Vor dem Christus steht die Reihe der Propheten wie nach ihm die der Apostel. Dagegen wird sowohl dann Einsprache erhoben, wenn Jesus in die alttestamentliche Religionsgeschichte als ihr Glied eingereiht wird, als dann, wenn er von ihr getrennt und sein Zusammenhang mit dem Judentum nur als Schwierigkeit empfunden wird. Jenen Gedanken benützt sowohl die jüdische Polemik gegen das Christentum, wenn sie Jesus mit Hillel, dem berühmten Lehrer Jerusalems in der Zeit des Herodes, vergleicht und keinen wesentlichen Unterschied zwischen ihnen wahrzunehmen vermag, als auch die rationale Deutung Jesu, da auch sie ihn als den aufgeklärten und aufklärenden Juden beschreibt. Denn damit ist er nur als ein Glied der alttestamentlichen Gemeinde aufgefaßt. Dagegen stammt das entgegengesetzte Urteil, daß wenigstens das, was Jesus die unvergängliche Macht gab und ihn zum Wendepunkt der Weltgeschichte machte, zum Judentum in keiner Beziehung stehe, aus einer apologetischen Absicht, die verlangt, daß das Christentum nicht mit den Schwierigkeiten, die am Alten Testament entstehen, und mit den Widerwärtigkeiten, die den jüdischen Charakter bedrücken, belastet werden soll.
Beide Sätze geben das königliche Ziel Jesu, das er mit dem Namen „Christus„ aussprach, preis. Die Einmaligkeit und Vollständigkeit seines Amtes unterscheidet den Christus von der ihm vorangehenden Gemeinde ebenso bestimmt, wie von der durch ihn begründeten. Der Christus ist nicht nur ihr Glied, da er die geheiligte und bleibende Gemeinde schafft. Ihre Vollendung zu ihrer vollkommenen Gestalt bedeutet ihre Erneuerung. Dadurch tritt Jesus aus jeder Vergleichbarkeit mit dem Rabbinat heraus und gibt sich ein Ziel, das mit dem eines Pharisäers nicht mehr zusammenzustellen ist. Ebensowenig läßt aber der Christusgedanke die Trennung Jesu von Israel zu, weil er sich auf die dem Volke gegebene Verheißung bezieht. Als der von Gott Geweissagte kommt der Christus, und das bestimmt das Bewußtsein Jesu wesentlich. Das Werk der Propheten und die Arbeit Jesu bestätigen sich daher wechselseitig; der göttliche Grund des einen bewährt die göttliche Sendung des anderen.
Davon, daß sich Jesus von Israel getrennt habe, spricht nur eine geschichtslose Phantasie. Er stand mit ungebrochenem Anschluß in der Gemeinde, nicht nur in passiver Anpassung an sie, sondern mit vollendeter Liebe. Der Beweis dafür ist sein Kreuz, von dem er sofort frei war, wenn er Israel fahren ließ. Die Notwendigkeit, die ihn in der Gemeinde festgehalten hat, hatte religiöse Art. Gott hat Israel geschaffen; ihm ist es geheiligt, und er hat ihm seine Verheißung gegeben. In der Treue Gottes ist die unwandelbare Treue begründet, mit der Jesus ganz und gar Jude war. Demgemäß erfaßte er audi das Alte Testament als Gottes Wort, geschrieben für ihn. Aus ihm entnahm er den Willen Gottes für sich. Er sah sich nicht vor eine menschliche Hoffnung gestellt, an deren Erfüllung er seine Kraft erprobte, nicht durch ein Ideal gelockt, das die Volksphantasie beschäftigte und dem auch er sich öffnete, sondern was er vor sich sah, das war ein göttliches Versprechen, eine unzweifelhafte Kundgebung des göttlichen Willens, eine Aussage über das Ziel, zu dem Gottes Regierung sich hin bewegt.
Er stellte darum den Zusammenhang zwischen sich und Israels Schrift nicht nur durch die einzelnen Worte her, die wir „messianische Weissagungen“ nennen, weil sie den von Gott einst zu sendenden König versprechen, sondern bezog die ganze Geschichte und Schrift Israels auf sich und sein Amt. Um seinetwillen ist die alte Gemeinde geschaffen; um seinetwillen ist das Gesetz gegeben und sind die Propheten gesendet; er vollendet, was durch die Zeit von Mose bis zum Täufer vorbereitet war. Die Rechtfertigung seines Urteils besteht darin, daß die alttestamentliche Geschichte ohne ihn nur Trümmer schüfe. Außer ihm bleibt nur Mißgestalt und Tod im Judentum. Mit seiner Ausstoßung geht nicht nur der Tempel und die Schrift, die unter der Tradition versinkt, sondern auch die Religion verloren, die durch den nationalen Fanatismus aufgezehrt wird. Dagegen ist durch ihn und seine Gemeinde der ganze Inhalt der alttestamentlichen Geschichte und Schrift für die Menschheit erhalten und zu universaler Wirkung gebracht.
