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Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Daniel.

Stellen wir das Buch Daniel in die Zeit des Exils, so bringen seine Angaben über den Gang der Weltgeschichte unlösliche Schwierigkeiten mit sich. Es nennt uns vier Könige: Nebukadnezar, Kp. 1-4, dessen Sohn Belsazar, Kp. 5, Darius, den Sohn des Xerxes, den Meder, Kp. 6. 9,1, Cyrus, den Perser, 1,21. 6,28. 10,1. Dies stimmt nicht genau mit dem Gang der Dinge in Babylonien überein.

Nebukadnezar und Belsazar, der Sohn Naboneds, waren weiter von einander entfernt, als es der Bericht Daniels erraten läßt; auch kam Belsazar nicht mehr zu eigner Regierung auf den Thron. Auch in den Angaben über den medischen Weltherrn Darius, der in Babylon über 120 Provinzen regierte, liegt eine getrübte Erinnerung. Zwischen dem Letzten babylonischen König und Cyrus gab es keinen solchen Zwischenraum. Wenn in der That unmittelbar nach Naboned, dem letzten babylonischen König, ein Meder in Babylon befahl, so kann es nur ein Vizekönig und Statthalter des Cyrus gewesen sein.

Es ist leicht erklärlich, wie sich in einiger Entfernung von den Ereignissen diese Erzählungsweise bilden konnte. Es lebten in der Erinnerung der Völker neben den Persern auch die Meder als gewaltige Kriegsmacht fort. Ihrem Schwert war Ninive erlegen und ihre Überwindung hatte für Cyrus und die Perser den Weg zur Weltherrschaft gebildet. So folgen sich ein babylonisches, ein medisches und ein persisches Königtum, und die Verschiebung der Überlieferung bestand nur darin, daß alle gleichmäßig in die großen Königsstädte Mesopotamiens, Babel und Susa, verlegt worden sind, während in Wirklichkeit die medischen Fürsten gleichzeitig mit den babylonischen Königen regierten und ihre Macht nicht über Babel ausdehnten. Erst Cyrus war der Nachfolger und Erbe der babylonischen Könige.

Die Bedeutung des Buches Daniel liegt somit nicht darin, daß es uns über die Geschichte des 6. Jahrhunderts Nachricht gäbe, welcher es offenbar schon fern steht. Vielmehr liegt die Kraft und das Gewicht des Buchs in seiner Weissagung, d. h. darin, daß es die Stellung, die Gott Israel unter den Völkern gegeben hat, ins Licht hebt, und den Weg und das Ziel seiner Führung zeigt. Diesem prophetischen Zwecke dienen nicht bloß die Gesichte und Weissagungen des zweiten Teils, sondern auch die Erzählungen, aus denen der erste Teil des Buchs besteht.

Was ist der Vorzug des Juden oder was hilft die Beschneidung? In jeder Hinsicht viel! (Röm. 3, 1.) Dies zu zeigen, ist der Zweck des erzählenden Teils. Er hält uns die Ohnmacht aller menschlichen Macht vor, die Gott vergißt oder vollends sich wider ihn erhebt, und die Allmacht der göttlichen Bewahrung über denen, die ihm dienen, aber auch den Anspruch, den der Dienst Gottes an Israel stellt, was Treue gegen Gott heißt und Freiheit von Menschendienst und Menschenfurcht, wie der Dienst des wahrhaftigen Gottes das ganze Herz fordert und einen Heldensinn, der Gut und Blut ruhig und willig vor Gott niederlegt.

Der wahrhaftige Gott und das treue Israel. 1-6.

Daniel und seine drei Freunde, die am Hofe Nebukadnezars auferzogen wurden, genießen nicht Fleisch noch Wein von des Königs Tafel, weil sie auch im Palast und Dienst des heidnischen Herrn rein bleiben wollen. Die Treue, die sie damit Gott erweisen, wird ihnen dadurch gelohnt, daß sie nach Leib und Geist unter allen Jünglingen des Hofs die ersten sind. 1.

