Mit diesem Kapitel beginnt der zweite Theil unseres Buches, in welchem die Spruchweisheit vorwaltet. Doch ist die Perlenschnur der Sinnsprüche mit mancherlei Erfahrungssätzen und mancherlei Mahnungen und Warnungen durchflochten. Der zweite Theil nimmt wie der erste von der Eitelkeit des Lebens seinen Ausgang und will wie jener den alttestamentlichen Frommen den Felsen der Gottesfurcht anempfehlen, an dem sich alle Brandungen der Eitelkeit brechen.
Die Sprüche des siebenten Kapitels hängen unter einander enger zusammen, als man auf den ersten Blick meinen sollte; der Grundgedanke, der sich durch alle, mehr oder minder betont, hindurch zieht, ist der: Der Ernst des Weisen ist in diesem eitlen Leben würdiger und nützlicher, als der Leichtsinn des Thoren. Von V. 1-13 wird die Weisheit gegenüber der Thorheit beschrieben und gerühmt; in V. 14-23 führt der Verfasser aus, daß Weisheit ohne Gottseligkeit selbst nicht besser ist, als Thorheit; von V. 24 - 30 schildert er, wie selten die wahre Weisheit auf Erden ist und wie sie am allerwenigsten bei Frauen gefunden werde. Einige Verse dieses Kapitels, namentlich V. 17. 18. 29 gehören zu den dunkelsten und schwierigsten des ganzen Buchs. Um so nöthiger ist vor dem Lesen und Erwägen dieses Kapitels das Anflehn Gottes des heiligen Geistes, daß er uns die Schrift durch die Schrift auslege und uns in alle Wahrheit führe.
V. 1. Denn wer weiß, was dem Menschen nützlich ist im Leben, so lange er lebet in seiner Eitelkeit, welches dahin fähret wie ein Schatten? Oder wer will dem Menschen sagen, was nach ihm kommen wird unter der Sonne?
Von der Eitelkeit des Lebens nimmt der Verfasser auf's Neue seinen Ausgang. Das Leben ist eitel, denn es ist flüchtig, und was dahinter liegt, ist dunkel. Wer weiß, wer kann sagen, was bei solcher Eitelkeit des Lebens dem Menschen anzurathen ist? Das ist die Frage, mit der der Verfasser den zweiten Theil seines Buches eröffnet und auf die er im ganzen zweiten Theil in allerlei Weisheitssprüchen antwortet.
V. 2. Ein gut Gerücht ist besser, denn gute Salbe, und der Tag des Todes, weder der Tag der Geburt.
Das gute Gerücht, der gute Name ist in diesem eitlen Leben ein großer Schatz. Auch in den Sprüchen Salomonis Kap. 22 wird der hohe Werth eines guten Namens gepriesen, und im neuen Testamente 1 Cor. 9, 15 spricht Paulus: Es wäre mir besser, ich stürbe, denn daß mir Jemand meinen Ruhm sollte zu nichte machen. Der liebliche Geruch des Salböls war sprichwörtlich unter Israel, noch lieblicher ist ein guter Name, warum? weil, wer ein gutes Urtheil hat bei rechtschaffenen Menschen, ungehemmt auf Andere zum Segen wirken kann. Melanchthon sagt einmal sehr recht: „Eines guten Gewissens bedarf ich um Gottes willen, eines guten Namens um der Nächsten willen.“ So hoch nun das Gewissen über dem Namen steht, so hoch steht Gottes Urtheil über der öffentlichen Meinung, und der Christ kann und darf daher sagen: Ist Gott für mich, so trete gleich Alles wider mich. Dennoch ist es Pflicht, mit frommer Sorgfalt sich auch um ein gutes Gerücht bei den Leuten zu bemühen. Von Predigern des Evangeliums z. B. verlangt die Schrift 1 Tim. 3 geradezu, daß sie auch ein gutes Zeugniß haben müssen von denen, die da draußen sind. - Der Tag des Todes ist besser, als der Tag der Geburt. In gewissem Sinne gilt das sogar von dem Tode des Gottlosen; demselben wäre es ja freilich besser, er wäre gar nicht geboren; so ist's nur gut, wenn ihm der Tod ein Ziel setzt, daß seiner Sünden nicht noch mehr werde und er nicht noch viele Andre auf seine Lasterbahn verleite. Aber in vollem Sinne gilt es von dem Tode der Gottesfürchtigen; denn sie sind in Sünden geboren und sterben in Gnaden, sie sind mit Weinen auf die Welt gekommen und gehen mit Hosianna hinaus, sie haben als arme Sterbliche das Licht der Sonne erblickt und sie werden sterbend geboren in's ewige Leben. Die alte Kirche nannte darum auch den Todestag der Gerechten gerne ihren himmlischen Geburtstag.
