beruf anzuerkennen, der ihr von Gott übertragen ist.

Dazu gehört auch die willige Entrichtung der Abgaben und Steuern, und der Apostel verknüpft auch diese Pflicht mit den allerhöchsten Gesichtspunkten: weil ihr heiliges Amt sie ganz in Anspruch nimmt, habt ihr ihnen dazu die Mittel darzureichen; so ermöglicht ihr ihnen ihren Gottesdienst, Vers 6.

Der Gedanke an den Staat lenkt seinen Blick auf die mannigfachen Verbindlichkeiten und Verpflichtungen, in die uns der Verkehr mit den Menschen bringt. Es ist nicht die Art der Liebe, sich diesen zu entziehen oder auch nur sie leichtfertig zu behandeln; im Gegenteil ist das erste, was sie tut, dies, dass sie alle diese rechtlichen Verbindlichkeiten erfüllt und niemand etwas schuldig bleibt, Vers 8. Sie geht über das Recht hinaus, aber nicht dadurch, dass sie es bricht oder herabmindert, sondern dadurch, dass sie es erfüllt und in ihrem eigenen Trieb mehr gibt und tut, als was die Regel des Rechts erfordert. Die Liebe ist falsch, wenn sie spricht: es soll Liebe gelten, also erlasse mir, was ich dir schuldig bin! Die Liebe spricht umgekehrt: ich erlasse dir, was du mir schuldig bist. Sie verschiebt die Grenzen des Rechts nicht zu Ungunsten der anderen, sondern sich selbst zur Last und den andern zum Gewinn.

Die einzige Verbindlichkeit, die im Christenleben Raum hat, und die wir nicht von uns ablösen und nie vollständig erstatten können, ist die, dass wir einander lieben. Diese Schuld ist alle Morgen neu und wird nie abbezahlt. Sie haben wir immer wieder in ihrer verpflichtenden Kraft anzuerkennen; denn die Liebe steht nie am Ziel und wird mit ihrer helfenden und dienenden Arbeit nie fertig; es gilt auch in dieser Hinsicht von ihr: sie hört nimmer auf.

Alle Pflichten gehen zusammen in die Liebespflicht, und das ganze Gesetz hat in ihr sein Haupt und seine Erfüllung. Was das Gesetz für die Menschen von uns fordert, das sind lauter Wohltaten, und was es uns verwehrt, das ist nur die Übeltat. So ist das Gesetz die große göttliche Auslegung für das, was der Sinn der Liebe ist, die Anweisung zu dem, was die Liebe will. Ihr Ziel und Willen geht darauf, nicht übel, sondern wohlzutun. So bringt uns der Wandel in der Liebe weder mit der menschlichen Obrigkeit noch auch mit dem göttlichen Gesetz in Zwiespalt und Widerspruch, sondern erhält uns vielmehr in Übereinstimmung mit ihm, Vers 9 u. 10.

Auch das Hoffen macht Paulus für unsere Lebensarbeit fruchtbar, Vers 11-14. Er nennt den Zustand, in dem der Mensch und die Welt jetzt noch stehen, Nacht; der Tag kommt uns erst noch; Christus bringt ihn uns. Aber wir wissen, dass er mit seinem hellen Licht für uns anbrechen wird, und verlangen nach ihm. Wie warm und dringend war doch das Hoffen des Apostels! Er zählt die Jahre nach ihrem Verlauf, wie etwa ein Kind die Tage zählt, wenn es auf den Anbruch eines festlichen Tages sehnlich wartet. Seit wir gläubig wurden, sagt er, sind schon wieder einige Jahre verstrichen, einige Stunden jener langen, dunkeln Nacht dahin, und das Ziel ist uns näher gerückt. Solches Hoffen hat aber durchdringende Kraft. Wenn wir nach dem Lichte jenes Tages streben, das unser ganzes Wesen beleuchten und offenbar machen wird, so fällt damit vieles von uns ab. Das treibt zur Scheidung von allem, was nur im Dunkeln existieren kann und der Nacht bedarf. Das bricht den Schlaf, jenen stumpfen Leichtsinn, der ob dem Getändel mit Kleinigkeiten die großen und ernsten Dinge Gottes vergisst, jene Betäubung, welche die Knechtschaft unter die sündigen Triebe in uns wirkt. Das reichliche Mahl und der viele Wein, sinnliche Weichlichkeit und Ausschweifung, Streit und Ehrgeiz sind drei Mächte, die im menschlichen Leben unendlich viel bedeuten und wirken, vgl. Vers 13; aber das alles scheut den Tag und kann sich nicht im Licht entfalten.

Es verhält sich mit dem Licht wie mit allen Gaben Christi. Der volle Tag gehört noch der Zukunft an, und doch ist uns schon jetzt das Licht nicht fern und fremd, weil es uns in dem nahe gekommen ist, der es uns einst auch in seiner Fülle bringen wird. Wir können uns ihm öffnen und es anziehen als unsere Rüstung und Waffe; denn es gilt für uns einen Kampf, damit wir mitten in der Dunkelheit, die uns umgibt, unsern Stand behaupten und dem Lichte auch um uns her Bahn machen. Dazu reicht uns aber das Licht selbst Wehr und Waffe dar in der siegreichen Kraft der Wahrheit, die in uns selbst und in den andern den Werken der Finsternis überlegen ist.

Wie anders schließt der Brief als er beginnt! Er fängt mit dem Menschen an, der die Wahrheit in sich niederdrückt und dadurch sich selbst zerrüttet; er schließt mit dem Menschen, der das Licht in sich empfängt und es als Waffe braucht, mit der er die Finsternis in sich und den andern überwunden hält. Diese Wandlung ist Christi Werk; darum ziehet den Herrn Christum an, Vers 14. Weil der Apostel vom Licht und vom Tage sprach, liegt es ihm nahe, Jesus als das Gewand zu bezeichnen, mit dem wir uns bekleiden sollen. Wer hinaus ans Licht muss, das die Decke der Dunkelheit von ihm abzieht, bedarf eines Gewands, und dieses Kleid, das uns zur Bedeckung und zum Schmucke wird, darin wir auch im Licht des göttlichen Reichs leben und bestehen können, ist Christus. Von einer bloß äußerlichen Überkleidung, die uns innerlich der Bosheit überließe, ist natürlich keine Rede. Er würde uns nicht wahrhaft kleiden, wenn er uns nur von außen deckte; denn das Licht macht auch das Innerliche offenbar. Vielmehr dadurch, dass uns Christus von Grund aus erneuert und in sein Bild gestaltet, wird er uns wahrhaft zum Gewand.

Unserem himmlischen Kleide stellt Paulus das irdische Gewand gegenüber, in das wir noch gehüllt sind, unser Fleisch. Auch zu diesem Kleide haben wir Sorge zu tragen; aber der Apostel mahnt zur Achtsamkeit, dass wir nicht eben durch unsre Pflege es zur lüsternen Begier entzünden und erregen. Dem Fleisch gegenüber bleibt unsre Aufgabe eine doppelseitige; es hat gleichzeitig Schonung nötig, die ihm alles gibt, was es bedarf, und Zucht, die seiner nicht schont, Pflege, die sorgsam auf dasselbe Rücksicht nimmt, und Ernst, die ihm alles versagt, was seine sündigen Begehrungen ins Leben weckt. Auch hierzu, da mit wir beides ins rechte Gleichgewicht setzen und jedes an seinem Ort in seinem Maß betätigen, bedarf es der Erneuerung unserer Vernunft (2, 2).