Nebukadnezar, der Herr der Welt, der das Geschick der Völker in seinen Händen trägt, ist mit allen seinen Magiern unwissend über das Ziel des Weltlaufs, während Daniel durch die Erleuchtung Gottes erkennt, wohin der Wandel und Wechsel der Weltreiche zielt und wer der wahre Erbe der Erde ist. Kein Magier kann Nebukadnezar seinen Traum erzählen, in welchem er ein aus den vier Metallen erbautes Bild sah, das mit einem goldnen Haupt beginnt, und mit halb eisernen, halb thönernen Füßen endet, und von einem Stein zermalmt und spurlos weggeweht wird, während der Stein, der es zerstörte, zum großen Berge wird. Nur Daniel wird von Gott das Geheimnis und seine Deutung mitgeteilt. So verkündigt er denn dem Weltbeherrscher den Wandel und Wechsel und die Vergänglichkeit aller irdischen Königtümer, und den endlichen und unvergänglichen Sieg des Reiches Israels. Und dafür wird er zum Herrn von Babel gemacht.1) 2.

Daniels drei Freunde opfern ihr Leben, um sich vor keinem Bilde zu beugen, und Gott gesellt ihnen vor des Königs Augen im Feuerofen seinen Engel bei. So fordert Gott von seinen Dienern den Märtyrermut; aber indem sie ihr Leben opfern, erhalten sie's. 3.

Nochmals steht Daniel vor Nebukadnezar und verkündigt ihm diesmal, daß in seinem eigenen Lebensgang die Obmacht Gottes erscheinen wird, der alle Überhebung der Menschen in den Staub herunterbeugt. Nebukadnezars Traum thut ihm kund, daß er wahnsinnig und zu den Tieren erniedrigt wird, daß ihm aber Gott den Thron erhält, und als der König dies erlebt, wird er zur Anbetung des Gottes Israels gebracht. Nicht Israel soll sich zu den Göttern der Heiden wenden, sondern der Heide wird zum Gott Israels herzugebracht. 4.

Auf Belsazars Übermut fällt Gottes Gericht zerschmetternd herab. Er hat in seinem trunknen Frevelmut die Gefässe des Tempels entweiht und Gott verhöhnt. Da deutet ihn Daniel die Worte, die ihm eine himmlische Hand hingeschrieben hat, daß er gezählt und gewogen worden ist und sein Königtum von ihm genommen und den Persern gegeben ward. 5.

Und nun folgt ein Beispiel der Treue bis in den Tod. Daniel ist unter Darius zur höchsten Macht gelangt. Aber das Gebet zu Gott unterläßt er nicht, auch nicht auf des Königs Befehl. Er läßt sich den Löwen vorwerfen und wird nicht versehrt. 6.

Der zweite Teil des Buches besteht aus vier Gesichten Daniels, die Israel zeigen, wie es die großen Entwicklungen der Weltgeschichte zu verstehen hat.

Die Gesichte über den Verlauf und das Ende der heidnischen Weltreiche. 7-12.

Aus dem Meere steigen vier wilde Tiere empor, zuerst der geflügelte Löwe, dann der Bär, dann der vierköpfige Panther mit vier Flügeln, dann ein unbenennbares, schreckliches Tier mit zehn Hörnern, unter denen hernach noch ein kleines Horn hervorwächst, das Gott lästert und Israel verfolgt. Doch nun öffnet sich der Himmel. Gott erscheint im Kreise der himmlischen Schaaren als Richter und das gottlose Tier wird vernichtet. Nun wird eine Menschengestalt vor seinen Thron gebracht und auf ewig zum Herrscher gemacht. Die Deutung erklärt, daß mit den wilden Tieren vier Könige abgebildet seien, die das Weltregiment in ihre Hand bringen, während der von Gott gekrönte Menschensohn bezeichnet, daß Gott der heiligen Gemeinde seines Volks die ewige Herrschaft verleiht. 7.

