6. Dürfen Kinder Mährchen lesen?

Dürfen Kinder Märchen lesen? Wenn die Eltern von dieser Welt sind, wird ihnen diese Frage sehr müßig oder sehr sonderbar erscheinen; aber wenn die Eltern Bürger des Reiches sind, das nicht von dieser Welt ist, dann ist ihnen das weder eine müßige, noch eine sonderbare Frage, sondern sie nehmen es damit gar wichtig und ernst. Denn wenn die Kinderzeit und die Mährchenzeit vorüber ist und die Kinder nun so klug geworden sind, daß sie nichts mehr glauben von Rübezahl und Frau Holle und Schneewittchen, dann könnten sie am Ende auch so thöricht werden, daß sie auch zweifeln an den Geschichten von Adam und Eva und Abraham und Joseph und David und dem Davidssohne. Mancher fürchtet das und hütet deswegen seine Kinder vor den Mährchen als wären es kleine Schlangen, die nicht in das Paradies der Kindheit gehörten.

Aber das Söhnlein, das ich im Sinne habe, durfte Mährchen lesen, obwohl seine Eltern dem bewußten Reiche angehörten. Zuerst freilich war es in die Geschichten der lieben Bibel eingeführt worden und hatte seine heißen Thränen geweint, als Joseph sich seinen Brüdern zu erkennen gab, und noch heißere, als der himmlische Joseph von seinen Brüdern an’s Kreuz geschlagen wurde. Aber dann hatte der Knabe auch die Mährchenwelt kennen gelernt und über dem Grimmschen Büchlein nicht minder emsig gesessen, als über den biblischen Geschichten, so emsig, daß er öfters gar nicht gemerkt hatte, daß noch andre Leute im Zimmer waren außer dem kleinen vertieften Leser, und hatte gelacht, so kindlich-fröhlich gelacht über Rübezahls Siebenmeilenstiefeln, die ihm doch nichts halfen, und über den Pechregen, der über das faule Mädchen kam statt des erwarteten Goldregens.

An einem schönen Sonntagabend nun saß der Vater an seinem Tisch und las in der Schrift und das Söhnlein saß nicht weit davon und las auch in der Schrift. Aber das Söhnlein war eher fertig, als der Vater; und als dieser nach einer Weile aufsah, bemerkte er, daß der Knabe sehr ernst und fast traurig dasaß. „Warum liest du nicht mehr?“ fragte der Vater. „O lieber Vater“, war die Antwort, „was heißt das nur: Verworfen!?“ – „Du hast sicherlich die Geschichte vom König Saul gelesen,“ entgegnete der Vater“, „Gott hat Saul verworfen, das heißt, er hat ihm seine Gnade entzogen, weil er ein so verstockter Sünder war!“ Der Knabe war still, der Vater las für sich weiter.

„Weißt du, Vater“, sagte das Söhnlein plötzlich nach einer ganzen Weile, „weißt du, die Bibel ist doch sehr heilig!“ „Das ist sie, mein Kind, aber wie kommst du darauf?“ „O“, sagte der Knabe, „ich meine nur, die Mährchen sind von Menschen geschrieben, damit wir Kinder lachen sollen, aber die Bibel hat uns der liebe Gott gegeben, und darin ist vieles für uns zum Weinen!“ Da las der Vater seinerseits auch nicht mehr weiter, sondern redete mit dem Kinde noch dies und das über die heilige Bibel, bis der Sandmann kam und streuete einige Sandkörnlein auf des Kindes Augen, daß sie ihm schwer wurden und es einschlummerte. Zuvor aber hat das Kind noch die Hände gefaltet und gebetet: Breit‘ aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Kindlein ein!