Es gehört zu den besonders gnadenreichen Fügungen, durch welche der HErr der Gemeinde an unserer Württembergischen Kirche auf so ausgezeichnete Weise sich verherrlicht hat, dass Er ihr gerade in der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis in den Anfang des gegenwärtigen herein so teure und kräftige Zeugen der Wahrheit geschenkt hat. In einer Zeit, in welcher immer gewaltiger und anmaßender an den Grundfesten der evangelischen Wahrheit gerüttelt wurde, in einer Zeit, in welcher eine flache Verseichtigung der Grundwahrheiten heiliger Schrift und ein geist- und herzloses Moral-Geschwätz allenthalben in der deutschen Kirche überhand nahm, gefiel es GOtt, gerade in unserem württembergischen Vaterland das helle Licht des Evangeliums ungeschmälert auf dem Leuchter zu erhalten und Männer zu erwecken, auf die wir mit Ehrfurcht und Bewunderung, so wie mit innigem Danke gegen den HErrn der Gemeinde, der sie zur rechten Zeit und Stunde in den Weinberg gesendet, zurückblicken dürfen. Ausgerüstet mit den Waffen einer gründlichen und gesunden Gelehrsamkeit wussten sie in geistlicher Ritterschaft das Feld zu behaupten, und - gewurzelt in innerer lebendiger Erfahrung vom Heile in Christo - haben sie, je flacher und seichter die christliche Welt wurde, nur um so tiefer und gründlicher in dem Worte des Lebens geforscht, also dass die reichen Ergebnisse ihrer lebendigen Herzens-Theologie Vielen Tausenden zu einem kräftigen Halt, zur Labung und zur Stärkung wurden. Sie haben einen guten Kampf gekämpft und Glauben gehalten, und wir Enkel genießen jetzt die edlen Früchte ihrer unverdrossenen Arbeit und ihres errungenen Sieges. In jene himmlische Wolke von württembergischen Zeugen, unter denen ein Bengel, ein Steinhofer, ein Roos, der ältere und jüngere Storr oben an stehen, reiht sich auch der verewigte Carl Heinrich Rieger ein, aus dessen hinterlassenen Papieren hier noch einige der Aufbewahrung und Veröffentlichung werte Blätter christlichen Lesern mitgeteilt werden.
Aufgewachsen an der erziehenden Hand einer der Zierden der vaterländischen Kirche im vorigen Jahrhundert, seines im Dienste des Evangeliums mit großem Segen wirkenden Vaters, Georg Conrad Rieger, dessen kräftige Weckstimme noch jetzt in seinen hinterlassenen Schriften durch unsere Gemeinden wandelt, kannte der würdige Sohn kein höheres Glück, als in so hell leuchtende Fußtapfen eintreten zu dürfen. Ein Feind aller unnötigen Grübeleien, so wie auch jener falschberühmten Kunst, welche das Schriftwort entleert, statt erklärt, erbaute er sich und die, die ihn hörten, in Einfalt und Demut auf das lautere und ursprüngliche Zeugnis heiliger Schrift. Dieser aber wusste er durch sein in mancher prüfenden Läuterung geschärftes Auge, so wie durch den reichen Schatz seiner inneren Erfahrungen so viele und so ansprechende Seiten abzugewinnen, dass an seiner Hand das herrliche Wort Luthers uns besonders verständlich werden kann: „die Schrift gleiche einem vollen, mächtigen Baum, voller Ästlein und Zweige, und es komme nur auf uns an, allezeit noch ein paar Äpflein und Birnlein herunterzuklopfen.“ Ja, Rieger, wie sein Vorgänger und Muster, der ehrwürdige Bengel, hatte gerade die besondere Gabe, jene lieblichen Früchte des Lebensbaumes auch dann, wenn sie hinter Laubwerk und Gebüsch versteckt waren, herauszufinden, und der Christengemeinde in den Schoß zu schütten.
Es ist schmerzlich zu bedauern, dass es dem durch seine ausgebreiteten Berufsgeschäfte vielfach in Anspruch genommenen Manne nicht möglich war, die ganze Heilige Schrift in der Art zu bearbeiten, wovon eine Probe in seinen Betrachtungen über das Neue Testament vor uns liegt. Als ein kurzer Grundriss, wie der Verfasser etwa das Alte Testament behandelt haben würde, können diese gedrängten Bemerkungen über die Psalmen angesehen werden. Zwar befliss er sich in ihnen einer Kürze, die den aufmerksamen Leser, der - durch die mehr nur eingestreuten Winke lüstern gemacht, Ausführlicheres vernehmen möchte - in beständiger Verleugnung übt; allein auch in dieser Kürze weiß er des Brauchbaren und des auf Herz und Leben Anwendbaren so viel zu geben, dass man an seiner Hand nicht ohne Segen durch das heilige Psalmbuch hindurchwandeln wird.
In diesem Buch, sagt Luther, sieht man allen Heiligen ins Herz. Und so ist es auch. Die tiefsten Bewegungen und die heiligsten Anliegen, welche je mit Freude und Leid, mit Trauer und Wonne, mit Klage und Dank die Herzen der Gläubigen des alten Bundes erfüllten, sind hier wie in einer heiligen Urne aufbewahrt. Der Notruf aus der dunklen Tiefe der Leiden, so wie der Lobpsalm nach Errettung und Hilfe schlagen hier an unser Ohr; der Jammer einer vom Gesetz und vom Bewusstsein der Schuld und Verdammnis darniedergebeugten Seele, so wie das Frohlocken eines auf Adlersflügeln des Glaubens zur Sonnenhöhe der Rechtfertigung und Kindschaft emporgehobenen Gemütes durchdringen hier unser Herz. Die heiße Arbeit eines im Kampf mit der Welt und mit Feinden aller Art ringenden Geistes, so wie das volle Genüge eines unter die Fittiche der Hirtentreue des HErrn sich friedsam schmiegenden Kindes GOttes treten hier vor unsere Augen. Und selbst den Liebenswürdigsten unter den Menschenkindern gewahren wir hier vorgeahnt und vorgebildet im Spiegel des prophetischen Wortes. Wie die Ahnung der Leiden Christi schaurige Schatten über die Seele eines Davids breitete, so warf der Blick auf die Herrlichkeit Seines kommenden HErrn und Sohnes einen hellen Sonnenstrahl in das Gebiet seiner Hoffnung.
So ist das Psalmbuch gleichsam eine Bibel im Kleinen und ganz geeignet, den aufmerksamen Leser hineinzuführen in das Herz Seines GOttes und in sein eigenes Herz. Und darum hat sich auch durch alle Jahrhunderte der christlichen Kirche hindurch die fromme Betrachtung diesem Buch der Heiligen Schrift zugewendet, und aus ihm besonders wie aus einem lieblichen und fruchtbaren Garten GOttes segensreiche Blüten und Früchte des ewigen Lebens gepflückt.
Komm und siehe! - ruft uns der Psalter zu - Komm und siehe! wie die Alten geweint und getrauert, geglaubt und gehofft, gebetet und gefleht, gedankt und gelobt, gekämpft und gesiegt haben. Ihr Eifer im Werk des HErrn, ihr Ernst in der Furcht GOttes, ihre Geduld in der Hoffnung, ihre Zuversicht in der Dunkelheit, ihre Arbeit in der Heiligung seien für dich ebenso viele mahnende Weckstimmen, einzukommen zu der Ruhe des Volkes GOttes, die bereitet ist denen, die Ihn lieben.
Im September 1835.
W. F. J. H.