Den doppeltgehörnten Widder, das medisch-persische Königtum, stößt der Ziegenbock, der aus dem Westen dahereilt, Alexander der Große, darnieder. Aber das lange Horn an seiner Stirne zerbricht; Alexander stirbt. An seiner Stelle erstehen vier andre Hörner, Alexanders Nachfolger. Aus einem derselben erwächst das kleine Horn, welches das Opfer aufhören macht und den Tempel schändet, Israel verfolgt und gegen Gott streitet und umkommt nicht durch Menschenhand. Das ist Antiochus Epiphanes, der das Judentum mit Gewalt und Blut auszurotten unternahm. 8.

Durch Jeremia's Wort, das Jerusalem nach 70 Jahren die Befreiung verhieß, wird Daniel zu einem dringenden und demütigen Gebet um die Hilfe für Zion getrieben. Die Antwort ist ein neues Gesicht, welches den Zeitraum zwischen der Weissagung und ihrer Erfüllung auf 70 Wochen bestimmt. 7 verfließen, bis das Volk einen gesalbten Fürsten hat; 62 Wochen dauert der dürftige Bestand Jerusalems und die letzte Woche ist zur Hälfte von der Verfolgung ausgefüllt. Einer der himmlischen Fürsten erscheint, spricht von den Kämpfen droben zwischen den himmlischen Führern der Völker und gibt hierauf Daniel eine Übersicht über den Gang der Geschichte bis auf Antiochus Epiphanes. Zuerst folgen einander vier mächtige Perserkönige, bis der vierte derselben die Griechen aufreizt. Dann erscheint Alexander, dessen Reich auseinandergeht in das südliche Königtum, Ägypten, und in das nördliche, Syrien. Hin und her geht der Kampf zwischen beiden, bis Antiochus Epiphanes die Schreckenszeit über Israel bringt. Aber hinter derselben kommt die Erlösung und die Auferstehung, und die Dauer der Not wird feierlich auf 1290 Tage bestimmt. 9-12.

Offenbar tritt in diesen Gesichten der syrische König Antiochus Epiphanes (a. 175-164) sehr bedeutsam hervor. Für Kp. 8 und 11, und wohl auch für Sp. 72) bildet er den Schluß und Zielpunkt der Weissagung. Denn die Regierung dieses Königs war ein wichtiger Wendepunkt für Israel. Seit Alexander dem Großen nahmen die vorderasiatischen Gegenden rasch eine griechische Färbung an. Der Glanz und die Lust eines feinen, freien Lebensgenusses, wie ihn die Griechen bei sich ausgebildet hatten, lockte die Völker. Griechische Sitte und Sprache, Kunst und Religion wurden überall verehrt und nachgeahmt. Das brachte auch der jüdischen Gemeinde eine schwere Versuchung. Noch niemals war ihr das Heidentum so bezaubernd nahe gekommen wie jetzt in der griechischen Gestalt. Das waren nicht mehr die wilden Götzendienste der früheren Zeit, wo man das erstgeborene Kind in's Feuer warf. Jetzt trat das Heidentum als feine Gesittung, als Reichtum von Erkenntnis, als Inbegriff aller Schönheit und freien Genießens auf. Griechisches Wesen drang auch in Jerusalem tief ein und diese innere Gährung wurde noch dadurch verschärft und beschleunigt, daß Antiochus Epiphanes, einer jener Könige, die für ihre Macht und Laune keine Grenze achten wollten, an der abgeschlossenen Stellung der Judenschaft sich ärgerte und dieselbe mit Gewalt seinen übrigen Unterthanen in der Verehrung der griechischen Götter gleichmachen wollte. Er verbot die Kennzeichen der jüdischen Frömmigkeit und Gesetzestreue bei Todesstrafe. Nun zeigte sich freilich im Volk viel Todesmut; aber auch weltlicher und knechtischer Sinn war reichlich in der Gemeinde vorhanden. Die Frage war noch nie so ernst geworden, ob Israel und sein Tempel fortbestehen würden oder nicht. Und als die Makkabäer mit dem Schwerte in der Hand die Frage lösten, und der Tempel auf's neue geweiht und Jerusalem unabhängig gemacht war, da hatte das Judentum auch innerlich eine neue Gestalt gewonnen. Sein Dienst am Gesetz war eifriger geworden, aber auch härter, ängstlicher und knechtischer, und die Mauer, die es von den Völkern trennte, war höher und fester als je zuvor. Nun war's entschieden, daß niemand als der Pharisäer der rechte Israelite sei.