V. 3-5. Es ist besser, in das Klaghaue gehn, denn in das Trinkhaus; in jenem ist das Ende aller Menschen, und der Lebendige nimmt es zu Herzen. Es ist Trauern besser, denn Lachen; denn durch Trauern wird das Herz gebessert. Das Herz der Weisen ist im Klaghause und das Herz der Narren im Hause der Freuden.
Für: „Durch Trauern wird das Herz gebessert!“ heißt es wörtlich: Wenn das Antlitz übel aussieht, befindet sich das Herz wohl. Die Summa dieser Verse ist offenbar die: Ein ernster Sinn ist in diesem eitlen Leben angemessener und besser, als ein leichter Sinn. Das Trauerhaus und das Trinkhaus stehen sich gegenüber, als zwei in die Augen fallende Beispiele einmal der Stätten des Ernstes, das andre Mal der Stätten des Leichtsinns; es ist besser in's Trauerhaus zu gehn;, als in's Trinkhaus; denn dort denkt man an's Ende, und hier treibt man's zu Ende; dort wird das Herz besser, hier wird das Herz schlechter. Es kann ja nicht die Meinung sein, als ob das schmerzliche Klagen um einen Todten an und für sich vor Gott einen besonderen Werth hatte; sondern das ist die Meinung, daß in einem Trauerhause, wo die Nichtigkeit alles Irdischen dem Herzen sich so handgreiflich nahe legt, die Seele von den Zügen des Herrn eher ergriffen wird, als wo anders, und sich bereitwilliger zu heiligem Ernste sammeln läßt. An einem Sterbebette ist es uns oft, als ob der Himmel ganz nahe bei uns wäre, und die Dinge der unsichtbaren Welt erfassen uns mit mächtiger Gewalt. Die früher vorausgegangenen Gerechten treten uns vor den Geist und scheinen nicht so fern zu sein, und auf unsre Lippen legt sich wie von selber das Gebet: Herr, lehre auch uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. Dahingegen in den Trinkhäusern ist die Hölle näher als sonst, und die Dinge der Verdammniß neben Fleisch und Blut an. Zu allen Zeiten sind die am schwersten zu bekehrenden Menschen diejenigen, die Tag für Tag die lustigen Stammgäste der Trinkhäuser sind und beim Glase Bier über die Dinge der Zeit und der Ewigkeit ihre frivolen Redensarten loslassen. Daher bezeichnet es der Verfasser als Weisheit, Klagehäuser zu besuchen, und als Narrheit, in die Trinkhäuser zu treten.
V. 6. Es ist besser hören das Schelten des Weisen, denn den Gesang des Narren.
Schelten heißt: mit kräftigen Worten seinen Unwillen kund geben. Unser Herr hat die ungläubigen Städte Matth. 11, 20 und die schwachgläubigen Jünger Marci 16, 14 gescholten, zum Zeichen und Zeugniß, daß es sich auch mit der höchsten Weisheit reimt zu schelten. Ja eine Weisheit, die nicht schelten kann, ist gar keine Weisheit mehr. Wohl dem, der die ernste Zurechtweisung des Weisen sich gefallen läßt, denn er wird dadurch gebessert. Der Gesang des Narren dagegen bessert nicht, sondern ladet zu Lust und Leichtfertigkeit ein, ist ein verführerischer Ohrenkitzel, der schmeichelnd in fleischliche Sicherheit einwiegt. Wer mag ermessen, wie viele Leute, namentlich junge Leute, durch Narrenlieder auf die schiefe Ebene, die zum Verderben führt, gerathen sind! Die Poesie in allen Ehren - „wenn mit ihrem Pfunde fromme Poesie einer Erdenstunde Himmelsduft verlieh', ehret ihre Sendung, dämpfet nicht den Geist, scheltet nicht Verschwendung, was den Schöpfer preist“ - aber es giebt eine Poesie der Sünde, die von unten her stammt und in die Hölle führt. Es sind das die vergifteten Lieder.
