Bedenke, wie wunderbar es ist, daß Gott von Ewigkeit alle Dinge vorher weiß, deren Zahl so groß, deren Mannigfaltigkeit so unermeßlich ist. Er ist mit ihrer Beschaffenheit, ihrer Ordnung, ihrer Stelle bekannt, er schaut sie mit ungetheiltem Blicke. Und nicht blos, was vor Augen liegt, auch das Verborgenste sieht er. Kein geheimer Gedanke, keine Neigung, kein Willensentschluß, keine Herzensempfindung kann ihm entgehen. Wunderbar ist sein Wissen im Reiche des Guten, aber noch viel wunderbarer im Reiche des Bösen. Denn es steht fest, daß die Sünde und alles Unrecht nur mit seiner Zulassung, nicht unter seiner Mitwirkung geschehen kann. Bedenke nun, wie staunenswerth es ist, daß er auch Alles das vorher wissen konnte, was er einem fremden Willen überlassen hat, und zwar einem Willen, der noch nicht geschaffen war und auch in dieser Weise von ihm nie geschaffen werden sollte!
Geister, die Gott wahrhaft lieben, haben zwar, so lange sie im Leibe wallen, oftmals das fröhliche Gefühl seiner Nähe, aber nimmer ist es dauernd und völlig. Fast scheint der Herr ein angenehmes Spiel mit seinen Kindern zu treiben; denn wenn sie schon meinen ihn festzuhalten, so entschlüpft er ihren Händen unversehens, bis er durch Thränen und Gebet zurückgerufen wird. Erfreut daher gleich die Gnadeneinkehr, so betrübt doch der Wechsel. Aber wie staunt die Seele, wenn ihr jene Lieblichkeit ganz genommen, wenn sie gefangen in die Stricke der Sinnenwelt zurückgezogen wird? Scheint es ihr nicht, als wäre sie aus dem Vaterlande in eine ganz fremde Gegend versetzt, wo die Liebe erkaltet, die Sinnlichkeit herrscht, das Auge des Verstandes umdunkelt ist? Da klagt sie und schöpft tiefe Seufzer; je Köstlicheres sie empfunden hatte, desto bitterer ist ihr der Verlust. Und das ist das Schmachten der Liebe, was nothwendig bei dem Liebenden eintritt, wenn der Gegenstand seiner Liebe von ihm fern ist. Vergeblich nun versucht man es, den Schmerz einer solchen Seele durch äußere Mittel zu lindern, den Kummer zu beschwichtigen. Sie verschmäht mit Hiob alle leidigen Tröster und spricht mit dem Psalmisten: Meine Seele will sich nicht trösten lassen! Nur von Innen kann die Liebeswunde geheilt werden. Glückliche Traurigkeit, die nicht über Unglück dieses Lebens klagt, sich nicht auf die Kreatur. sondern auf den Schöpfer bezieht! Mögen sich Andere an der Fülle flüchtiger Güter laben, einer solchen Seele dient bloß der zum Trost, der in ihr wohnt, der Gott der Liebe. Denn auch verborgen, ist er noch bei ihr, und auch die Verbergung ist zum Heile der Seele.
Nicht bloß falsche Lust, sondern auch falsche Unruhe mußt du lassen. Wer noch an den niedrigen Dingen Gefallen findet, ist der höhern Ergötzung unwerth, und wer von eitler Furcht gequält wird, kann keine geistliche Süßigkeit schmecken. Die falsche Lust verdammte die Wahrheit, da sie sprach: Wehe euch, die ihr jetzt lachet. Die falsche Furcht verbannte sie mit den Worten: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tödten, aber die Seele nicht tödten mögen! Welcher Herzensfriede und welche Stille herrscht da, wo man keine Freuden dieser Welt begehrt, und vor keinen Widerwärtigkeiten derselben erbangt! Denn, wie sollte der nach Genüssen dieser Welt gelüsten, der die Enthaltsamkeit liebt, oder wie sollte der die Trübsale derselben fürchten, der sich über die Anfechtungen, welche ihn treffen, wohl gar noch freut? Gleichwie von den Aposteln geschrieben steht: Sie gingen fröhlich von dem Angesichte des hohen Rathes, daß sie würdig gewesen waren, um des Namen 6 Christi willen Schmach zu leiden. Zweierlei ist es, was die Seligkeit ausmacht: Entfernt zu sein von dem, was man nicht will, und zu haben das, was man will. Wer in Sehnsucht nach dem Himmel die Lust der Welt haßt, kann durch Entbehrung überall seinem Feinde ausweichen; wer aus Liebe zu Gott die Leiden werth hält, kann überall solche finden. Siehe nun da zwei Liebhaber, einen Liebhaber Gottes, und einen Liebhaber der Welt! Jener kann überall finden, was er um Gottes willen liebt, dieser kann nirgends die Menge der Güter erlangen, ach welchen er dürstet. Der eine haßt die Widerwärtigkeiten dieser Welt, dem andern ist die Lust derselben zuwider. Wo wird jener seinem Feinde entgehen, wo dieser ihn nicht zu Boden strecken können? Wer ist nun der glücklichste von ihnen?
Wir wissen, daß des Geistes Grund Nichts also läutert, die Nebel der Unbeständigkeit Nichts also zerstreut, des Herzens Reinheit Nichts besser und schneller fördert, als wahre Zerknirschung und aufrichtige Reue. Und was spricht die Schrift? Selig sind, die reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. So suche nun Jedermann sein Herz zu reinigen, wenn er Gott schauen will, und strebe in Andacht sich aufzuschwingen. Aber o wie viel Beharrlichkeit, wie viel Eifer wird erfordert, wie viel gehört dazu, daß die Schlacken der irdischen Liebe rein ausgeschieden, daß das Gold eines heiligen Sinnes gewonnen werde! Wie oft muß man die Masse ins Feuer werfen und wieder herausziehen, sie bald hiehin und bald dorthin kehren, von allen Seiten hämmern und schlagen, um sie der Gestalt der Engel ähnlich zu machen! Wie vorsichtig muß man sein, daß die Seele durch unbesonnenes Vertrauen auf die göttliche Versöhnung nicht zerfließt, und durch unabgewandten Hinblick auf die göttliche Gerechtigkeit nicht ganz verhärtet.
So lange wir noch unter den dürftigen Elementen dieser Welt leben, gehen unsere Wünsche weit über unsere Freuden hinaus; denn wir begehren unendlich viel mehr, als uns hier zu Theil werden kann. Jene Seligen des Himmels aber sehnen sich nach keiner größeren Freude, als sie genießen; ihr Glück ist endlos und unermeßlich, sie können es überhaupt nicht fassen. Es fließt ihnen theils aus dem, was sie über sich, theils aus dem, was sie neben sich, theils aus dem, was sie unter sich sehen, in unversiegbaren Strome zu. Beständig betrachten sie, staunen sie, freuen sie sich. Sie sind ergötzt durch den Hinblick auf die untern Kreaturen, sie werden entzückt vor inniger Liebe in der gegenseitigen Beschauung, sie frohlocken mit unaussprechlichem Jubel im Aufblick zur Herrlichkeit Gottes. Sie gehen aus und gehen ein und überall finden sie Weide.
Quelle: Galle, Friedrich - Geistliche Stimmen aus dem Mittelalter