Unter den verschiedenen Ansichten über den Ursprung des Buches Daniel wird diejenige am wenigsten Gefahr laufen irre zu gehen, die es mit dieser makkabäischen Not- und Entscheidungszeit zusammenbringt. Das freilich ist nicht richtig, daß das Buch die Absicht habe, unmittelbar in die Zeitereignisse einzugreifen und zum Kampf gegen Antiochus zu entflammen. Von Revolution und Krieg ist hier nirgends die Rede und von der leidenschaftlichen Aufregung jener Zeit zeigt sich keine Spur. Das Buch nimmt seinen Standort viel höher in einer erhabenen feierlichen Ruhe. Jedenfalls war damals die makkabäische Not noch nicht vorüber; sie war schwerlich bereits angebrochen. Der Verfasser sieht sie kommen und bereitet die Gemeinde auf dieselbe vor dadurch, daß er ihr zeigt, was die Welt und was die Gemeinde Gottes ist und wird. 3)

Dem vom Griechentum innerlich angefochtenen und äußerlich bedrückten Volke hält der erste erzählende Teil des Buchs die Reinheit, die Treue und den Heldenmut Daniels und seiner Freunde vor, und die Demütigung Nebukadnezar: vor Gott und den Sturz Belsazars. Jetzt gilts die Erkenntnis zu bewahren, wie nichtig der Mensch ist in seiner Loslösung von Gott, und wie hoch er erhoben wird, wenn er ihm in Treue dient. Daniels Überlegenheit über die Gewalthaber seiner Zeit zeigt Israel den Weg, wie es über die Verlockung und Bedrückung der heidnischen Welt den Sieg behält. Denselben tiefen Gegensatz an's Licht zu ziehen nach seiner weltgeschichtlichen Gestalt, ist auch der Inhalt und Zweck der Gesichte des zweiten Teils. Was sind jene glänzenden Machthaber, deren Ruhm die Völker bezaubert und um deren Gunst sie alles opfern? Sie sind die Glieder jener Bildsäule, die Nebukadnezar sah, die auf thönernen Füßen steht, und ihre Kämpfe und Siege sind nur die Triumphe des wilden Tiers in neuer Gestalt. Sie kommen und gehen wie ihre Vorgänger und haben ihre bemessene Frist. Israel hat nichts von ihnen zu hoffen und nichts von ihnen zu fürchten. Ihre Größe gehört einer niedrigeren Ordnung der Dinge an, während Israel etwas ungleich höheres beschieden ist. Ihm wird die unvergängliche Krone gezeigt, das Reich von oben nicht von unten, ein Himmelreich, das ihm Gott bereiten wird. Wohl wird es von den Weltmächten für eine kurze Frist gedrückt, aber es kann ihnen nicht erliegen. Es soll auch in der Zeit der Not wissen, daß es der Erbe der Erde ist, unbezwingbar von jeder heidnischen Macht und erhaben über jeden irdischen Thron.