V. 7. Denn das Lachen des Narren ist wie das Krachen der Dornen unter den Töpfen, und das ist auch eitel.
An seinem Lachen erkennt man den Menschen; es ist ein Sprüchwort: Weise lächeln, Narren lachen. Es ist merkwürdig, daß niemals in der Bibel vom Heilande erzählt wird, daß er gelacht habe, wohl aber, daß er geweint hat, wie über Jerusalem, so auch am Grabe seines Freundes Lazarus. Wenn hier das Lachen des Narren mit dem Krachen, Knistern und Prasseln angebrannter Dornen verglichen wird, so soll durch diesen Vergleich das Widerwärtige des thörichten Lachens hervorgehoben werden. Es ist dasselbe Lachen, das der Verfasser an einer früheren Stelle toll nannte.
V. 8. Ein Widerspenstiger macht einen Weisen unwillig und verderbet ein mildes Herz.
Hier ist die Uebersetzung zu berichtigen; es muß heißen: Fürwahr Unterdrückung macht einen Weisen toll, und das Geschenk verderbt das Herz. Dem Weisen selbst drohen von dem Narren mancherlei Gefahren; der Weise selbst kann bethört werden durch Umgang mit solchen Narren, die durch Unterdrückung Anderer reich geworden in der Lage sind, ihm glänzende Geschenke zu machen. Allerdings hat solche Weisheit, die durch Geld um ihren Verstand kommt, noch nicht tiefe Wurzeln geschlagen; aber das Leben zeigt es leider täglich, daß, die als Weise gelten wollten, durch Verblendungsgeschenke zu Narren werden.
V. 9. Das Ende eines Dinges ist besser, denn sein Anfang.
Ein geduldiger Geist ist besser, denn ein hoher Geist. Der erste Satz dieses Verses spricht nicht eine allgemeine Wahrheit aus, sondern eine besondere, die durch den zweiten Satz näher angegeben wird. Oft ist ja der Anfang gut und das Ende schlecht, wie Paulus von den Galatern sagt: Im Geiste habt ihr's angefangen, wollt ihr's nun im Fleische vollenden? Oft ist der Anfang schlecht, das Ende aber gut, wie Paulus von den Ephesern sagt: Ihr waret weiland Finsterniß, nun aber seid ihr ein Licht im Herrn. Oder es sind auch Anfang und Ende gleich gut, wie wir vom Christenleben fingen: „Wunderanfang! Herrliches Ende! Wo die wunderweiten Hände Gottes führen ein und aus.“ Der Verfasser hat es hier und in den folgenden Versen auf Bekämpfung der ewig hadernden, mürrischen, ärgerlichen Gesinnung abgesehen. Er sagt: Ein geduldiger Geist ist besser, als ein hoher Geist, wörtlich: Langmuth ist besser, als Hochmuth; das Ding also, dessen Ende besser ist, als der Anfang, kann hier nur Hader und Streit sein; es ist besser Streit und Zank beenden, als anfangen.
V. 10. Sei nicht schnellen Gemüthes zu zürnen, denn Zorn ruht im Herzen eines Narren.
Jacobus 1,19 hat dieses Wort aufgenommen, wenn er sagt: Lieben Brüder, ein jeglicher Mensch sei langsam zum Zorn! Beide Testamente verwerfen nicht das Zürnen schlechthin, sondern nur das unheilige, fleischliche, gottlose Zürnen. Der Mensch soll langsam sein zu zürnen, um, sobald er merkt, daß nicht göttliche Liebe, sondern fleischliche Wallung die Wurzel seines Zornes ist, die Wallung noch zu unterdrücken, ehe sich die zürnenden Gedanken noch in Worte und Thaten umsetzen. Fühlst du nicht Liebe genug zum Zürnen, dann laß es!
V. 11. Sprich nicht: Was ist es, daß die vorigen Tage besser waren, als diese? Denn du fragest solches nicht weislich.
Der mürrische, mit Gott und Menschen hadernde Sinn will sich in einer besonders eitlen Gegenwart auch nicht sagen lassen, daß es schon bessere Zeiten gegeben hat und also auch wieder bessere Zeiten kommen können. Dem Weisen aber ist die Vergangenheit eine Trostquelle für die traurige Gegenwart und ein Spiegelbild einer lichteren Zukunft.
V. 12. Weisheit ist gut mit einem Erbgut und hilft, daß sich einer der Sonne freuen kann.
Hier ergiebt sich aus der Lutherschen Uebersetzung der ganz unbiblische Sinn, als ob die Weisheit allein nicht viel helfe, wohl aber, wenn sie mit Geld und Gut verbunden ist. Es ist aber vielmehr zu übersetzen: Weisheit ist so gut, als ein Erbgut und besser für die, die die Sonne schauen. Der Verfasser preist die Weisheit, nämlich die praktische auf Gott zielende Weisheit, über Geld und Gut der Erde.
