Wer bin ich, Herr, dass Du Dich meiner erbarmst, und ausgegossen hast über mich die Fülle Deiner Gnade? Wenn ich zurück sehe auf den Weg, den ich bisher durchwandelte, so nehme ich mit tiefgerührter Seele wahr, dass der heitern Erinnerungen mehr als der trüben, die zurückgelegte Wanderung bezeichnen. Unter den letzteren bemerke ich manches Weh, das ich mir selbst bereitete. Wenn mein Pfad nicht immer durch Blumenauen sich hinzog, wenn er minder bequeme, wenn er selbst raue Stellen berührte: er brachte dennoch mich dem Ziel näher, welches Du, weiser Lenker meines Schicksals, mir aufgestellt hast. Was mein sinnliches Wohlsein verkümmerte, musste mir dazu dienen, mein inneres Leben zu fördern. O! Dank Dir, Ewiger, dass Du auch in die dunkle Stunde des Menschen das Heil legtest, welches ihm weiter hilft! Ja, Herr! Du hast alles wohl gemacht! Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden!
Wenn wir die Worte: „Vater, Dein Wille geschehe,“ die Christus uns beten lehrte, in ihrer hohen Bedeutung und in ihrer Tiefe ganz erfassen: dann wird es uns klar werden, welche Aufforderung an uns selbst wir in diesen Worten aussprechen; welchem himmlischen Beruf wir uns durch sie weihen, einem Beruf, der uns näher bringt den seligen Geistern im Himmel: wie durch diese dort im Himmel, also soll durch uns hier auf Erden geschehen der Wille Gottes des Vaters. Und was fordert von uns dieser höchste, heilige Wille? Die du dies fragst, redliche Seele, merke auf die Gefühle deines Herzens! blick hinaus in die dich umgebende Natur! vernimm, was Christus sagt - dieser heilige, über alle Zweifel erhabene Zeuge der Wahrheit, an welchem so lebendig und hell der Wille des himmlischen Vaters sich ausdrückt! - Die Glückseligkeit Aller, ist der Zweck seiner erhabenen Weisheit und Macht. Unbedingtes, allgemeines Wohlwollen, weitumfassende Liebe, die auch den Unsere und nicht zurück stößt, ist das allwaltende Gesetz in dem Reich Gottes. Befrage dein innigstes Gefühl, redliche Seele! da finde den sanften Zug der Hinneigung zu einer erleuchteten Seele, zu einem wohlgestimmten Gemüt! da finde das weiche Mitleid gegen die dunklere Seele, gegen ein raueres, minder wohlgestimmtes Gemüt! Beide verkündigen das Gesetz der Liebe, den Willen des himmlischen Vaters. Ungerührt geht das natürliche Mitleid selbst an dem Unfreunde nicht vorüber, wenn seine Not das Erbarmen anruft. Aber wenden wir uns an die Natur, um auch hier wieder zu finden das Gesetz der Liebe. Ein großes Band wechselseitiger, sich einander zuneigender Kräfte, windet sich hin durch die ganze Schöpfung. Selbst feindliche Elemente suchen und finden irgendwo in dem großen Ganzen einen Punkt, wo sie, gleichsam ausgeföhnt, und zusammen wirkend dem Gesetz, welches die Glückseligkeit Aller bezweckt, sich unterwerfen. Die Erde in ihrem Frühlingsschmuck; dann in der reifenden Fülle des Sommers, und endlich in den reichen Gaben des Herbstes; welch ein großes Fest der Wonne und des sinnlichen Entzückens bietet sich dar! Die Lerche trägt ihr frohes Jubellied zu den Wolken empor; alle Stimmen, wo ein Leben sich bewegt, vereinigen sich zu einem Lobgesange, und preisen den Herrn, der in seinem großen Welthaushalt ein solches Freudenfest seinen Geschöpfen bereitete. Vom hochbegabten Menschen, bis hinab zu dem kleinsten Wurme, der unter dem Grashalme sich birgt: für alle hat eine unendliche Liebe gesorgt, auf dass jedes sein kürzeres oder längeres Dasein, nach seiner Art, fröhlich genieße; Wohlsein sucht und findet jedes lebende Wesen. Selbst an die Einrichtung, die für jegliches Geschöpf zur Erhaltung seines Daseins dient, hat der gütige Vater der Natur ein Wohlgefühl geknüpft, welches nur der Mensch durch Entweihungen, durch Übermut und Unmäßigkeit in ein Wehe zu verwandeln, die Freiheit hat. Der reich begabte Mensch, dem die Erde, sein vorläufiger Wohnplatz, ein Garten Gottes sein sollte, hat die Freiheit, diesen Wohnplatz zu einem irdischen Paradies anzubauen, oder ihn für sich und für Andere zu einer Wüste zu machen. Diese Freiheit ist die höchste, heiligste der Gaben und Vorzüge, die vor andern Geschöpfen dem Menschen zu Teil wurde; sie ist es, die zum Haupt in der Schöpfung, und Herrn seines eignen Willens ihn einsetzt. Die ungeregelte Leidenschaft ist ihre Feindin, ihr Leitstern ist die Vernunft; dieser leuchtende Funken, der aus der Lichtfülle der Gottheit herab in das Menschenleben sich senkte! Wie hoch, wie nahe jener Natur der höheren Geister hat Gott den Menschen gestellt, indem er ihm das große, aber gefährliche Geschenk der Freiheit anvertraute. So stehen wir da in dem erhebenden Gefühl unserer Freiheit, und blicken mit selbsttätigem Geist umher in die weite Natur; welch ein reiches Gebiet der Erkenntnis tut sich auf! welche beseligende Anschauungen der Herrlichkeit Gottes drängen sich an unsern Geist! Aus den tiefen Quellen sinnlicher und geistiger Freuden um uns her, sollen wir schöpfen für uns und für Andere. Was wir für Andere tun, fließt auf uns zurück in einer belohnenden inneren Ruhe, in einem süßen Bewusstsein.
