5. Mose, Kapitel 34
Mose stirbt 120 Jahre alt, wie die Schrift sagt, „auf den Befehl des Herrn.“ Dieser Befehl ist uns bekannt. Er wird 5. Mose 32, 48-52 zum letzten Mal wiederholt, unmittelbar bevor Mose den Stämmen Israels den Abschiedssegen gibt. „Steig auf das Gebirge Abarim und stirb auf dem Berge, auf den du steigen wirst!“ befielt ihm der Herr und begründet diesen Befehl noch einmal mit Angabe des Grundes, warum Mose das Land Kanaan nur sehen und nicht hinein kommen durfte: „Darum, weil ihr (Aaron und du) euch versündigt habt unter den Kindern Israels bei dem Haderwasser zu Kades in der Wüste Zin, da ihr mich nicht geheiligt habt unter den Kindern Israels.“ Wohl mochte Mose auch an sich selbst denken, wenn er im 90. Psalm klagt: „Das macht Dein Zorn, daß wir so vergehen und Dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen, denn unsere Missetat stellst Du vor Dich, und unsere unerkannte Sünde in das Licht Deines Angesichts.“ Wenn Gott die scheinbar kleine Sünde seines Knechtes mit früherem Tode bestraft, ist es dann zu verwundern, daß Er so viele von denen aus Israel, die Seinem Munde widerspenstig gewesen sind, so plötzlich dahingerafft hat?
Obwohl nun aber Mose in diesem Stück den Zorn des Herrn zu fühlen bekam (5. Mose 3, 26), daß er sein Leben beschließen mußte vor dem Einzug Israels in Kanaan, so trägt doch sein Ende nicht im Geringsten den Stempel eines Strafgerichts. Mose nahm nicht ein Ende mit Schrecken, wie so viele von denen, die zum Tode in der Wüste verurteilt worden sind; er starb nicht in der Wüste, sondern auf dem Berg, auf dem ihm das schöne Erbteil Israels entgegenwinkte. Sein Tod war kein trostloser Abschied, er schloß seine Augen mit hoffnungsvollem Blick in das Königreich des Herrn. Voll lebendiger Hoffnung stirbt der Knecht des Herrn. Sein Blick über daß ganze zukünftige Besitztum Israels ist ein wahrer Glaubensblick. Er sieht im Geiste dieses Volk, wie es siegreich auf den Höhen Kanaans einherschreitet; er sieht, wie Jehova König unter ihnen ist und in ihrer Mitte dort auf den Bergen von Jerusalem wohnt. Was will er mehr? Nun läßt der Herr seinen Diener in Frieden fahren, nach-dem seine Augen das Heil Israels gesehen haben. Wurde ihm auch nicht jeder Wunsch erfüllt, so ist es doch gewiß, daß Mose zufrieden stirbt. Und wenn am Ende einem Menschen gar nicht jeder Wunsch erfüllt worden ist, ja nicht einmal der sehnlichste Wunsch, den er gekannt, wenn er am Ende nur zuletzt nach mühevoller Wanderung sein Haupt im Frieden niederlegen kann, so ist er nicht zu bedauern, selbst wenn er wie Mose das Ziel nicht erreicht, das er sich gesteckt hat. Für Mose hat also der Tod keine Bitterkeit, trotzdem er in einem gewissen Sinne auch für ihn ein Sold der Sünde ist. Auch bei uns wird es so sein, wenn wir wie Mose sterben werden in dem Herrn. Auch unser Tod wir ein Sold der Sünde sein, der uns nicht erspart werden kann. Es mag sogar ähnlich wie bei Mose der Tod eines Gläubigen auf sein besonderes Verschulden zu-rückzuführen sein, und doch darf man angesichts desselben getrost aus-rufen: „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“. Denn sterbe ich trotz meiner Sünden im Glauben an den Herrn Jesus Christus, der dem Tode ein Gift und der Hölle eine Pestilenz sein will, so bin ich des ewigen Lebens gleichwohl gewiß. Denn der Tod ist der Sünde Sold, aber die Gabe Gotte ist das ewige Leben in Christo Jesu unserem Herrn. Der Tod nimmt dem Gläubigen nur sein leibliches Leben, während Christus ihm dagegen das ewige Leben gibt und zu ihm spricht: „Wer überwindet, dem soll kein Unrecht geschehen von dem anderen Tod.“ Der leibliche Tod vollzieht an dem Gläubigen sein Recht ebenso gut, wie an jedem anderen Menschenkind, das wieder zur Erde werden muß, davon es genommen ist. Aber der andere Tod hat an diejenigen kein Recht, die durch Christus davon erlöst worden sind. Je lebendiger diese Gewißheit ist, je mehr sie die Bitterkeit des Todes vertreibt, desto seliger wird auch das Ende des Gläubigen sein.
