Auch der Apostel Paulus hat auf gewisse Leute den Eindruck schwärmerischen Wesens gemacht. Der Landpfleger Festus antwortete auf seine Verteidigungsrede1): Du bist von Sinnen, die vielen Bücher bringen dich in Wahnsinn hinein. Offenbar sprach er damit ein ähnliches Urteil aus, wie es unser Wort „Schwärmerei„ ausdrückt. Und zum Römer, dem in seiner ausschließlich weltlichen Bildung die christlichen, ja überhaupt die religiösen Dinge fremd und unverständlich sind, gesellt sich des Paulus eigene Gemeinde in Korinth, nämlich in der Zeit, da sie stark beeinflußt und verwirrt war durch fremde, jüdische Agitation. Bin ich von Sinnen, schreibt er ihnen2), so ist es für Gott; bin ich vernünftig, so ist es für euch! Haltet mich, wenn ihr wollt, für unsinnig, dieses Zeugnis müßt ihr mir lassen, ich lebe für Gott, und nur um ihn ist's mir zu tun; wollt ihr mich für vernünftig gelten lassen, nun wohl, meine Vernünftigkeit kommt euch zugut, denn sie steht in eurem Dienst. Paulus hätte seiner Gemeinde diese Wahl nicht vorgelegt, hätte man nicht dort gesagt: „Er schlägt über in Schwärmerei.“ So zeigen uns diese Erlebnisse des Apostels, daß auch das lauterste, in gottgeschenkter Herrlichkeit leuchtende Christentum dem Urteil verfallen kann, es sei Schwärmerei. Nur um so gewichtiger wird die Frage: Was ist denn wirklich Schwärmerei?
Paulus hat sich den Korinthern gegenüber selbst über das Motiv ausgesprochen, das solche Urteile über ihn erzeugte. „Bin ich von Sinnen, so ist es für Gott, bin ich vernünftig, so ist es für euch; denn die Liebe Christi hält mich umschlossen, da ich dieses Urteil fällte, daß einer für alle starb, folglich alle starben; und er starb für alle darum, damit sie ihm leben. Somit kenne ich niemand nach dem Fleisch, das Alte ist vergangen!„ Wir sehen, welche Bedeutung für Paulus die eine Tatsache hat, daß der Gekreuzigte lebt. Die Welt mit allem, was sie in sich schließt, ihr Höchstes und Heiligstes in-begriffen, Tempel, Priestertum, Gesetz, alles ist ihm untergegangen und dahingefallen mit dem Tode des Einen, der ihm alles ist. Und dieses nicht nur in der Theorie: „Ich kenne niemand nach dem Fleisch, sei er Heide oder Jude, Knecht oder Freier, Zöllner oder untadelhaft nach dem Gesetz, einerlei, das Alte ist vergangen!“ Und an die Stelle dieser untergegangenen Welt trat ihm ein einiges, eben der, welcher starb und lebt, an dem nunmehr in machtvoller, un-zerspaltener Einheit und Geschlossenheit all sein Denken, Lieben und Leben hängt. Sie erschraken in Korinth vor der Macht einer solchen Hingabe an den Einen. Ist das wirklich die Bedeutung des Kreuzes? Macht es zu allem Alten den absoluten Schluß? Mit dem Einen alle tot! Nein, das kann nicht sein! Dann blieb nur eine Folgerung, nämlich die: Der Weg, den Paulus geht, ist Schwärmerei. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Urteil des Festus. Auch in seinem Worte liegt ja eine gewisse Anerkennung für Paulus, nämlich die der Überzeugung, der Konsequenz, der Hingabe an die Idee, die ihn beherrscht. Allein er spricht von den „vielen Büchern„, nachdem ihm Paulus jenes Erlebnis erzählt hat, welches den Wende-, Angel- und Quellpunkt seines Lebens bildet. Die vielen Bücher. In der Tat, wenn das eine, woran Paulus all sein Denken und Handeln, Arbeiten und Leiden setzt, ein aus Büchern gesogenes Phantom ist, ein Wahn, dann treibt er Schwärmerei.
Hingabe des Lebens an Wahn ist Schwärmerei. Wo immer sie auftritt, ist in ihr ein treibender, regierender Gedanke, dem der Mensch Untertan geworden ist mit seiner ganzen Existenz. Schwärmerei macht Märtyrer, sie vermag alles, das ist ihre Größe und ihre Kraft, aber die sie treibende Idee ist ein Wahn. Nimmermehr wird es gelingen, die Grenzlinie zwischen vernünftigem und schwärmerischem Christentum nach irgendwelchen Maßstäben der Klugheit festzustellen, welche berechnen möchte, wie weit wir die Konsequenzen aus unserer religiösen Stellung ziehen wollen und wie weit nicht, welche Leistungen, wieviel Opfer, wieviel Hingabe wir für unseren Gott wagen wollen und was nicht. Das ist der Weg zur Heuchelei. Gott und seine Wahrheit hat ein absolutes Recht an uns. Nicht darin liegt des Schwärmers Verirrung, daß er alles tut und alles leidet, was seine Überzeugung fordert, und jedem Antrieb gehorcht, der sich aus seinem Christentum ergibt. Die Frage ist lediglich die, welchem Herrn er dient, ob der Wahrheit, ob dem Wahn!
In jedem Geschlecht und wiederum in jedem einzelnen innerhalb desselben kreuzen und verweben sich richtige und unrichtige Urteile, helle und trübe Motive aufs engste; aber Irrtum, falsche religiöse Vorstellungen sind nicht an sich schon Schwärmerei. Denn es steht das Zentrum und der Kern unserer Persönlichkeit, unser innerstes Ich, unser „Herz“ unserem erkennenden Bewußtsein in relativer Unabhängigkeit gegenüber. Wir können darum mitten aus trübster, einfältigster Unwissenheit heraus echt und lauter Gemeinschaft Gottes sich erheben sehen, wiederum kann reicher Einblick in die Höhen und Tiefen des Evangeliums enden in schändlicher Schwärmerei. Allerdings begünstigt trübe Dunkelheit des Erkennens ihr Entstehen, und Zeiten, in denen das Lehrwort der Schrift bedeckt ist, sind besonders empfänglich für sie; man denke nur ans Mittelalter mit seiner Geißler- und Kreuzfahrt und ihrem: Gott will es! Doch nicht das macht den Schwärmer, daß trübe, unrichtige Vorstellungen in seinem Geiste vorhanden sind, und nicht das bewahrt vor Schwärmerei, daß Wahrheiten unser Besitz geworden sind. Es handelt sich darum, welchen Elementen unseres inneren Eigentums die beherrschende Macht und dominierende Stellung zufällt, was sich ins Zentrum unserer Persönlichkeit zu stellen vermag und auswächst zum Quellpunkt unseres Lebens. Erinnern wir uns an das tiefgreifende Wort Jesu: Aus der Wahrheit sein!
