Rieger, Carl Heinrich - Kurze Betrachtungen über die Psalmen - Der 139. Psalm.

1. Ein Psalm Davids, vorzusingen. HErr, du erforschst mich, und kennst mich. 2. Ich sitze oder stehe auf, so weißt Du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. 3. Ich gehe oder liege, so bist du um mich, und siehst alle meine Wege. 4. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HErr, nicht alles weißt. 5. Du schaffst es, was ich vor oder hernach tue, und hältst deine Hand über mir. 6. Solche Erkenntnis ist mir zu wunderlich und zu hoch, ich kann es nicht begreifen. 7. Wo soll ich hingehen vor deinem Geist? Und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? 8. Führe ich gen Himmel, so bist du da. Bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da. 9. Nähme ich Flügel der Morgenrote und bliebe am äußersten Meer; 10. So würde mich doch deine Hand daselbst führen, und deine Rechte mich halten. 11. Sprache ich: Finsternis mögen mich decken; so muss die Nacht auch Licht um mich sein. 12. Denn auch Finsternis nicht finster ist bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht. 13. Denn Du hast meine Nieren in deiner Gewalt, du warst über mir in Mutterleibe. 14. Ich danke dir darüber, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl. 15. Es war dir mein Gebein nicht verholen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward unten in der Erde. 16. Deine Augen sahen mich, da ich noch unbereitet war; und waren alle Tage auf dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, und derselben keiner da war. 17. Aber wie köstlich sind vor mir, GOtt, deine Gedanken? Wie ist ihrer so eine große Summe? 18. Sollte ich sie zählen, so würde ihrer mehr sein, denn des Sandes. Wenn ich aufwache, bin ich noch bei dir. 19. Ach GOtt, dass du tötest die Gottlosen, und die Blutgierigen von mir weichen müssten. 20. Denn sie reden von dir lästerlich; und deine Feinde erheben sich ohne Ursache. 21. Ich hasse ja, HErr, die dich hassen, und verdrießt mich auf sie, dass sie sich wider dich sehen. 22. Ich hasse sie in rechtem Ernst; darum sind sie mir feind. 23. Erforsche mich, GOtt, und erfahre mein Herz; prüfe mich, und erfahre, wie ich es meine. 24. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin; und leite mich auf ewigem Wege.

Der 139. Psalm hat 1) die Überschrift: Ein Psalm Davids, vorzusingen. Er enthält ein unvergleichliches Bekenntnis von der Allwissenheit, Allgegenwart und gesamter Vorsehung GOttes, und was diese Betrachtungen und Erfahrungen im Herzen wirken sollen. 2) Zuerst legt er seine gewissenhaften Erfahrungen vor, von der Allwissenheit GOttes, mit dem Bekenntnis, wie sein eigenes Erforschen nicht so weit reiche, V. 1-6. 3) Hernach ein eben so durchdringendes Bekenntnis von der Allgegenwart und Allmacht GOttes, unter abermaliger tiefer Vernichtigung seiner selbst, V. 7-18. 4) Darauf entzündet sich in seinem Herzen eine eifrige Anrufung der erwachenden Rache GOttes wider die Gottlosen, unter Bezeugung seines eigenen Hasses über sie, V. 19-22. 5) Den Schluss macht ein herzliches Gebet, dass GOtt ihm Seine Allwissenheit und Allgegenwart wolle zu gut kommen lassen. O wie ist es so gut, wenn einem Alles an GOtt so, V. 23. 24. recht anständig, tröstlich, brauchbar ist, und sich einer mit friedlichem Herzen so darunter beugen kann, wie David in diesem Psalm tut; wenn man des elenden Streitens wider GOtt, der frechen Gedanken wider die Vorsehung und Regierung GOttes, der unlittigen1), schwierigen, verwegenen Klagen los ist über den Ursprung des Bösen, über die Fortpflanzung des Bösen, durch Zeugung und Geburt, über die einem daher anklebende Temperaments-Sünden, wenn man davon durch Gnade los ist, und GOtt als Den fassen kann, von welchem als dem Vater der Lichter auch noch in der Natur gute Gaben, noch vielmehr aber aus der Erlösungs-Gnade nun vollkommene Gaben von oben herabkommen. Wie tut es einer Seele, die sich durch das Wort der Wahrheit von der Sünde abziehen, und in einen rechtmäßigen Hass wieder alles Arge lassen will, hernach so wohl, wenn sie vor dem GOtt, der nahe ist, keine Heimlichkeiten, keinen heimlichen Zusammenhang mit dem Bösen hat, noch zu haben begehrt, sondern vielmehr im Gewissen einen tröstlichen Widerschein genießen kann von dem, was GOtt von uns weiß.

1)
unleidlichen