Das Hauptstück der Schrift erkennt Jesus mit der ganzen Gemeinde im Gesetz, wie es der alttestamentlichen Geschichte entspricht, da das Bußwort und die Verheißung der Propheten den Bestand der von Gott erwählten Gemeinde und das Gesetz als ihr gegeben voraussetzen. Weil Israel Gott und seinen Willen kennt, ist sein Abfall von ihm Schuld. Da das Gesetz Israel vor die zentrale Frage stellt, die in der menschlichen Geschichte ihre Entscheidung finden muß: Recht und Unrecht, Gutes und Böses, Gehorsam und Schuld, schafft es für den Bußruf Jesu die Voraussetzung, und indem es auch dem sündigen Volk den Kultus verschafft und an ihn die Zusage der Vergebung und Aufrichtung für die schuldig Gewordenen heftet, schafft es sie auch für sein versöhnendes Werk.
Die vor Jesus geschehene Geschichte hatte die großen Anliegen und Bedürfnisse hervorgebracht, in deren Erfüllung das Werk Jesu besteht. Durch Gottes berufende Gnade war eine Gemeinde entstanden, die ihn kannte und vor ihm wandelte; sie war aber noch ein kleiner Teil der Menschheit. Während das, was sie empfangen hat, die Kenntnis Gottes und die Gemeinschaft mit ihm, für die Menschheit bestimmte Güter sind, ist sie selbst für die Gesamtheit der menschlichen Geschichte noch bedeutungslos. Wie löst sich dieser Zwiespalt zwischen dem Ziel der Gemeinde und ihrem tatsächlichen Bestand? Durch den Christus, der die die Menschheit einigende Gemeinde schafft.
Gott hat sich an Israel als den das gute Werk Gebietenden, das Böse Richtenden erwiesen bis zur Vernichtung der Gemeinde wegen ihrer Schuld. Zugleich bezeugt er sich ihr in der Freiheit und Vollmacht seines Vergebens, in dem die Überwindung des Bösen liegt. Wie einigt sich der richtende und der versöhnende Wille Gottes? Wie nimmt er den Schuldigen mit ewiger Wirkung wieder in seine Gemeinschaft auf? Durch den Christus, der uns die Versöhnung bringt.
Gottes Güte offenbart sich an Israel in seinen natürlichen Verhältnissen. Er war der Erhalter seiner irdischen Existenz. Und doch ist Geist das Wesen Gottes und seine Gabe, wie an denen sichtbar wird, die als seine Boten in seinen Dienst gesendet sind. Wie kommt der Geist in die Fleischeswelt? Die Antwort ist der Christus, der den Geist hat und gibt.
Daß er der Verheißene ist, hat also nicht nur den Sinn, daß das vorbestimmende Erkennen und Wollen Gottes auf ihn gerichtet ist, sondern sein Werk ist ihm durch das, was der Gemeinde vor ihm gewährt war, vorbereitet und ermöglicht. Die Voraussetzungen und Mittel für sein Amt waren ihm durch Gottes Werk in Israel verschafft.
Der Unterschied, der zwischen den beiden Testamenten und Gemeinden besteht, würde mißdeutet, wenn wir sagten, Jesus habe die nationale Verfassung Israels verworfen und an ihre Stelle die Versetzung der einzelnen in die Gemeinschaft mit Gott gesetzt. Er hat den nationalen Bestand der vorhandenen Gemeinde nicht kritisiert, sondern seinem Volk sein ganzes Leben gewidmet. Dies freilich steht fest, daß aus der Sendung des Christus die an alle gerichtete Berufung erfolgen wird; aber der Grund, der die neue Gnade Gottes nötig macht, liegt nicht zuerst oder allein in der nationalen Verfassung Israels. Nach Jesu Urteil starb Israel nicht deshalb, weil es ein Volk war, sondern weil es sündigte und unbußfertig bei seiner Sünde blieb, und das Neue, das nun entsteht, ist nicht die Vereinsamung des einzelnen, der sich selbst zu einer vollkommenen Persönlichkeit ausbilden soll. Solche Theorien haben gar keine Beziehung zu Jesus.
Er sah das Neue darin, daß durch ihn Gottes königliche Herrschaft mit ihrer ewigen Gerechtigkeit und Gnade an der Menschheit wirksam wird. Wird Gottes Beziehung zu den Menschen durch den Christus neu, so wird auch der Umfang der Gemeinde neu.
Ebenso ist die Formel „Gesetz und Evangelium„ nicht geeignet, um den Punkt zu bezeichnen, an dem durch Jesu Arbeit die religiöse Veränderung entsteht. Denn das, was Jesus als Gottes Wort und Werk in Israel vor sich sah, galt ihm nicht nur als Gesetz in dem Sinn, daß es den Menschen nur auf sein eigenes Werk verwiese und ihn deshalb von Gott schiede. Vielmehr hat sich Gott nach Jesu Urteil wirklich zu Israels Gott gemacht, hat ihm also seine Gnade, sein Vergeben, sein Leben offenbart, alles, was er denen gibt, die er zu sich beruft. Und für seine eigene Gemeinschaft mit Gott und die von ihm berufene Gemeinde hat Jesus das Gesetz nicht von Gottes Willen und Werk getrennt, sondern er bringt ihm durch seine Herrschaft und sein Versöhnen die Bestätigung und Erfüllung.