Schrieb der Verfasser in der griechischen Zeit, so wurden ihm die äußeren Ereignisse, von denen er spricht: der Sieg und der Tod Alexanders des Großen, die Kriegsthaten der ägyptischen und syrischen Könige u. s. w., nicht durch besondere Erleuchtung mitgeteilt. Deswegen hat das Buch doch ein großes Wunder in sich. Daniel predigt mit großer Kraft den schmalen Weg, die Welt nicht lieb zu haben, noch das was in der Welt ist, und teilt denen, die ihn suchen, das ewige Leben zu. Nun ist's stets ein großes Wunder Gottes, wenn ein menschliches Auge denselben sieht und die Straße, auf der die Völker mitsamt der großen Menge Israels strömten, dahinten läßt. Seine prophetische Erleuchtung besteht darin, daß er durch das durchschaut, was das Auge äußerlich erfüllt und besticht, zu Gottes Rat empor, daß das göttliche Wort ihm etwas von dem zeigt, was die Dinge und Menschen vor Gott sind, so daß er den Weltlauf unter sein göttliches Gesetz zu stellen vermag. Das hat Daniel mit Alexander dem Großen und Antiochus Epiphanes nicht weniger kräftig und geistvoll gethan, als Jesaja mit Assur und Jeremia mit Babylon. 4)

Oder müssen wir die Verhüllung, die das Buch sich gibt, anstößig finden, weil dadurch Täuschung und Unredlichkeit sich an dasselbe anzuhängen scheint? Allerdings ist die Form des Buchs, welche den ganzen Inhalt desselben in den Geist Daniels zurückverlegt und den Verfasser völlig hinter ihm verschwinden läßt, künstlich in dem doppelten Sinn, den das Wort haben kann: es liegt hierin ein Stück poetischer Kunst und Gestaltungskraft, die dem Wort eine eindringende Spitze und aufweckenden Reiz zu geben vermag, zugleich aber auch etwas von berechnungsvoller Künstlichkeit. Wir werden die freie offne Art, wie Jesaja vor König und Volk hintrat, oder den Mut, mit dem Jeremia seine ganze Person mit seiner Rede einsetzte, höher zu schätzen haben. Aber die Höhe, bis zu der die Prophetie emporzusteigen vermag, hängt auch vom Stand der Gemeinde ab, zu der sie spricht. Jerusalem besaß damals keine fortlebende, immer neu hervorbrechende Weissagung mehr. Die Triebe und Kräfte der Zeit waren rückwärts auf das Gesetz gewandt, damit Israel bewahre, was es empfangen hatte. Die Kraft und Schwäche der Gemeinde wird durch das Wort bezeichnet: „ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist,“ und der Verfasser Daniels hatte noch nicht den Beruf, über jenen Spruch hinauszugehen und fortzufahren: ich aber sage euch. Er hat deshalb einen Alten5) gesucht und an ihm dargestellt, was er durch die Erleuchtung des göttlichen Geistes seinem Volke zu sagen sich getrieben sah. Wir werden uns den Verfasser des Buchs zu denken haben, wie er uns selbst Daniel beschreibt. Auch Daniel tritt nicht in der Art der älteren Propheten auf mit dem Wort: „ich bin des Herrn Bote! Er ist der Weise“, der forschend Gottes Geheimnisse bedenkt und dabei mit besondern Aufschlüssen begabt wird, so daß er die Rätsel des Geschichtslaufs deuten kann. Ähnlich steht der Verfasser des Buchs demjenigen Hiobs ebenso nah als den alten Propheten, nur daß sein forschendes Sinnen nicht auf Gottes Führung mit den einzelnen Gerechten, sondern auf seine Weltregierung im großen mit Israel und den Völkern geht.

Er hat uns absichtlich einen Mann aus dem babylonischen Exile vorgeführt, und zwar einen solchen, der mitten im heimischen Leben und Treiben stand und am babylonischen Staat in hoher Stellung betheiligt war, nicht einen Forscher und Beter abseits in einer Hütte, sondern den königlichen Statthalter von Babylon. Mit dem Exil hat sich Israel dieselbe Aufgabe zum erstenmal gestellt, die vergrößert und erhöht mit dem Griechentum wieder kam. Damals wurde Israel zum erstenmal hinausgeführt aus seiner abgeschlossenen Heimat in's Völkergewimmel. Nun galt es mitzuhandeln in der Weltgeschichte, mit den Heiden zusammenzuleben und doch ein Israelite zu bleiben und nicht einen Zoll vom Herrn und seinem Gesetz abzuweichen. Daß man das könne und auf welchem Wege man das kann, das hatten die Männer in Daniels Art und Zeit zum erstenmal gezeigt.