Auch Einseitigkeit ist noch nicht Schwärmerei. Unser inneres Leben ist stets in gewisse Schranken gefaßt, die es vorwiegend nach einer Seite leiten, und dieser eine Grundton desselben tritt um so energischer und wahrnehmbarer hervor, je kräftiger sich dasselbe entfaltet. Das hängt direkt mit jener göttlichen Ordnung zusammen, die uns nicht isoliert nebeneinander stellt, sondern aufeinander anweist und ineinander die Ergänzung gibt, und ist darum auch nichts Gefährliches und Schädliches, so lange nur jene göttliche Ordnung erkannt und geehrt wird und das Schriftwort uns verständlich bleibt: wir haben Gemeinschaft untereinander, wenn wir im Lichte wandeln3). Bildet sich freilich die Einseitigkeit ein, sie sei das Ganze, verliert der einzelne das Bewußtsein, daß er einer ist neben und mit vielen ändern gleichen Rechts und gleichen Berufs, dann ist allerdings die Einseitigkeit in Gefahr, in Schwärmerei überzugehen, dadurch, daß sie den eigenen Wahn nicht minder pflegt und betont als die ihr eignende Wahrheit, ja jenen höher schätzt und energischer verficht als diese, da derselbe der gemeinsamen Wahrheit gegenüber sich leicht als der uns auszeichnende und von anderen unterscheidende Sonderbesitz darstellt.
Kann auch christliche Schwärmerei entstehen? Wäre sie nur in der außerchristlichen Religiosität daheim, könnte man sagen: Wenn der Verehrer Molochs sein Kind in die Flamme des Altars warf, oder wenn der Hindu sich in den heiligen Ganges stürzt, oder wenn der Derwisch sein Glaubensbekenntnis schreit, bis er taumelt, da führt Wahn das Zepter, wo aber christliche Frömmigkeit vorhanden ist, da ist Klarheit und Licht, wieviel leichter wäre der Gang der Kirche! Sie wäre von einem Druck befreit, der auf ihre ganze Entfaltung überaus lähmend und störend einwirkt. Bei seinem Scheiden sagte Jesus seinen Jüngern4): Ich gehe, und ihr bleibt zurück, doch wißt ihr Weg und Ziel. Sie antworten ihm: Eben dies wissen wir nicht. Jesu Erwiderung ist höchst einfach. Das Ziel: wohin? Zum Vater. Und der Weg? Der Weg bin ich. Aber wie dies? Der Weg und die Wahrheit und das Leben! Dadurch wird Jesus der Kirche zum Wege, daß er ihr zur Wahrheit und zum Leben wird. Ist damit nicht innerhalb der Christenheit aller Schwärmerei ein Ende gemacht? Gewiß! Wenn nämlich Jesus unser Weg wird mit dem, was er uns in sich selbst als ein Einiges dargeboten hat, mit Wahrheit und Leben. Allein die christliche Geschichte des einzelnen und der Gemeinschaft ist nicht der unmittelbare Aus- und Abdruck der Fülle Jesu. Sie ist bedingt durch das, was wir derselben entnehmen und aus ihr uns aneignen. Wie nun, wenn wir das in jenem Wort Zusammengeknüpfte zerreißen und „die Wahrheit„ aus demselben herauslösen, wenn wir Christus zu unserem Weg machen und in ihm unser Leben suchen, doch seine Wahrheit nicht begehren, dann haben wir offenbar christliche Frömmigkeit vor uns, die sich Jesus hingibt und für ihn und ihm leben will, aber nicht Wahrheit in sich hat. Nun erträgt unser Geist keine völlige Leere, wir bedürfen eines geistigen Inhaltes, aus dem unser Leben seine Motive schöpft. Die von der Wahrheit leer gelassene Stelle bleibt nicht leer, da setzen sich nun Wahngebilde an, die bei der Richtung des Lebens auf Christus ebenfalls eine christliche Färbung erhalten werden, und die christliche Schwärmerei ist da.
Unser Verhältnis zur Wahrheit steht in direktem Zusammenhang mit den sittlichen Grundverhältnissen unserer Persönlichkeit. Ist innerer Anschluß an Christus vorhanden oder doch gesucht, ohne daß es zur Aneignung seiner Wahrheit kommt, so setzt dies notwendig einen Willensgegensatz und inneren Widerstreit gegen Christus und Gott voraus. Schwärmerei kommt nicht über uns als ein Leiden, das wie eine Erkrankung unser Christentum befällt, sie wächst aus unserem Willen hervor und ist darum stets Schuld. Die Schrift spricht in dieser Hinsicht sehr bestimmt: Diejenigen hassen das Licht und kommen nicht an das Licht, die Arges tun5), diejenigen gehorchen der Wahrheit nicht, die der Ungerechtigkeit gehorchen6), in Ungerechtigkeit hält man die Wahrheit darnieder7). Freilich, weil das Innerste der Person ein verborgenes ist, wird es selten möglich sein, schwärmerische Erscheinungen zurückzuverfolgen bis auf diesen ihren letzten Grund, und es muß stets unvergessen bleiben, daß die richterliche Funktion nicht uns übertragen ist.
Jene Sorglosigkeit, die sich des getröstet, daß schwärmerische Frömmigkeit doch Frömmigkeit bleibe und schließlich alles auf unser praktisches Verhalten ankomme, täuscht sidi selbst. Dem Ursprung derselben entspricht ihre Wirkung. Allerdings darf das Wort Jesu nicht beschränkt und geschwächt werden, daß diejenigen ihm Bruder, Schwester, Mutter sind, die den Willen seines Vaters tun. Doch was ist Gottes Wille? Wer sich einmal redlich vor diese Frage gestellt hat, der weiß, daß und warum er der Wahrheit bedarf. Sie ist uns gerade deshalb unentbehrlich und dazu gegeben, damit wir den Willen Gottes wahrnehmen und tun. Das ist der Fluch und Unsegen der Schwärmerei, daß sie den Menschen durch ihre Wahnideen des Organs beraubt, den Willen Gottes zu erkennen, und ihn folglich aus der Bahn herausschleudert, in der er Gottes Willen tut. Die Grundordnungen Gottes sind uns zwar unmittelbar bekannt und gegeben; denn sie sind uns ins Herz geschrieben. Aber die Triebe, die von entwickelter Schwärmerei ausgehen, stehen auch an dieser Grenze nicht still. Sie vermag auch in dem Sinne alles, daß sie den einfachsten, fundamentalsten Inhalt des Gewissens auszulöschen und unwirksam zu machen vermag.