Spurgeon legt hierfür ein beachtenswertes Zeugnis ab, wenn er am Schluß einer seiner Predigten sagt: „Brüder, wenn ihr wißt, daß ihr das ewige Leben habt, so seid ihr bereit zu leben und bereit zu sterben. Wie oft werde ich doch an das Sterbebett eines unserer Gemeindeglieder gestellt! Schon hie und da habe ich zu mir selbst gesagt: „Ich werde gewiß einmal irgendwo ein Verzagtes treffen, es wird mir wohl hier und dort ein Kind Gottes begegnen, das in geistiger Umnachtung stirbt. Aber noch nicht eins habe ich getroffen! - Brüder, es ist ja möglich, daß ein Kind Gottes in der Verdunklung stirbt und trotzdem selig ist. Völlige Gewißheit ist nicht die Bedingung zur Seligkeit. Dennoch, merkt euch das, habe ich die vielen Jahre hindurch jedesmal gefunden, wenn ich ans Sterbebett eines Bruder oder einer Schwester aus unserer Gemeinde gekommen bin, daß sie mit der sicheren und festen Hoffnung, das Angesicht des Herrn in Herrlichkeit zu sehen, aus diesem Leben geschieden sind. Ich habe mich gewundert, daß dies so ausnahmslos der Fall gewesen ist und hebe es rühmend hervor. Sie haben oft zu mir gesagt, wenn sie gestorben sind. „Wir haben so gute Nahrung erhalten, daß wir wohl stark sein dürfen in dem Herrn!“ Ein Bruder sagte auf dem Sterbebett zu mir; „Ich zweifle nicht an meiner ewigen Seligkeit. Diese ganze lange und schmerzhafte Krankheit hindurch wurde mir mein Anteil an Christus durch keinen Schatten von Zweifel in Frage gestellt. Ich habe in Wahrheit völligste Seelenruhe genossen, während dieser Zeit; und, setzte er hinzu, “ das ist auch nichts als recht bei uns, die wir dem herrlichen Evangelium lauschen dürfen, denn die geistliche Nahrung, die wir erhalten, ist gut. Ich habe Sie nicht dreißig Jahre lang gehört und von der Bundestreue Gottes vernommen, um mit einer bloß zitternden Hoffnung zu sterben. ich weiß, an wen ich geglaubt habe und bin gewiß, daß er bewahren kann, was ich ihm anvertraut.“ Aus diesem Beispiel geht hervor, daß es die Gewißheit des ewigen Lebens ist, welche die Bitterkeit des Todes vertreibt. Mose stirbt getrost, denn er ist gewiß, daß Israel sein Erbteil erlangen wird, das ihm der Herr zugeschworen hat.