So höre denn, redliche Seele, die du „Vater, Dein Wille geschehe!“ betest: höre das Wort des Herrn, welches die Natur dir verkündet, horch auf die Stimme deines Herzens! und vernimm endlich eine Stimme vom Himmel. Von dem Himmel herab, brachte Christus Worte des Heils, Worte des ewigen Lebens. Alle sollen selig werden; verloren gehen Keiner, der an ihn glaubt, seinem Wort vertraut. Sein Wort ist die Wahrheit; es erlöst uns, es ruft uns zurück von Wahn, von Täuschung und Sünde; es weist lebendig und eindringend uns hin auf den Weg, der zur Glückseligkeit führt, einer Glückseligkeit, die im Reich der Vergänglichkeit beginnt; ihr Ziel aber ruht heilig in einem unvergänglichen seligen Leben. An Alle ergeht die Stimme seines Wortes, selbst an die Heiden, wie er die Irrenden nennt, die noch im Dunkeln wandeln, und nicht erleuchtet sind vom Licht seiner Wahrheit. „Geht hin, und lehrt alle Heiden!“ dies ist der Auftrag, den er seinen Jüngern gibt. In allerlei Volk, „wer recht tut, der ist Gott angenehm;“ sagt ein würdiger Schüler dieses größten Lehrers der Menschheit. Wer recht tut, welches Volkes, welches Glaubens er sei, wer recht tut, nicht wer bloß mit den Lippen spricht: Herr, Herr! gehört zur Kindschaft Gottes, und Gott will, dass allen geholfen werde. Diese große Verheißung geht durch das ganze Lehrgebäude des Heilandes, und spricht noch lebendiger sich aus in seinem heiligen Leben; sie ist die Stimme, die an das gesamte Menschengeschlecht ergeht, und heilig und ewig ist, was der Ewige will! Vom Aufgang bis zum Niedergang herrscht das Gesetz seiner Barmherzigkeit.
Aber dieselbige Stimme, welche jene Verheißung verkündet, lässt uns auch vernehmen, dass wir berufen sind, so viel an uns ist, mitzuwirken, dass der Wille Gottes, der das Heil Aller bezweckt, schon hier auf Erden geschehe. Wenn wir in Recht und Gerechtigkeit, und immer demutsvoll vor Gott wandeln; wenn wir, wie unser Vater im Himmel, Barmherzigkeit üben gegen unsern Mitmenschen, welches Volkes, welcher Sitte, welches Glaubens er sei; wenn wir mit Nachsicht und Bereitwilligkeit verzeihen, wie unser Meister seinen Feinden verzieh, wenn wir unbedingtes Wohlwollen üben und Liebe: dann geschieht durch uns der heilige Wille unseres Vaters im Himmel. „Wenn ich mit Engelzungen redete,“ spricht des göttlichen Geistes voll, ein erleuchteter Nachfolger Christi, „und hätte die Liebe nicht, so wäre dies alles nichts nütze.“ - Liebe ist das große, allumfassende Grundgesetz in dem Reiche Gottes.
Vater im Himmel, Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf unserer Erde. Möge denn auch durch mich, so weit meine Kräfte reichen, geschehen Dein heiliger Wille.
Wie Deine Hand das All erhält;
Wie sie beglückt, was lebt und ist:
So finde mich die kleine Welt,
Die mir verliehen ist.