Blicken wir zunächst in die alte Kirche hinein. Etwa hundert Jahre, nachdem Paulus Kleinasien durchwandert hat, wurden die dortigen Gemeinden von der Kunde überrascht: Christus hat seiner Kirche neue Propheten geschenkt, einen Propheten mit Namen Montan, und neben ihm treten bald Prophetinnen in den Vordergrund. Es war eine Zeit der Gärung, wo bald hier einer auftrat, der einen Engel gesehen haben wollte, bald dort einer, der geheime Wissenschaft in erlogener Berufung auf einen Apostel ausbreitete. Die Vorsteher der Gemeinden waren genötigt und gewohnt, strenge Zucht zu halten und störende Elemente kurzweg aus der Kirche zu entfernen. Diese Bewegung jedoch griff weit um sich. Es fiel den Gemeinden das Urteil über die neuen Propheten schwer. „Oftmals und an manchen Orten“, sagt ein Zeitgenosse, „sind die Gläubigen Asiens ihretwegen zusammengekommen„8). Schließlich brach man mit ihnen, und zwar völlig. „Wie ein Wolf“, klagt eine der Prophetinnen, „werde ich von der Herde weggescheucht; ich bin nicht ein Wolf, ich bin Wort und Geist und Kraft.„ Da sind im Gefängnis in Apamea Glieder der Kirche und Freunde der Propheten beisammen, beide gehen dem Tode entgegen aus demselben Grunde, wegen ihres Christennamens. Werden sie denn jetzt einander brüderlich die Hand reichen? Auch angesichts des gemeinsamen Martyriums haben die Glieder der Kirche den Anhängern der Propheten den Christennamen nicht zuerkannt. Woher jenes Schwanken des Urteils und die Ausbreitung der Bewegung und woher sodann dieser scharfe Bruch? Propheten! Jetzt ist, sagten ihre Freunde, der Geist aus Gott, der verheißene, ausgegossen und der Tröster da. Ein neues Pfingsten! Wo wäre ein Christ gewesen, der sich dessen nicht freute? Die Lehre der Propheten wich nicht ab von dem, was die Gemeinden als Christi Evangelium besaßen und teuer hielten. Während jene Engelschauer und Geheimlehrer sich mit allerlei Phantasterei trugen, bald einen oberen und unteren Gott verkündigten, bald aus Jesus ein gespenstisches Wesen machten und dergl., so war in bezug auf die neuen Propheten kein Zweifel möglich: Sie hatten das Evangelium. Ihre Weissagung war: Der Herr ist nah! Unzweifelhaft ein apostolisches Wort, der eine große Gegenstand aller lebendigen Christenhoffnung; wer sollte sich nicht freuen? Daneben sind sie ernste Bußprediger, sie eifern gegen die Verweltlichung der Gemeinden und der Geistlichen, sie rufen die Kirche zum Fasten auf. Für die ernsten Glieder der Kirche war dies nicht im mindesten ein Grund, sie abzuweisen; im Gegenteil, das Gefühl, die Kirche gehe zurück, sie sinke, verglichen mit ihrer Erstlingszeit, den Jahren der apostolischen Arbeit, war weit verbreitet. So ist es verständlich, daß die Bewegung wuchs und die Gemeinden zunächst unsicher und schwankend waren in ihrem Urteil. Woher nun aber der Bruch und Bann wider sie? Der Prophet9) organisierte eine förmliche Evangelisation, von ihm bestellte und besoldete Boten kamen in die Gemeinden, die Losung war: Auf nach Pepuza! (Ein kleines Städtchen in seiner Heimat Phrygien.) Das ist das neue Jerusalem, wo der Herr erscheint, wo seine Gemeinde sich sammeln soll, ihn dort zu erwarten. Nun verstehen wir auch, warum es zum Bruche kam und kommen mußte und die Prophetin weggetrieben werden mußte von den Gemeinden wie ein Wolf. Nun mußte man sich entscheiden: Wollte man gehorchen oder nicht, die Propheten anerkennen oder nicht? Und man durfte nicht gehorchen. Hätte man gehorcht, wäre man überall in Kleinasien aufgebrochen, ausgewandert hin nach Pepuza, um dort zu warten, zu harren und schließlich enttäuscht, ernüchtert wieder auseinanderzugehen, — was wäre aus der Kirche Kleinasiens geworden! Welch ein Ruin, auch innerer Ruin!
Worin unterscheidet sich die neue Weissagung von der apostolischen Hoffnung? Hier wie dort war die gemeinsame Erwartung: Der Herr ist nah! Hat etwa die apostolische Zeit weniger innig, lebendig, kraft- und glutvoll auf Jesus gehofft? Denken wir doch nur an den Schluß des Neuen Testamentes: Ja, komm, Herr Jesus! Man kann nicht lebendiger hoffen, als es die ersten Jünger taten. Oder hielt etwa die apostolische Zeit ihre Hoffnung im Gefühl und Wort beschlossen, während nun Montan praktisch ernst mit ihr machte? Das wäre ein ganz unrichtiger Gedanke. Unmittelbar und machtvoll beherrschte die Hoffnung der ersten Gemeinde ihre ganze Praxis von jenem Tage an, da sie in Jerusalem Haus und Acker mit Freuden verkauften für die Armen, bis dahin, wo Paulus aus dem Gefängnis heraus seine Gemeinde zur Freude am Herrn und zur Lindigkeit gegen alle Menschen mahnte; denn der Herr ist nah!10) Aber die Richtung, in welcher die Hoffnung hier und dort praktisch wird, das Ziel, auf welches sie die Tätigkeit hintreibt, ist ein ganz verschiedenes. „Wer solche Hoffnung hat, der reinigt sich selbst.“ Diese Konsequenz zog die apostolische Zeit aus ihrem Hoffen, nicht aber leiteten sie daraus für sich die Aufgabe ab, daß sie nun das Reich Christi machen, irgendwie ins Werk setzen und vorwegnehmen müßten! Als sie in Thessalonich nicht etwa nach irgendeinem neuen Jerusalem auswanderten, nein, nur die Arbeit einstellten, da schrieb ihnen Paulus deutlich und derb: Wollt ihr nicht arbeiten, so eßt auch nicht; wenn ihr schon verklärte Menschen seid, so seid es ganz, dann laßt auch das Essen bleiben. Darin tritt handgreiflich der Gegensatz zutage zwischen der apostolischen Hoffnung und der neuen Weissagung. Montan bestimmt die Zeit: jetzt kommt Jesus; den Ort: hier in Pepuza! Hätte er sich nun damit begnügt, mit entzückten Blicken die Gefilde Pepuzas zu betrachten im Gedanken, daß hier die Stätte der Herrlichkeit Jesu sei, so wäre das wohl Irrtum, doch noch keine gefährliche Verirrung gewesen. Allein sein Traum wird in ihm und über ihm zur Macht, die ihn beherrscht. Er unternimmt es, die Gläubigen zu sammeln, das Reich Christi anzubahnen und herzustellen. Er gebietet im Namen Christi den Gemeinden: hierher alle! Er setzt sein, und nicht nur sein, auch der anderen Leben an seinen Traum. Das war Schwärmerei, Hoffnungsschwärmerei.