V. 13. Denn die Weisheit beschirmet, so beschirmet Geld auch; aber die Weisheit giebt das Leben dem, der sie hat.
Dieser Vers erläutert den vorigen. Die Weisheit ist so gut, als ein Erbgut; denn sie beschirmt, wie Geld und Gut beschirmt; die Weisheit ist besser als Geld und Gut, denn sie giebt dem, der sie hat, das Leben. Die Weisheit schützt das Leben nicht nur, sondern sie giebt auch das Leben, nämlich das wahre Leben, das allein des edlen Namens werth ist, insofern der Weise mitten in der Eitelkeit der Dinge sich dem Herrn und der Ewigkeit zuwendet. - Bis hieher hat der Verfasser die Weisheit gegenüber der Thorheit beschrieben und gerühmt.
V. 14. Siehe an die Werke Gottes! Denn wer kann das schlecht machen, was er krümmet?
Hier beginnt der zweite Abschnitt des Kapitels; die Weisheit, die gerühmt zu werden verdient, muß die echte, rechte, nicht eine falsche sein. Schlecht heißt hier gerade. Der Verfasser hatte schon 1, 15 gesagt: Krumm kann nicht gerade werden. Es ist die schrecklichste Verirrung, wenn der Mensch in eingebildeter Weisheit von der Eitelkeit der Dinge Anlaß nimmt, seinen Gott anzuklagen und mit dem Höchsten zu hadern. Der Unmuth über die Widerwärtigkeiten des Lebens nimmt die Widerwärtigkeiten nicht fort; wenn Gott der Herr dem Menschen nicht alle Wege mit Teppichen belegt hat, so wird er dazu seine guten Gründe gehabt haben. Es gilt, sich demüthig in Gottes Schickungen zu ergeben; hat er mich in guten Tagen oft ergötzt, sollt' ich jetzt auch nicht etwas tragen?
V. 15. Am guten Tag sei guter Dinge und den bösen Tag nimm auch für gut; denn diesen schaffet Gott neben jenem, daß der Mensch nicht wissen soll, was künftig ist.
In der Welt pflegt es gar anders herzugehen, als dieser Vers besagt und mahnt. Die meisten Menschen sind zwar am guten Tag guter Dinge, aber wenn die Tage kommen, die ihnen nicht gefallen, lassen sie den Kopf hängen, murren und lamentieren. Und audrerseits giebt es auch solche Menschen, die nicht blos traurig und verdrießlich sind an bösen Tagen, sondern selbst an guten Tagen, indem sie die traurige Kunst besitzen, sich auch die fröhlichen Stunden, die Gott der Herr ihnen giebt, zu verdüstern und zu verderben durch ängstliches Sorgen um die Zukunft. Der evangelische Weise aber ist am guten Tag guter Dinge, lobt und preist seinen Schöpfer, der es so gut mit ihm meint und das Füllhorn seiner Freundlichkeit über ihn ausschüttet; der Weise nimmt auch den bösen Tag für gut (wörtlich „und am bösen Tag siehe“ d. h. siehe zu, ertrag' ihn, nimm ihn zufrieden an), denn er weiß, daß ob auch lauter Nein erscheinet, doch lauter Ja gemeinet ist, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen, daß die Lebensluft nicht nur des wärmenden Sonnenscheins, sondern auch der reinigenden Stürme bedarf. Ja, wenn auch die bösen Tage anhielten, so daß der Weise im Rückblick auf Vergangenheit und Gegenwart sprechen müßte wie Jacob 1 Mose 47, 9: Wenig und böse ist die Zeit meines Lebens -, so tröstet ihn doch der Gedanke, daß die künftigen Tage und wenn nicht sie, so die zukünftige Ewigkeit die Ausgleichung bringen werden. Zuletzt geht's wohl dem, der gerecht auf Erden durch Christi Blut und Gottes Erbe war; es kommt zuletzt das angenehme Jahr, der Tag des Heils, an dem wir fröhlich werden.
V. 16. Allerlei habe ich gesehen die Zeit über meiner Eitelkeit. Da ist ein Gerechter und geht unter in seiner Gerechtigkeit; und ist ein Gottloser, der lange lebet in seiner Bosheit.
