Dem heiligen Vaterunser, dem Gebete, das der Sohn Gottes die Kinder Gottes beten gelehrt hat, haben von alten Zeiten her die Gläubigen besonderes Nachdenken gewidmet. So giebt es denn der Auslegungen und erbaulichen Erwägungen des Vaterunsers gar viele und zum Theil gar köstliche; und eine, die köstlichste derselben, nämlich die Vater Luther in seinem kleinen Catechismus gegeben, weiß jedes evangelische Kind auswendig. Dennoch ist eine neue, eingehende Betrachtung des Vaterunsers kein überflüssiges Ding, denn das Vaterunser umschließt so unermeßliche Tiefen geistlicher Reichthümer, daß auch die spätesten, auch die ungeschicktesten Schatzgräber in seinen heiligen Schachten noch immer ein schönes Stück köstlichen Goldes nach dem andern finden.
Gerade unsere Zeit aber fordert sinnende Gemüther besonders dringlich auf, dem heiligen Vaterunser vor Anderm stille Stunden des Nachdenkens zu weihen. Denn das Gebet des Herrn nimmt heutzutage eine Stellung ein, wie nie zuvor. Es sind Tage scharfer Scheidung, in denen wir leben; und es geht eine große Kluft durch unsre Zeit zwischen dem Häuflein derer, die an Christo hangen, und dem großen Haufen derer, die Christo und seinem Kreuze und seiner Kirche Valet gesagt haben. Aber so viele Fäden auch zwischen den Gläubigen und den dem Glauben Entfremdeten zerschnitten sind, so verbindet im Großen und Ganzen sie doch noch ein letztes, zartes, religiöses Band. Dieses Band ist das Vaterunser. Wenn so eine Seele, die am Glauben Schiffbruch erlitten hat, los und ledig ist von allen andern Hauptstücken des Christenthums, das Hauptstück vom Vaterunser hat sie im günstigen Falle sich doch noch mit ins Weltleben gerettet. Leichtsinnig setzt man sich über die heiligen zehn Gebote Gottes fort und richtet sich nur nach den Geboten menschlichen Anstandes; kopfschüttelnd wendet man sich ab von dem Hauptstück vom dreieinigen Gott, sonderlich von dem Hauptartikel von der Erlösung der verlorenen Sünder durch Jesu theuerbares Blut; man steht den hochwürdigen Sacramenten und ihren kündlich großen Geheimnissen eisigkalt und ablehnend gegenüber; aber man betet doch noch sein Vaterunser. Man warf das ganze, reiche Diadem des Kirchenglaubens in den Sumpf der Zweifel, aber man behielt dies Eine Juwel, das Vaterunser, für sich zurück. Wie nahe liegt es da dem nachdenklichen Christen, der seine Zeit nicht blos zu tadeln versteht, sondern auch zu lieben begehrt, Herz und Sinne zu versenken in das Vaterunser, als in dasjenige Hauptstück des Christenthums, das nicht blos ihm und den Stillen im Lande, sondern das selbst denen noch theuer und werth ist, die alle andern Theile der geistlichen Güter ihres Vaterhauses umgebracht haben. Dazu kommt, daß, was Viele gebrauchen, leicht gemißbraucht wird, wenn es nicht immer wieder auf's Neue bedacht und erwogen wird. Schon Luther klagte zu seiner Zeit: „Es ist Jammer über Jammer, daß das Vaterunser soll ohne Andacht geplappert und geklappert werden in aller Welt. Viele beten des Jahres vielleicht etliche tausend Vaterunser, und wenn sie tausend Jahre also beteten, so hätten sie doch nicht einen Buchstaben oder Titel davon geschmeckt, noch gebetet. Summa, das Vaterunser ist der größte Märtyrer auf Erden.“ Diese Klage muß über unsre Zeit, als eine Zeit fortgeschrittener Gottentfremdung, noch viel lauter geklagt werden. Und weil auch der gläubigste Mensch ein Kind seiner Zeit ist und in der Luft seiner Zeit lebt und für die Krankheiten seiner Zeit empfänglich ist, so steht zu fürchten, daß dermalen das Vaterunser nur allzuoft auch von denen Marter erleiden muß, deren Geist willig ist, dem Heilande nachzufolgen. Da wird es denn jedem Christenmenschen geradezu zur heiligen Pflicht, von Zeit zu Zeit stille zu stehn vor dem Gebet des Herrn und es sich darauf anzusehn, wie es eigentlich gebetet sein will, und wie man würdig und wohlgeschickt wird, es recht zu beten. Und braucht sich deß ja auch Niemand zu schämen; wir sind und bleiben alle miteinander Schüler im Beten unser Leben lang. „Ich säuge noch heutiges Tages an dem Vaterunser wie ein Kind!“ hat Dr. Luther einmal von sich gesagt; wenn das aber am grünen Holze geschehen, was will's am dürren werden? So wollen wir uns denn in die Worte und den Geist des heiligen Vaterunsers andächtig vertiefen. Der natürlichen und altkirchlichen Eintheilung in die Anrede, die sieben Bitten und den Beschluß folgend, beginnen wir mit der Betrachtung der Anrede.