Es läßt sich an der Schwärmerei oft beobachten, daß sie ohne Bedenken das Menschlich-Natürliche in Stücke reißt. Bewahrung der natürlichen Stellung, Erfüllung der natürlichen Pflicht gilt ihr nichts. Auch Montan weist diesen Charakterzug derselben auf. Sein Gebot hätte alle natürlichen Verhältnisse und Verpflichtungen der Gemeinden zerrissen. Das kümmerte ihn nicht. Gleichzeitig ist er, soviel wir wissen11), der erste, der für geistliche Arbeit feste Gehälter zahlte und zu diesem Zwecke ein geordnetes Kollektenwesen organisierte. Schwärmerische Richtung und praktische Klugheit, erfinderische Benützung der äußeren Faktoren schlössen sich also auch bei Montan nicht aus. Man hat weiter in der Kirche Montan mit Grund dies zum Vorwurf gemacht, daß er das Fasten, zu dem er die Gemeinden aufrief, ihnen als Gesetz auferlegte, indem er bestimmte Fasttage als göttliches Gebot vorschrieb. Auch dies ist ein charakteristischer Zug. Schwärmerei und Bewahrung unserer Freiheit in Christus erwiesen sich stets als unverträglich. Es bleibt bei Jesu Wort: Die Wahrheit wird euch frei machen. Neben den Forderungen der Propheten erregte auch die Form ihres „Weissagens Anstoß. Sie hatten visionäre, bewußtlose Zustände, und sie legten gerade auf die Bewußtlosigkeit derselben Gewicht, weil in ihr die Garantie liege, daß sie rein aus Gott, nicht aus sich selbst reden. Aus visionären Erlebnissen sofort auf schwärmerische Störungen des inneren Lebens zu schließen, wäre übereilt, wie ein Blick auf die Propheten Israels und wieder auf die Apostel zeigt. Aber die Hochschätzung ekstatischer Bewußtlosigkeit ist jedenfalls ein krankhafter Vorgang, wieder jene Unnatur, wie sie sich auch in Montans Geboten zeigt. Wie wenig versteht er doch vom Wesen und Wirken des Geistes, wenn er die Herrlichkeit und Macht desselben in Zuckungen und Irreden zu erkennen glaubt, bei allem Ruhm des Geistes, wie ungeistliche Gedanken über den Geist! Und hier dürften wir an der Wurzel der ganzen Verirrung stehen. Sie hatten ekstatische Zustände, kein Zweifel! Damit begann die Bewegung; aber berechtigten diese zu dem Schluß: Nun erst ist Gottes Geist da! Die anderen haben ihn nicht oder doch nicht so reichlich wie wir; wir sind die Propheten, berufen, die Endzeit einzuleiten und die Gemeinde hinüberzuführen in ihren Verklärungszustand? „Ich bin Wort und Geist und Kraft“, denn ich habe ekstatische Zufälle — da steckt wohl die faule Wurzel, die in den Pepuza-wahn auswuchs. Selbstüberhebung ist nicht nur häufig Begleiterin, sondern oft direkt Wurzel und Grund der Schwärmerei. Hier in der Schätzung der eigenen Person, eigenen Gabe und Aufgabe geschieht leicht der Bruch mit der Wahrheit und Wahrhaftigkeit, so daß hier der Fruchtboden sich herstellt, auf dem die Illusionen und Phantastereien keimen und die Wahnideen sich bilden, aus dem sie auch ihre Kraft ziehen, die sie zu Herren über die Menschen macht, so daß er sein Leben an sie setzt.
Die nordafrikanische Kirche, einer der blühendsten Bezirke der alten lateinischen Christenheit, bietet uns ein zweites, lehrreiches Beispiel hierfür. Dieselbe war schwer getroffen worden von der letzten großen Verfolgung der Christen unter Diokletian12). Diese hatte neben vielem Märtyrermut auch viele zur Verleugnung getrieben, namentlich unter den Geistlichen, von denen die heidnischen Behörden allerorts die Auslieferung der den Gemeinden gehörenden heiligen Schriften, Kirchengeräte, Abendmahlskelche usw. verlangten. Wer sie verweigerte, verfiel dem martervollen Tode, wer sie auslieferte, galt in den Augen der Gemeinden und in seinem eigenen Gewissen als „gefallen„. Mancher beugte sich feig, andere gingen unredliche Schleichwege, nahmen eine Scheinauslieferung vor und dgl. Nach den Ordnungen der bisherigen Kirchenzucht verlor ein Geistlicher, der in der Verfolgung verleugnete, sein Amt. Allein mancher von den Gefallenen amtierte fort. Wenn die Sache heimlich geblieben war, machte er sie nicht selbst öffentlich. Mit dem Ende der Verfolgung erhob sich nun gegen diese gefallenen Geistlichen eine eifernde Protestpartei. Was ist die Kirche noch, wenn Verleugner und Bekenner in ihr nebeneinander stehen? Was sind die Sakramente in der Hand eines Mannes, der Christus verleugnet hat, also selbst gar nicht mehr zur Kirche gehört? Wozu das Martyrium, wenn die Verleugner auf den Bischofsstühlen bleiben. Es ist nicht zu bestreiten, daß die Protestpartei auf dem Boden des gültigen kirchlichen Rechtes und der bisherigen Praxis stand. Aber wer wollte bei der allgemeinen Verwirrung der Verhältnisse sichten und richten, untersuchen und beweisen? Der Eifer der Protestierenden konzentrierte sich schließlich gegen den neugewählten Bischof von Karthago, der ihnen schon vorher wegen seines Verhaltens gegenüber den Märtyrern verhaßt gewesen war. Er war nicht selbst ein Verleugner, aber ein als solcher verdächtiger Bischof hatte ihn geweiht, also hat er sich der Sünde desselben teilhaft gemacht, schon dies ein höchst gefährlicher Schluß. Sie separierten sich von ihm, riefen das Urteil der auswärtigen Kirche an, führten ihre Klage vor mehreren Synoden, schließlich vor des Kaisers persönlichem Gericht, sie wurden abgewiesen. Und als sie nun geschlagen nach der letzten Appellation heimkehrten, da zogen sie aus ihrem Erlebnis diesen Schluß: Die ganze Kirche allerorts ist gefallen und nicht mehr Christi Kirche, sie haben alle verleugnet oder doch mit den Verleugnenden gemeinsame Sache gemacht und so sich an ihnen befleckt; wir allein sind die Christo bis zum Tod getreue, heilige Gemeinde der Märtyrer. Aber nun, seitdem Konstantin regierte, genoß die Kirche volle Ruhe und Sicherheit; wo waren denn nun die Märtyrer? Man hatte das Martyrium so hoch gepriesen, so leidenschaftlich für dasselbe gekämpft, durfte nun der Kirche dies ihr Wahrzeichen und ihr Schmuck verlorengehen, sollte Christus keine Zeugen mehr finden, die für ihn ihr Leben opferten? Die Stellung, die man innerlich eingenommen hatte, drängte vorwärts, wohin? In den Selbstmord hinein. Wurde irgendwo noch ein heidnisches Fest gefeiert, so kamen Scharen herbei, störten dasselbe und ließen sich ohne Widerstand niederschlagen. Aber die Gelegenheit zu solchem Zeugentod war selten. So stürzte man sich über die Felsen hinab, Christo zu Ehren, als ein heiliges Martyrium. „Wir sehen uns mitten in heidnische Schwärmerei zurückversetzt. Der pure, zweckloseste Selbstmord gilt als Verherrlichung Christi, und dies in einer Kirche, die aufs nachdrücklichste betonte, daß die Kirche aufhöre, Christi Kirche zu sein, wenn sie nicht heilig und unbefleckt sei. Billigten die Leiter der Separation das neue Martyrium nicht, so konnten sie es doch nicht hindern. Sie waren gebunden und wehrlos um des Risses willen durch die Wahrheit und den Wahrheitssinn, der damals geschehen war, als sie das Martyrium zum einigen, unentbehrlichen Kennzeichen des Christen und der Kirche machten, nun wirkte sich der Wahn aus in wilder Märtyrschwärmerei.