Die Gerechten, die hier gemeint sind, können hier nur solche sein, wie der Herr sie meint, wenn er spricht: Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Gerechten. Diese pharisäische Gerechtigkeit, die zur Zeit Christi in voller Blüthe stand, fing schon Jahrhunderte zuvor an zu wurzeln und zu keimen; der Verfasser unsers Buchs sah zu seiner Zeit nicht wenige Selbstgerechte, Tugendstolze - und sah sie umkommen, zu Grunde gehn in ihrer Gerechtigkeit. Offenbare Heilsverächter, anrüchige Gottlose hatten es nicht selten besser, als diese Gerechten, denn wie auch immer ihr ewiges Schicksal war, auf Erden „machten sie es lange in ihrer Bosheit.“ Aber der Verfasser läßt sich durch den Augenschein nicht täuschen; die Gottlosigkeit ist darum nicht besser, weil sie zuweilen größere irdische Erfolge erzielt, als die Eigengerechtigkeit; sie sind beide gleich schlecht und gleich verderblich, die Bosheit ebenso wie der Tugendstolz. Daher die Mahnung:
V. 17-19. Sei nicht allzu gerecht und zu weise, daß du nicht verderbest, sei nicht allzu gottlos und narre nicht, daß du nicht sterbest zur Unzeit. Es ist gut, daß du dieses fassest und jenes auch nicht aus deiner Hand lassest; denn wer Gott fürchtet, der entgehet dem Allen.
Wegen dieser Verse hat man dem Verfasser oft Moderantismus vorgeworfen, die Lehre, daß der Mensch, da er doch einmal die ganze Gerechtigkeit nicht beobachten könne, am besten thue, eine Mittelstraße einzuhalten, da er den Ernst der Gerechtigkeit mit dem Leichtsinn der Thorheit zu verbinden trachte. Das wäre dann Wasser auf die Mühle der sicheren Leute, die die s. g. goldne Mittelstraße preisen, zwar ein ehrbares Leben führen, sich aber kein Gewissen machen, es mit der Welt zu halten, wenn es sich auch um Dinge handelt, die nicht eben sogar mit Gottes Wort übereinkommen. Es wäre ja nun allerdings möglich, daß hier der Verfasser von etwas redete, was die fleischliche Vernunft ihm eingegeben, als er den richtigen Weg noch nicht gefunden. Allein der Zusammenhang ergiebt, daß der Verfasser vielmehr hier eine wahre Lehre aus dem heiligen Geist mittheilt. Allerdings will er eine goldne Mittelstraße preisen, aber eine solche, die die Klippe der Scheingerechtigkeit, die nichts taugt, und ebenso die Klippe der Gottlosigkeit, die erst recht nichts taugt, gleichmäßig vermeidet - und diese Mittelstraße ist ihm die Furcht Gottes, die heilige, zarte Scheu, Gott zu beleidigen, das aufrichtige Verlangen in Gottes Wegen zu wandeln. Sei nicht gar zu gerecht und weise - treib' es nicht zu weit in der äußerlichen Art der Gesetzeserfüllung, mit der der Dünkel verbunden ist, durch eigne Heiligkeit den Himmel zu verdienen; sei kein scheinheiliger Pharisäer! Sei nicht allzu böse und thöricht - ach böse und thöricht bist du schon an dir selber genug, denn du bist in Sünden empfangen und geboren, und deines Herzens Tichten und Trachten ist böse von Jugend auf, häufe dir nicht noch Bosheit auf Bosheit auf; sei kein frecher, gottloser Zöllner! Fasse dies, kein Gerechter in verwerflichem Sinne zu sein, und lasse nicht jenes, nämlich kein Sündenleben zu führen. Die Gottesfurcht entgeht dem beiden, sowohl, der sich selbst so nennenden und rühmenden Gerechtigkeit, als auch dem zügellosen Sündenleben. Merkwürdig ist Luthers Auslegung dieser Stelle. Daß man nicht allzu gerecht sein solle, das ist nach ihm, man solle mit der Leute Fehlern so lange Geduld tragen, daß man zwar auf die Gesetze dringe und mit allem Fleiße Jeden dahin anweise, daß Alles recht und nach der Ordnung hergehen möge; wo man es aber nicht dahin bringen könne, sondern sich da und dort noch Gebrechen zeigen, solle man den Leuten auch wissen etwas zu Gute zu halten, und es nicht auf's Höchste so treiben, daß man blos dahin Alles verwerfe, wo sich noch Fehler zeigen, die man deswegen sagt, das höchste Recht sei das höchste Unrecht; wo man so auf das Recht treibet, daß man keine Billigkeit in Acht nehme und einige Geduld mit der Leute Fehlern trage, sondern lieber Alles zu Grunde gehen, als mit Geduld zusehen wollte, thue man mehr Schaden. Das ist ja ganz gewiß richtige biblische Lehre, doch ob sie den Sinn unserer Stelle treffe, dürfte in Frage zu ziehen sein.