So ist denn auch der Blick des Buchs weit über die Botschaft der ältern Propheten hinaus ausgedehnt. Jenen stand Jerusalem vor Augen als der Gegenstand ihrer Sorge und Klage und ihres Trosts, und von den Völkern sprachen sie, soweit als sie mit Israel zeitweise zusammenstießen. Jetzt umspannt die Weissagung die Welt. Der Gegensatz lautet nicht mehr: Zion und Assur, Jerusalem und Babel, sondern Israel und die Welt. Auch Antiochus ist nur ein Glied in einer langen Reihe, ein kleines Horn am wilden Tier. Und das Reich Gottes besteht nicht nur in der Verklärung Jerusalems, sondern es erfüllt die weite Welt.

Das Buch hat auf die Judenschaft einen großen Eindruck gemacht. Es zeigt sich dies schon darin, daß es noch in die Sammlung der heiligen Bücher aufgenommen ward. 6) Josephus, der jüdische Geschichtschreiber nach der Zerstörung Jerusalems durch Titus, sagt uns, daß es das Lieblingsbuch Israels zu seiner Zeit gewesen sei. Auch das Neue Testament schließt sich vielfach an Daniel an. 7) Das hängt gerade mit seiner spätern Abfassungszeit zusammen. Es fügt zum Alten Testament das letzte Wort und gibt sowohl seinem Gebot als seiner Verheißung die Spitze. So Gott dienen, wie Daniel es that, das ist echtes Judentum; so auf Gottes Gericht und Reich hoffen, wie es Daniel Kp. 7 zeigt, das ist das Ergebnis der älteren Weissagung.

Es ist freilich auch von ihm dasselbe zu sagen, wie von Esra und Nehemia und Esther und allen spätern Büchern und Männern: sie zeigen, nicht bloß, was Israel empfangen hat, sondern auch was ihm noch fehlt. Der Macht der Menschen wird Gottes Macht entgegengehalten, der irdischen Herrlichkeit die Herrlichkeit von oben. Nicht ihr, sagt Daniel den Besitzern der Erde, sondern wir werden mit Gott herrschen. Israel hat das leicht ins fleischliche verkehrt und nichts begehrt als die Offenbarung der göttlichen Macht sich selbst zur Erhöhung und das Sitzen auf seinem Thron und die Verdrängung der Heiden, damit es selbst deren Stelle einnehme. Daniel selbst ist nicht fleischlich, sondern schaut mit demütigem Sinne zu dem Gott empor, der Geist und Gnade ist. Da heißt es deutlich: nicht wir sind's, die da herrschen durch uns selbst, sondern allein um Gottes willen. Nicht umsonst steht vor dem Gesicht, das die Zeit der Erlösung bestimmt, Daniels Bußgebet, das sich auf's tiefste vor Gott demütigt. Das Himmelreich kommt nicht in der Weise und mit den Waffen eines wilden Tiers. Es ist nicht von dieser Welt. Aber wenn wir das Neue Testament daneben halten, dann fällt auf Daniels Wort erst das rechte Licht. Wenn wir bei Jesus lernen, wie Gott sein Reich zu uns bringt, und sein Kreuz zu Daniels Wort hinzufügen, dann verstehen wir seine Weissagung von der Nichtigkeit aller menschlichen Macht und Welteroberung, wie vom Sieg und der Herrlichkeit der heiligen Gemeinde, nach Gottes Sinn.