Mit der Reformation verflicht sich eng die mächtige Täuferbewegung, die sich ausbreitete, soweit überhaupt die Reformation reichte. Tief griff jene Entdeckung in die Gemüter ein, die man nun wieder in der Schrift machte, daß unser Verhältnis zu Gott nicht in unserem Tun beruht, sondern in Gottes Werk. Sie trieb die bisher in stiller Verborgenheit fortgepflanzten Überlieferungen einer nach innen gewandten Mystik ans Licht, die im Gegensatz zur äußerlichen Hantierung der Kirche betont hatte, daß Gott selbst sein Werk in der Seele habe, wenn der Mensch ihm seinen Willen übergebe, selbst sterbe, damit Gott allein in ihm wirksam sei. Nicht der Mensch, sondern Gott! Diese Predigt der Reformation war für jene Mystik zunächst ein freudig begrüßtes Wort; was sie bisher im stillen hegte, nun ward es auf den Dächern verkündigt. Und doch bestand zwischen beiden Lehren ein wesentlicher Unterschied. Die Reformation suchte das heilsame Werk Gottes nicht im Menschen selbst, sondern in Christus. Deshalb war Glaube ihr Grundwort. Glaube — das stellt Gott und Menschen einander gegenüber, Gott als den, der uns in Christus Gerechtigkeit und Leben gegeben hat, den Menschen als den, der ihrer bedarf und nun dem glaubt, der sie ihm gibt. Wo man von der alten Mystik ausging, da suchte man das Werk Gottes in sich selbst. Nun bleibt ja zweifellos Gottes Gnade in Christus uns nicht fremd und auswendig, sondern greift erneuernd in unser Wesen ein. Aber wo man Gottes Wirken zunächst und zumeist in sich selber fand, da war der Schritt nur noch klein in die Stellung hinein, daß man in sich selbst nichts mehr fand als Gottes Werk und der Mensch dem Blicke völlig entschwand, ein Gedanke von hinreißender Kraft — Gott alles in mir, wer dies einmal gefaßt hatte, wohin sollte er diesen Gedanken anders stellen als ins Zentrum all seines Tuns? — Allein, ein Wahn! Die Bekämpfung der Kindertaufe war ein Folgesatz, der sich aus dem Grundgedanken ergab. Was geschah denn im Kinde bei seiner Taufe? Nichts. Aber wenn der Glaubende die Taufe empfängt, gibt er sich Gott hin, stirbt in Christi Tod und lebt nunmehr in Gott. Was aus diesen Gedanken werden konnte, zeigt uns am anschaulichsten ein lokal begrenztes Bild13).
In der Stadt St. Gallen war die Reformation im Jahre 1525 bereits im besten Gang. Die geistliche Nahrung empfing die Bewegung zumeist aus einer Bibelstunde, der sog. Lektion, die auf höchst natürliche und gesunde Weise entstanden war. Ein sanktgallischer Student, Keßler mit Namen, der eine jener beiden Studenten, mit denen Luther bei der Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg im Schwarzen Bären zu Jena so fröhlich und sorglos scherzte, war in seine Heimat zurückgekehrt. Die katholische Priesterweihe war ihm nunmehr verschlossen, evangelische Pfarrstellen gab es noch nicht. So lernte er eben ein Handwerk und trat bei einem Sattler in die Lehre, ein ehrlicher Schritt. Sofort ersuchten ihn einige Bekannte, da er doch in Wittenberg gewesen sei, solle er ihnen die Schrift auslegen, zunächst in einem ganz privaten Kreis, doch wuchs die Teilnahme rasch, die Auslegung mußte in eine Zunftstube verlegt werden, und schließlich gab der Rat die Kirche dazu her. Keßler wechselte bei derselben mit zwei Gehülfen ab, darunter war ein früherer Mönch, Ulmann mit Namen. Die Lektion bestand noch nicht ein ganzes Jahr, Keßler sprach über den Römerbrief, und zwar über die Worte: „Wisset ihr nicht, daß alle, die wir auf Christus getauft sind, die sind auf seinen Tod getauft;“ da steht ein Mann in der Versammlung auf und heißt ihn schweigen, da er ja noch von der Kindertaufe rede. Es war ein Weber, der früher in Zürich wohnhaft, dort wegen der Zerstörung eines Kreuzes vor der Stadt vom Rat noch ziemlich hart bestraft worden war. Dieses trieb ihn den Täufern in die Arme, da er seine Bestrafung den evangelischen Männern Zürichs anrechnete. Nun war er nach St. Gallen gekommen, und sofort erhebt er lauten Protest gegen Keßlers Wort. Dieser war überrascht, er hatte noch gar keine Kunde, daß diese Frage überhaupt erörtert werde. Der Weber kündigt ihm eine Schrift an, die ihn widerlegen werde. Bald trifft in der Tat ein langes Schreiben von Grebel, einem der Häupter der zürcherischen Täufer, ein: Was Keßler sage, sei vom Teufel, er ermahne die Versammlung in St. Gallen, sich vor ihm zu hüten. Keßler blieb ruhig und fest, sein Gehülfe dagegen wird erfaßt, er reist zu Grebel nach Waldshut, kommt zurück, natürlich getauft im Rhein und hoher Offenbarungen Gottes gewürdigt. Die Teilnehmer an der Lektion bitten ihn, er möge sich wiederum an derselben beteiligen. Ulmann erwidert: Der Vater im Himmel habe ihm eingegeben, sein Wort nicht in der Kirche zu verkündigen, dort sei nicht die Wahrheit gesagt worden, noch könne sie dort gesagt werden; wollen sie ihn dagegen auf dem Markte hören, so sei er bereit, ihnen zu offenbaren, was der Vater ihm eingeben werde! „Der Vater“, so nennt der Täufer nunmehr seinen Gott grundsätzlich, ist es doch nach dem Apostel des Geistes Kennzeichen, daß wir in ihm Abba, Vater, rufen. Doch wo kam die Furcht Gottes hin? Was die anderen bisher arbeiteten, was er selbst früher lehrte, das gilt Ulmann nun als schlechthin wertlos. Jetzt erst geht für St. Gallen die Offenbarung Gottes an. Er redet nichts mehr, als was Gott ihn heißt. Ulmann selbst ist ganz verschwunden, er ist nur noch Werkzeug in Gottes Hand. Gott verbietet ihm die