Ich erwache, und Du, mein Herr und mein Gott, Schöpfer und Erhalter alles Daseins, Du bist mein erster Gedanke. Der dämmernde Morgenstrahl, der in mein stilles Schlafgemach fällt, ist der nicht ein Bote von Dir, welcher bei dem Erwachen meines Leibes zum irdischen Leben, auch mein Gemüt aufwecken soll zu dem geheiligten geistigen Leben in Dir? das festliche Morgenrot, welches mit Licht und Glanz mein einsames Zimmer erfüllt, ist dies nicht ein Wink, der mich auffordert, mein Gemüt zu Dir zu erheben? Der Vögel fröhlicher Gesang, und jede Stimme der frisch und froh erwachten Natur ruft frohlockend mir zu: gnädig ist unser Gott! barmherzig und von großer Güte! -
Wohin mein Auge, wohin mein Ohr sich wendet, begegnen mir Aufmunterungen, mich anzuschließen dem erhabenen Gottesdienst, womit die ganze Natur diese Morgenstunde zur Feststunde weiht, welche ihn feiert, den allgütigen Vater, Erhalter und Wohltäter seiner Geschöpfe. Jedem Dasein, wie gering es auch scheinen, wie unbeachtet es sein mag: der Ewige hat ihm seinen Freudenkreis angewiesen; es vollendet seine Dauer und erfüllt bewusstlos darin seinen Willen. Aber welcher Reichtum von sinnlichen und geistigen Wohltaten, von irdischen Freuden und himmlischen Beseligungen strömt dem Menschen zu aus der Hand des Allmächtigen! Zu welcher heiligen Benutzung und Verwaltung der ihm zugeteilten Gaben ist durch diesen Vorzug der Mensch verpflichtet! Er soll froh und glücklich sein, aber auch froh und glücklich machen: und darin erfüllt er, mit lebendigem Bewusstsein eines höheren Berufes, Gottes Willen! Wie Jesus Christus ausströmen ließ die Segnungen seiner göttlichen Kräfte, so sollen auch wir mitteilen unserem Nächsten von den Gaben und Kräften, die der Gott der Gnade und der Huld uns verliehen hat. Ja, der Ewige hat alles so weise geordnet, dass Jeder, wie beschränkt auch der Kreis seines Wirkens sein mag, dennoch Andern Gaben mitzuteilen hat. Wie unermesslich ist die ewige Güte, die das Daseiende erhält, und das Erhaltene beglückt! Unaussprechlich ist die Vaterhuld, die sich der Menschen erbarmt.
Tief und unerforschlich ist die Weisheit, mit welcher der Vater im Himmel die Schicksale der Menschen ordnet und Freuden und Leiden verteilt. Jedes Gefühl in mir wird Dank und Bewunderung seiner Güte, seiner Gnade, seiner Weisheit. Entzückt und begeistert erhebt sich mein Gedanke zu dem Allmächtigen, dessen Walten und Wirken ich in anbetender Ehrfurcht anstaune! Wie weise ist Dunkel und Licht, Tätigkeit und Ruhe - wie weise ist alles zur Erhaltung und Beglückung des Menschen geordnet! Jahreszeiten wechseln mit Jahreszeiten; aus der Nacht, die den gestrigen Tag ablöste, ging das frische Leben des heutigen Tages hervor, und von neuem aufgeschlossen ist mir das unermessliche Reich der Allmacht, Weisheit und Huld! So wie nun aus der Todesnacht des gestrigen Tages das Leben des heutigen erwachte: so wird einst aus der Todesnacht meines irdischen Daseins ein neuer Tag hervorgehen, und ein andres Reich der Wunder wird dann vor mir aufgetan sein.
Jeder Morgenaufgang diesseits des Grabes ist eine weissagende Vorbedeutung eines Morgenaufganges jenseits, welchen der beseligende Glaube an die Geisterwelt uns verheißt, zu welcher die menschliche Seele berufen ist. Dieser Glaube ist die leise Stimme unseres innersten Lebens; eine Offenbarung, die Er, der ewige Vater des Lichts und der Wahrheit uns mitgab. Diese Offenbarung begleite mich auf meiner irdischen Laufbahn, um mich zu erheben, wo Niederdruck des Missgeschickes über mich kommt und unerwartete Widerwärtigkeiten mir begegnen. Aber welchen Mut spricht dieser beseligende Glaube, diese innere Stimme mir zu, wenn die Schwachheit meines besseren Willens mir den Kampf erschwert, in welchem die irdische Natur den höheren Sinn zu überwältigen droht; wenn unter Anfechtungen die Geduld erliegen will; wenn beim Andrang des Unrechts die Sanftmut in mir zu wanken beginnt. Wie erweckend ist dieser Glaube, wie kräftigend ist er, wenn die Beharrlichkeit nachlassen und im Guten immer tätig zu sein ermüden will.
Himmlischer Vater! Preis und Dank sei Dir, dass Du Dich uns so liebevoll offenbarst in diesem Glauben, in dieser inneren Stimme, die jenen großen Morgen der Lebensauferstehung uns verkündigt. - Auch er, der Heilige, den Du uns sandtest, dass er uns ein Vorbild sei in allen dem, was uns würdig macht unserer höheren Bestimmung! auch er wandelte in diesem Glauben fort und fort, bis zu der finstern Stunde, da sein Haupt am Kreuze sich neigte und er ausrief: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ Ja, mein Herr und mein Gott, so will auch ich ihm, unserem göttlichen Lehrer, nachfolgen; will wandeln und wirken wie er; fest will ich halten den Glauben an das höhere Reich Deiner Gerechtigkeit, bis Du mich abrufst zum volleren Anschauen der unermesslichen Wunder Deiner Herrlichkeit. Amen!