1)
Beim Bericht über die Verhandlung mit Nebukadnezar geht der Verfasser, 2,4, ins Aramäische über, das ihm eben so geläufig ist als das Hebräische. Erst mit Kp. 8 kehrt er zum Hebräischen zurück. Es ist dieselbe Erscheinung wie bei Esra.
2)
Bei dieser Auslegung wird das kleine Horn Kp. 7 mit dem kleinen Horn Kp. 8 zusammengefaßt. Dann ist bei den vier Tieren und ebenso bei den vier Stücken der Bildsäule an das babylonische, medische, persische und griechische Weltregiment zu denken. Dann wird der Weltlauf nicht weiter hinaus beleuchtet, als bis zur griechischen Zeit, und der Untergang des Antiochus Epiphanes ist das letzte Ereignis, von dem bei Daniel gesprochen wird. Die älteren Ausleger fassen das medisch-persische Königtum zusammen, ähnlich wie es Daniel 8,3 u. 5,28 verbunden hat. Bei dieser Auslegung ist der Panther das Zeichen Alexanders und der Griechen und das letzte schreckliche Tier reicht dann über die griechische Periode hinaus und wäre, vom Standpunkt der Erfüllung aus benannt, Rom.
3)
Es lassen sich zwar auch frühere Zeitlagen denken, die zu einer solchen Bezeugung der besondern Stellung und Berufung Israels im Unterschied von den Heiden den Antrieb boten, z. B. als sich das Perserreich seinem Untergang zuneigte und die griechische Macht als eine neue Kraft in die Geschichte des Morgenlands trat. Die Anschaulichkeit, mit der das Treiben am babylonischen Hofe geschildert ist, könnte darauf hinzeigen, daß der Verfasser den alten orientalischen Herrschern noch näher stund. Jedenfalls hat er alte Nachrichten gehabt; ein Name wie Belsazar läßt sich nicht ersinnen. Kp. 11 spricht aber dafür, daß wir den Verfasser nahe bei Antiochus zu suchen haben. Dort wird der Geschichtslauf von Cyrus bis Antiochus in einer zusammenhängenden Linie abgezeichnet. Er wird entweder am Anfang oder am Ende derselben stehen. Am Anfang steht er nicht, weil ihm der Wechsel der Regenten im 6. Jahrhundert nicht mehr vollständig bekannt ist. So ists das wahrscheinlichste, daß er am Ende derselben schreibt.
4)
War die Fernsicht in die Zukunft, die Jesaja zur Zeit Sanheribs oder Jeremia besaß, größer als diejenige Daniels, auch wenn er in der ersten Zeit des Antiochus schrieb? Ich glaube nicht, daß sich dies bejahen läßt. Jesaja hat uns nicht gesagt, wie viel assyrische Herrscher Sanherib noch folgen würden, und Jeremia war das Werk und die Person des Cyrus noch nicht bekannt. Jesaja wußte und sagte, wozu Gott Sanherib nach Jerusalem schicke, was er daselbst auszurichten habe, und was er nicht erreichen werde trotz seines Übermuts. Und Jeremia's Beruf bestand darin, Jerusalem in Nebukadnezar die göttliche Zuchtrute zu zeigen, die dennoch Jerusalem nicht vernichten wird. Nicht anders hat Daniel der welterobernden Macht des Griechentums die Stelle angewiesen in Gottes Rat mit Israel.
5)
Da Ezechiel 14,14 20 Daniel mit Noah und Hiob zusammenstellt, als Beispiel eines Gerechten, der zu Gottes Ohr offenen Zugang hat, so ist nicht daran zu zweifeln, daß Daniel schon vor unserm Buche ein hochverehrter Mann gewesen ist.
6)
Es wurde nicht zu den Propheten, sondern in den dritten Teil der hebräischen Bibel gestellt. Diese Stellung ist vollständig erklärt, wenn es aus der griechischen Zeit stammt. Damals war die Sammlung der prophetischen Bücher fest umgrenzt.
7)
Vgl. Jesu letzte Worte auf dem Ölberg: Matth. 24,15, und vor dem Hohen Rat, Math. 26,64, ferner die Weise wie Jesus sich selber nennt: „Menschensohn“ vgl. Dan. 7, und wie er Gottes Gabe nennt „Himmelreich“ vgl. Dan. 2 u. 7, sodann die Weissagung der Offenbarung Joh. vom römischen Tier.