Kirche. Warum? War der Markt heiliger? Oder etwa darum, weil Ulmann nicht mehr in Mitarbeit treten will mit anderen, darum, weil in der Kirche die Lehre zur ruhigen Lehrarbeit wird, an der kein Lärm, Aufsehen und Aufregung hängt wie an der Volksrede unter freiem Himmel auf dem Markt, darum, weil alles, was bisher gebaut war, nicht nur durch die alte Kirche, sondern auch durch die reformatorische Arbeit gründlich zerstört und abgebrochen werden soll, damit ein ganz neuer Anfang komme, der allen historischen Zusammenhang zerreißt? Die Folge dieses Auftretens war, daß der Kreis, der bisher in der Lektion sein Band hatte, zerspalten wurde. Die Mehrzahl blieb dabei, sie wollten dieselbe in der Kirche halten, andere schlössen sich Ulmann an. Schon acht Tage später, auf Palmsonntag 1525, kommt Grebel selbst, er führt seine Schar zum nächsten Fluß hinaus und zieht wiederum von dannen. Welch ein Gegensatz! Dort der Sattler, der zuerst bei Luther die Bibel lesen lernt, dann ehrlich ein Handwerk treibt, dabei seiner Bürgerschaft in anhaltender, hingebender Arbeit dient und ihr die Schrift öffnet, und hier diese fahrenden Geister, die ohne alles Bedenken ihn schweigen heißen und keinen Augenblick an ihrem Rechte zweifeln, den trennenden Keil hineinzutreiben in den Kreis, den er um die Schrift gesammelt hat, aber nicht etwa um selbst seine Arbeit aufzunehmen und fortzusetzen; nein, unstät wie ein Sturmwind fahren sie im Lande umher, mit zündender Macht der Rede, es brennt überall, wo sie hinkommen, wenn auch nur für wenige Tage, doch es ist eine düstere Glut, kein Licht. Auf Ostern kommt ein Schiffmann vom Zürichsee in die Stadt, ein ehrlicher Mann, der schon manches Ungemach des Evangeliums wegen getragen hatte, noch kein Täufer, er hatte solche über den See geführt und war nun selbst mit ihnen gezogen, begierig zu erfahren, was die Taufpredigt sei. Sofort erfaßt, sofort getauft, predigt er sofort in großer, eindrucksvoller Versammlung unter freiem Himmel; die ganze Stadt lief hinaus. Er pries den Segen des Wiedertaufs, dieser hat ihm alle sündliche Begier gelöscht; die Sünde ist weg, das Fleisch ist fort, er ist nun wahrhaft Gottes Eigentum. Der Zulauf zum „Taufhaus„ war auch vom Lande her außerordentlich, bis der Rat nach acht Tagen den Schiffmann ersuchte, die Stadt zu meiden. Er kehrte in seine schwyzerische Heimat zurück, aber in Schwyz lag die Leitung der Dinge nicht in den Händen eines Vadian. Dort fingen sie ihn bald und verbrannten ihn, mit Freuden ging er in den Tod. In der Stadt stieg die Zahl der Getauften auf achthundert, die Frucht einer Bewegung von wenigen Wochen. Achthundert Bekehrte, welch ein Erfolg! Sie lebten als die Heiligen. Trunk, Luxus und dgl. hatten ein Ende. Der grobe Rock, der breite Filzhut charakterisierten den Bruder. Den Degen, wie ihn der Bürger trug, legte er ab, er gehört zum „Wolfskleide“, er wird durch das Brotmesser ersetzt. Also doch bei allem Ruhm: Geist, Geist, Abba, Vater, ein knechtischer Geist. Ein Lehramt richteten sie in ihrer Gemeinde nicht auf, sie bedurften desselben nicht, dagegen nahmen sie mit Eifer die Übung des „Banns„ in die Hand, fort und fort wird bald über den, bald über jenen der Ausschluß aus dem Kreise verhängt. An jedem Abend ist öffentliche Volkspredigt im Freien vor der Stadt, wobei die Taufpolemik im Vordergrunde steht. Der Gegensatz gegen die reformatorischen Geistlichen wird so formuliert: Dort stehen die Schriftgelehrten, hier die Unmündigen, denen der Vater im Himmel es geoffenbart hat. Der Rat verbot die Feldpredigten, es sollte die Lehrfreiheit nicht beschränkt sein, es solle jedermann verkünden dürfen, was er in Gottes Wort für gegründet achte, nur solle es in der Kirche geschehen. Ulmann antwortete mit Psalm 2: „Warum toben die Heiden?“ Lieber sterben, als in einen „Heidentempel„, d. h. in eine Kirche, gehen. Der Rat gebot hierauf einigen der Sprecher, Predigt und Taufe zu lassen, oder die Stadt zu meiden. Zugleich fürchtete er für die Ordnung in der Stadt. Reich Christi — Reich Gottes —, daraus wurden seltsame Ideen in den Täuferkreisen. Gleichwohl tat der Rat nichts anderes, als daß er hundert Bürger in Eid und Pflicht nahm, beim ersten Tumult das Rathaus zu besetzen. Es war hier also keineswegs Verfolgung, welche die Bewegung erhitzt und krankhaft gesteigert hätte, sie verlief im wesentlichen frei, von ihren eigenen Impulsen geleitet. In buntem Wechsel kommen die fahrenden Brüder von außen, z. B. Hans Denk, der Nürnberger, gewöhnlich aber Geister weit gröberer Art; so vervollständigt ein anderer den Heiligungsweg aus Jakobus 5: Bekennet einer dem anderen eure Sünden, und zwar betonte er die Mahnung „einander“, also öffentlich in der Gemeinde. Er fand willigen Gehorsam, die Bekenntnisse flössen öffentlich. Merkwürdig war ihre Stellung zur Schrift. Auf der einen Seite waren sie vollständig von derselben emanzipiert zu Gunsten der eigenen Inspiration, die ihnen für alle Angelegenheiten des Lebens zugänglich war. Man sah Täufer unbeweglich dasitzen, nicht etwa nur in den Versammlungen, sondern am Werktage, dann standen sie auf, der Vater hatte ihnen nun Weisung gegeben. Es wurde sprichwörtlich in der Stadt: Das und das will ich tun, es ist des Vaters Wille, so daß sich der Rat bewogen sah, dem Aufkommen der Redeweise entgegenzutreten durch ein Verbot. Mit dieser Loslösung von der Schrift verband sich aber die buchstäblichste Pressung des einzelnen