So angenehm, kann ihm der Tod nicht schwer gefallen sein. Gern schickte er sich zur letzten Reise an. „Mose stieg von der Ebene Moabs auf den Berg Nebo, auf die Spitze des Pisga“. Wir können uns freilich denken, daß diese lange Reise dem alten Mann beschwerlich war. Bergbesteigungen nimmt ein alter Mann nicht mehr zum Vergnügen vor und Mose machte diese Reise notwendigerweise ganz allein: Der Abschied vom Volk, das ja wußte, weshalb er ging, tat ihm selbst noch weher als dem Volk, das ihn doch dreißig Tag lang beweint hat. So mag auch unser Todesgang eine letzte beschwerliche Reise sein, dazu ein anderer uns gürtet und führt, da wir nicht hin wollen. Wird uns aber auch vielleicht eine letzte schwere Krankheit und ein harter Todeskampf erspart, so betreten wir doch sicherlich wie Mose die Todesbahn allein, und es ist Niemand von den Unsrigen, der mit uns kommt. So war es bei Mose, und doch ging er gerne den steilen Berg hinan. Wartete doch dort oben der Herr auf ihn und nahm ihn in seine Arme auf. Er wußte, daß wenn er oben angekommen sei, so habe er auch den letzten Staub von seinen Füßen ,den letzten Schweiß vom Angesicht gewischt um fortan mit den Herrn allein zu sein; freute er sich wohl nicht darauf?
Dort oben störte ihn niemand mehr im Umgang mit seinem Herrn. War es ihm einst in den 40 Tagen auf dem Berg Horeb so wohl gewesen, wie dachte er, muß es sein, wenn die Gemeinschaft mit dem Herrn ewiglich kein Ende nimmt. Was ihm der Herr einst noch versagt hatte, das stand ihm nun bevor; er sollte das Angesicht des Herrn schauen, der ihm einst gesagt hatte: „Kein Mensch wird leben, der mich sieht“.
Dieses Wort gibt uns eine Andeutung über Moses Todesart. Mose kann nicht an einer Krankheit gestorben sein, ebenso wenig an Altersschwäche, wenn es von ihm heißt: „Seine Augen waren nicht dunkel geworden, und seine Kraft nicht gewichen“ Vers 7. Woran starb er denn? Die jüdischen Ausleger sagen: „An einem Kuß von dem Mund des Herrn“. Diese liebliche Vorstellung stützt sich auf das wörtliche Verständnis von V. 5, wo es im Hebräischen heißt: „Und es starb daselbst Mose, der Knecht des Herrn, im Lande der Moabiter an dem Mund des Herrn.“ Das ist aber eine hebräische Redeweise und bedeutet soviel als: „Auf den Befehl des Herrn“ oder „nach dem Wort des Herrn.“ Immerhin kommt jene jüdische Auslegung der Wahrheit ziemlich nahe. Mose ist ohne Zweifel des allieblichsten und leichtesten Todes gestorben, den ein Mensch sterben kann; er ging im Anblick des Herrn seines Gottes sozusagen unbemerkt hinüber in die Ewigkeit. Der Herr hat ihm den Wunsch erfüllt, den Mose einst auf dem Berg ausgesprochen hat, Er hat ihm seine Herrlichkeit gezeigt, aber nach des Herrn Voraussage war dieser Anblick seiner Herrlichkeit für den Menschen zugleich der Tod. Aber o, was für ein seliger Tod ist das, sterben an dem Anblick des Herrn, wobei der Tod sozusagen nur zu einem Versinken im Meer der göttlichen Liebe und des ewigen Lebens wird! Wer so stirbt, der stirbt wohl; er schmeckt des To-des Bitterkeit ja kaum, er merkt es kaum, daß er wirklich stirbt, weil sein Tod der Übergang zu einer höheren Stufe des Leben wird. Daß Mose je-doch dem Leibe nach wirklich gestorben ist, geht aus der Bemerkung hervor, daß der Herr ihn begraben hat. Der Herr begrub ihn selbst oder ließ es durch seine Engel tun. Das beweist, wie auch der Leib seiner Heiligen Ihm teuer ist, da daß Er ihn zu Auferstehung aufbewahrt. Er ließ Niemanden wissen, wo Mose begraben sei, und das war gut, sonst hätte man das Grab am Ende noch zum Gegenstand abergläubischer Verehrung gemacht.
Brosamen, Juni 1890