Den Fortschritt über die alttestamentliche Verheißung, die der Gemeinde den natürlichen Segen verspricht, bewirkte Jesus nicht dadurch, daß er Gottes Gnade einzig auf die inwendigen Vorgänge bezog und die natürliche Not für gleichgültig, das natürliche Glück für wertlos erklärte. Er bekämpfte die frühere Frömmigkeit, die von Gott die freundliche Gestaltung des Schicksals erwartete, nicht durch Unnatur, sondern er verkündet auch hier die Vollkommenheit des Vaters, dessen Herrschaft sich nicht nur dadurch offenbart, daß er die Lage des Menschen verändert, sondern dadurch, daß er den Menschen in seinem inwendigen Lebensstand erfaßt und mit sich vereint.
In allen Beziehungen stellte Jesus das Alte Testament nicht als den Schatten neben das Licht, das nun durch seine Sendung komme, nicht nur als die negative Vorbereitung neben die positive Gabe Gottes, sondern das, was bisher in der Kraft, aber auch in der Unfertigkeit des Anfangs vorhanden war, erlangt nun durch den Sohn des Vaters und den Herrn aller die Einheit und die Vollständigkeit.
Die Gemeinschaft, die Jesus mit Israel vereint, darf nicht deshalb verdunkelt werden, weil uns die Benutzung des Alten Testamentes Schwierigkeiten macht. Seine Überlieferungen reichen noch weiter in die Vergangenheit zurück und sind darum unserem Verständnis noch mehr verschlossen als das Neue. Die Technik des Wissens ist im Alten Testament noch weniger ausgebildet; poetische und praktische Gesichtspunkte treten daher in den alttestamentlichen Geschichts-bericht stärker hinein und vermindern seinen Erkenntniswert. Die religiöse Poesie bedeutet dort mehr, als wir vom Standpunkt der Wissenschaft aus wünschen. Den intellektuellen Anstößen gehen die ethischen Schwierigkeiten parallel. Das Alte Testament läßt sich nicht als ein für alle Zeiten gültiges Idealbild des richtigen Handelns verwerten. Was es uns gibt, wird nicht nur von unserer geschichtlichen, sondern auch von unserer sittlichen Erkenntnis überschritten. Dies ist aber notwendig durch die Sendung des Christus gegeben. Er schafft das Neue nicht durch die Zerstörung des Alten, sondern durch seine Vollendung. Mit ihr treten wir aber über den Anfang empor. Für die Behandlung des Alten Testaments gab uns Jesus selbst die Regel in der Weise, wie er die Gebundenheit an das gegebene Gotteswort und die Freiheit von ihm besaß und seinen Jüngern gab. Er hat ihnen beide Gewißheiten verschafft, daß er in keiner Auflehnung gegen die alttestamentliche Offenbarung stehe, und daß er sie über sie hinaufführe. Zwischen den beiden Sätzen, die zunächst wie ein Widerspruch aussehen, stellt die religiöse d. h. zu Gott aufsehende Fassung des Alten Testamentes die Einheit her. Israel ist Gottes Werk, sein Gesetz Gottes Wille, die ihm gegebene Verheißung Gottes Versprechen. Daraus folgt das dankbare Bekenntnis zu dem, was durch das Alte Testament gegeben ist. Ungehorsam gegen Gott ist für den Christus undenkbar. Es ist aber ebenso Gott, der ihn sendet, ihn als den Sohn leitet und ihm sein Wort und Werk gibt. Darin liegt die Überschreitung des alttestamentlichen Bestandes. Der Ungehorsam gegen Gottes jetzt sich kundtuenden Willen wäre zugleich auch der Bruch der alttestamentlichen Religion. Israel kann nicht mit der Berufung auf das frühere Gotteswort das entwerten, was Gott ihm jetzt im Christus gibt. Es hat sich seiner Führung mit demselben Gehorsam zu unterstellen, mit dem es bisher unter Moses Gesetz stand, und eben dadurch wird das Ziel erreicht, für das die alt-testamentliche Gemeinde geschaffen war.
Die Gebundenheit Jesu an den Kanon und seine Freiheit von ihm entstehen also beide aus der Vollkommenheit seiner Verbundenheit mit Gott, die ebensowenig vollständig ist, wenn er durch das alt-testamentliche Wort Gott vernimmt, und wenn er ihm selbst innerlich vernehmlich wird. Er vermochte das eine nicht ohne das andere, und darum, weil sein Blick hier und dort auf Gott und allein auf Gott gerichtet war, hatte er die Zuversicht, daß sich die Regierung Gottes zu einer großen, deutlichen Einheit zusammenfüge, und im Neuen alles Alte erhalten und vollendet sei. Das ergibt für die Christenheit die Regel, nach der sie die Benützung und die Kritik des Alten Testamentes zu üben hat.