Schriftausdruckes. Z. B. weil geschrieben steht: „Gehet hin in alle Welt„, so mußte man gehen nach Osten, Westen, Süden, Norden, d. h. je nach dem nächsten Dorfe etwa eine Stunde weit. Nun hatte man gehorcht. Es war der zutreffende Ausdruck dieser Stellung, wenn einige ihre Bibeln zerrissen und verbrannten, der Schrift gehorsam, welche sagt, daß Gott sein Gesetz in unser Herz schreiben will und daß der Buchstabe tötet, der Geist aber lebendig macht. In innerer Konsequenz übertrug sich diese Stellung bei einigen auch auf das Gebet. Bedurften sie keines Lernens, so auch keines Bittens. Wozu bitten? Tut und gibt der Vater das Gewünschte nicht aus sich selbst, so hilft das Bitten nicht. Immer tiefer sank die Bewegung. Grebel kam selbst wieder und versuchte zu einiger Besonnenheit zurückzuleiten, doch nun war er selbst ein „Schriftgelehrter“. Traten sie früher in absichtlicher Einfachheit auf, so sah man nun auch Täufer in luxuriöser Tracht. Was konnte es ihnen schaden? Mit ihrem Vermögen wirtschafteten sie aufs tollste. Leute, die Geld und Kleider einfach zur Haustüre hinausgeworfen hatten, lasen es nachher, als der Winter kam, wieder zusammen bei den Nachbarn, die es aufgehoben hatten. Die Brautringe kamen auf, zuerst hölzerne, dann auch goldene, sie trugen sie als die Gott Verlobten. Schändliche Unzucht mischte sich hinein. Krampfhafte Zuckungen pflanzten sich ansteckend fort, die sich lösten in einem Strom gehobener Rede, „sterben„ und „zeugen“ nannten sie es. Zukunftsweissagungen wurden umher geboten: Auf Weihnachten, auf Ostern sollte Christus kommen. Die öffentlichen Katastrophen kamen. Gegen Ende des Jahres machten sich drei Mädchen bemerklich, von denen eine plötzlich niederstürzte und die wahrhaftige Stimme Gottes hörte mit markdurchdringender Kraft. Die Folge war, daß das pau-linische Wort: „Christus lebet in mir„, sich verkehrte in ein wahnsinnig rasendes: „Ich bin Christus!“ Es kam zu grauenhaften Szenen, doch nur ein Teil der Brüder wandte sich ab. Der Rat übergab die Mädchen ihren Familien mit dem Befehl, sie in der Stille zu halten. Das folgende Jahr brachte eine neue Katastrophe. Von zwei Brüdern empfing der eine die Offenbarung, daß er Gott sein Leben opfern müsse, und zwar müsse der Bruder das Opfer darbringen. Nach einer abscheulichen Wiederholung der Gethsemanegeschichte enthauptete der Bruder ihn. Es folgte der Tat keine Ernüchterung mehr, der Täter blieb dabei: Gott tat es durch mich! Das Gewissen war dahin. Nun griff der Rat energischer ein, Ulmann und andere wurden endgültig weggewiesen, und die Ruhe kam nach und nach zurück. So bunt und wild die Bewegung verläuft, so hat sie doch von jenem ersten: „Schweige!„ an, das Keßler zugerufen wurde, bis hinaus zum lasterhaften Christusweib eine einheitliche Wurzel. Der Mensch wird von den Täufern ignoriert, er, der fleischlich ist, und nicht Geist, und Gott allein ist in ihnen der Wirkende. Daher kam die sektenhafte Absonderung und der absolute Unterschied, der zwischen den Getauften und den „Heiden“ gemacht wird, hier ist Gott, dort ist er nicht! Daher die Beseitigung der Schrift, deren Lehre man, selbst direkt von Gott erleuchtet, nicht bedarf, daher zugleich die neue Weise des Gehorsams gegen die Schrift, deren letzter Buchstabe eben so unbedingt getan werden muß, wie man sich der eigenen inneren Regung unbedingt überläßt. Daher die ängstliche Heiligung, die aus der Welt hinausstrebt und sie möglichst wenig gebraucht, daher aber auch zugleich die zuchtlose Ausschweifung, da ja alles, was die Heiligen tun, Werk Gottes ist. Was wäre aus St. Gallens Reformation geworden, wenn auch die leitenden Männer sich gebeugt hätten? Das, was aus Waldshut und Münster geworden ist. Und zwar mußte die Entscheidung damals getroffen werden, als die Gefährlichkeit der Bewegung noch in keinen lasterhaften Ausbrüchen offenkundig war, sondern einzig die seligen Erfahrungen und machtvoll dringenden Zeugnisse der ersten Getauften vorlagen und zugleich die unbestreitbare Tatsache, daß aus der Schrift kein direktes Zeugnis für die Kindertaufe beizubringen war. Was konnte auch in solch kritischer Lage leiten, vor der Macht des täuferischen Geistes schützen und ein festes Urteil ermöglichen? Die Wahrhaftigkeit! Der einfache Wahrheitssinn, welcher dem Ulmannschen Interdikt über die Kirchen ruhig ins Angesicht sah. Ist Wahrheit in solcher Offenbarung? Der Wahrheitssinn, welcher, so sehr er sich bewußt war, das Vollkommene noch nicht ergriffen zu haben, doch den gewonnenen Glaubensstand nicht mit den Täufern verleugnen und verdammen konnte als Heidentum, der Wahrheitssinn, der auch an den Täufern das Bittere nicht süß und das Süße nicht bitter nannte, ihr trotziges Pochen: „Schweigt! Wir sind die Erleuchteten!„, nicht Demut hieß, sondern Hochmut, und in ihrem rücksichtslosen Eifern, das alles Begonnene zertrat, nicht Liebe, sondern deren Mangel und Gegenteil erkannte, der also die Täufer trotz ihres Ruhmes: Eingebung und Geist! nicht von den einfachen, fundamentalen Weisungen der Schrift lossprach, vielmehr gerade wegen ihres Ruhmes dieselben um so energischer auf sie anwandte und dessen eingedenk blieb, daß, wer nicht lieb hat, Gott nicht kennt. Das war der höchst einfache, doch völlig ausreichende Schutz gegen täuferische Schwärmerei, aber freilich, wo solche Wahrhaftigkeit fehlte, da war man haltungslos; da war nicht heiliger Geist, sondern Geistschwärmerei!
Auch die Brüdergemeine hatte eine „Sichtungszeit“, und das was ausgeschieden und überwunden werden mußte, waren Ansätze zur geistigsten Form der Schwärmerei, die aber doch Erkrankung und Verirrung bleibt, zur Liebesschwärmerei. Das einzige Bild, das der Gemeinde vor Augen stand, war der sterbende Jesus als die Offenbarung der göttlichen Liebe. Die Wirkungen dieser beständigen Anschauung des Kreuzes erstreckten sich aber nach und nach auch über die geistige Sphäre hinaus. Nicht nur der Liebeswille der Brüder ergab sich dankbar glaubend der Liebe Jesu, auch ihre Phantasie grub sich hinein in die Kreuzigungsgeschichte, hängte sich fest an das Bild der Marter und Wunden Jesu und entzündete sich an ihm zu krankhafter Unnatur. Das gesteigerte Empfindungsleben übergoß diese Bilder mit dem hellsten Licht und genoß sie wonnevoll. So entstand eine Liebesrede und ein Liebestreiben dem Gekreuzigten gegenüber, das schwärmerisch wurde, weil es Spiel war und Tändelei, doch nicht als wäre es nur Form und äußere Zutat gewesen, die Seele der Brüder lag darin, sie senkten ihr volles, tiefes Lieben in dieses Spiel; gerade darum war es Schwärmerei. In der Gemeine selbst wurde darauf hingewiesen, daß diese Erscheinungen in die Jahre fielen, in welchen das Selbstgefühl in der Gemeine sich steigerte mit dem Zusammentreffen überraschender Erfolge einerseits, sinnloser Verketzerung andererseits. So sieht man gänzlich von dem Standpunkt und der Stellung anderer ab, um das Eigenartige zu pflegen und zu hegen, und je ausgeprägter die eigene Eigentümlichkeit zum Ausdruck kommt, um so befriedigter fühlt man sich. Ist damit das nächste, störende Motiv zu jenen Erscheinungen richtig bezeichnet, so sind sie eben damit in Zusammenhang gesetzt mit der Grundrichtung Zinzendorfs und seiner Gemeinde. Diese war eine ergreifende, großartige Einseitigkeit. Die Liebe, die in Jesus und seinem Opfer lebt, hat er erfaßt oder vielmehr sie ihn, das war der heilige Grund, auf dem er sich mit seiner Gemeine zusammenfand. Aber ist im Kreuze nur Liebe wirksam? Tod bleibt Tod, auch wenn der Sohn Gottes stirbt, zumal wenn er am Kreuze stirbt mit Psalm 22 im Herzen. Er ist nicht nur Gabe der Gnade, sondern zu allernächst Sold der Sünde; nicht nur Liebeserweis, sondern in erster Linie richterliche Tat. So schaut Paulus aufs Kreuz als auf den Gegensatz zu jener göttlichen Geduld, die ohne Ahndung vergibt, als auf die Verurteilung der Sünde durch den richtenden Gott, aus der darum für den Menschen zunächst nicht Leben, sondern ein Mitsterben fließt. Das ist das Wunderbare in jener Tat Gottes, daß sich in ihr Tod und Leben, Gericht und Erlösung, Zorn und Gnade durchdringt und einigt zu einer wunderbaren Gottesgerechtigkeit. Diese Einheit nicht aufzulösen, sondern nach ihren beiden Seiten gleichmäßig festzuhalten, wird uns freilich überaus schwer, uns, denen jede wahrhafte Einigung zweier Kräfte ein unauflösbares Rätsel bleibt. Kreuzesschwärmerei wird dann ein innerlich Mögliches, wenn das, was im Sterben Jesu göttlich geeinigt ist, auseinander gelöst wird. In solchen Kreisen der Kirche, wo man dasselbe mit dem Auge der Angst nur nach seiner gerichtlichen Seite betrachtete, kam es zur Nachahmung der Marter Jesu in eigener Geißelung. In Zinzendorfs Kreise war die Anschauung überwiegend auf die Liebe im Kreuze gerichtet, und auch hier kam es zur Kreuzesschwärmerei, doch in entgegengesetztem Sinne, zum Liebesspiel mit Jesu Tod. Die Brüder liebten den Gekreuzigten ehrlich, darum erwachten sie wieder, richteten sich und lenkten ein. Doch bleiben diese Schwankungen lehrreidi als ein Beispiel dafür, wie auch unsere höchsten Strebungen sich schwärmerisch verirren können, sowie diejenige Wahrheit, die ihnen als Maß und Grenze entgegensteht, aus dem Auge verloren wird.
In dem, was der Schwärmerei fehlt, liegt allein ihre Überwindung, in der Wahrheit nämlich. Wer auf die Wahrheitsfrage verzichtet, schneidet sich damit jede Möglichkeit ab, zwischen gesunder und schwärmerischer Religiosität zu unterscheiden. Und in der skeptischen Verseuchung unseres Denkens liegt der Grund, weshalb wir den schwärmerischen Erscheinungen der Gegenwart so wehrlos gegenüberstehen. Der Gamalielsrat bewahrt vor Schiffbruch nicht, heute so wenig, als er damals die, die Jerusalems Schicksal in ihrer Hand trugen, vor dem Untergang rettete. Wir müssen absehen vom Erfolg äußerer oder innerer Art, absehen auch vorn Wolilmeinen der Beteiligten und fragen lernen nach dem, was Wahrheit ist vor Gott. Verzagtem Kleinmut, der sich nicht an diese Frage wagt, ist ein Doppeltes zu sagen, einmal dies: Enthielt die Schrift die Korrektur zum Pepuzawahn oder nicht? Gab sie dem selbstmörderischen Märtyrer Aufschluß über den Wert seines Tuns oder nicht? Beleuchtete sie die täuferische Vergottung oder nicht? Wies sie das tändelnde Spiel mit Jesu Liebe zurecht oder nicht? Die Schrift hat sich tatsächlich an aller christlichen Schwärmerei als das zweischneidige Schwert erwiesen, das bis ins Innerste scheidend dringt, sie wird dieselbe Funktion auch an aller modernen Schwärmerei üben. Sodann, mag uns die Wahrheit unerreichbar hoch scheinen, so liegt doch Wahrhaftigkeit zweifellos in unserem Bereich. Wie die Wahrheit ihren subjektiven Widerhall in der Wahrhaftigkeit hat, so ruft der Wahn notwendig die innere Künstelei, Gewalttaten, die die Wahrnehmung hemmen, und absichtliche Erregung von Empfindungen und Strebungen, die man nicht hat, hervor. Bietet auch der Abscheu vor religiöser Schauspielerei noch nicht Einblick und Urteil über Bewegungen, die uns umgeben, so doch persönlichen Schutz der eigenen Lebensentfaltung. Religiöse Künstelei aber verwirft die Schrift deutlich genug.
Wahrheit! Sie allein ist es wert, daß der Mensch seine Person und sein Leben an sie setzt. Je vollständiger er es tut, um so mehr gesundet er. Paulus konnte auf das Urteil des Festus mit vollem Recht antworten: „Ich rede vernünftige Worte„, darum, weil er sich dem wahrhaftigen Gott ergeben hat, — dem, der die Wahrheit ist14).