V. 20. 21. Die Weisheit stärket den Weisen mehr, denn zehn Gewaltige, die in der Stadt sind. Denn es ist kein Mensch auf Erden, der Gutes thue und nicht sündige.
Die wahre, praktische Weisheit, die aus ehrlicher Gottesfurcht fließt, ist edler, als alle äußerliche Kraft und Stärke. Die Heiden, unter deren Joch Israel damals lebte, trotzten auf ihre Gewalt: Israel hatte allerdings alle äußerliche Gewalt verloren, aber wenn es doch nur die altväterliche, gottesfürchtige Weisheit festhielt, so war es doch immer noch besser daran, als seine thörichten Unterdrücker. Denn da alle Menschen Sünder sind und die Sünde ohne das innerliche Gegengewicht, das in der Gottesfurcht gegeben ist, in Gericht und Verderben verwickelt, so ist der starke Mann, der nicht weise ist, ein schwacher Mann, und der allerschwächste Mann, der die Weisheit der Gottseligkeit hat, in Wahrheit der starke Mann.
V. 22. 23. Nimm auch nicht zu Herzen Alles, was man saget, daß du nicht hören müssest deinen Knecht dir fluchen. Denn dein Herz weiß, daß du Andern auch oft geflucht hast.
Fluchen ist hier soviel, als Höhnen und Schmähen. Zum Druck kam damals Hohn. Die Heiden, die Israel vergewaltigten, höhnten und beschimpften es auch. Das war wohl bitter schmerzlich für Israel. Darüber wird ja auch in den Psalmen wer weiß wie oft geklagt, daß die Feinde triumphirend dem Volke Gottes zurufen: Wo ist nun euer Gott? Aber Israel soll sich besinnen! Hat es in den Tagen feines Glücks nicht auch oft hochmüthig auf Andere herabgesehen und sie gescholten und verhöhnt, wenn sie darniederlagen? Bußfertig sollte das Volk inne werden: Es ist unserer Bosheit Schuld, daß wir so gestäupet werden; worin wir gesündiget haben, darin werden wir gestraft. Solche bußfertige Erkenntniß mildert nicht nur den Schmerz, sondern giebt auch Hoffnung auf Gottes erlösende Barmherzigkeit.
V. 24. 25. Solches Alles habe ich versuchet weislich. Ich gedachte, ich will weise sein; sie kam aber ferne von mir. Es ist ferne; was wird es sein! Und ist sehr tief, wer will es finden!
Es kommt nun der dritte und letzte Abschnitt des Kapitels, der über die Seltenheit der rechten Weisheit unter den Menschen Klage führt. Der Verfasser leitet diesen Abschnitt ein mit einer Bemerkung über die Unerforschlichkeit des Lebens. Der weise Forscher erkennt, je länger er forscht, desto mehr, daß all' unser Erkennen Stückwerk ist. Es ist eine anmaßliche Verkehrtheit, wenn man den Ausspruch Pauli 1 Cor. 2, 10: „Der Geist erforschet alle Dinge“ auf den Menschengeist anwendet, Paulus spricht das von der dritten Person der Gottheit, von dem heiligen Geiste, nicht vom Geiste des Menschen. Des menschlichen Geistes höchste Weisheit ist immer: Wir wissen nichts. Das Wesen Gottes, seine Rathschlüsse und seine Pläne tragen einen so unerschöpflichen Reichthum in sich, daß wir ihn mit unserer Vernunft nimmer ergründen können.
V. 26. 27. Ich kehrete mein Herz, zu erfahren und zu erforschen und zu suchen Weisheit und Kunst, zu erfahren der Gottlosen Thorheit und Irrthum der Tollen; und fand, daß ein solches Weib, welches Herz Netz und Strick ist und ihre Hände Bande sind, bitterer sei, denn der Tod. Wer Gott gefällt, der wird ihr entrinnen; aber der Sünder wird durch sie gefangen.
Ergreifende Schilderung des traurigen Ganges und Endes, den Weltweise, die weiter nichts sind, als Weltweise, oft nehmen. Aus den feinsten Theorien fallen sie oft in die größte und gröbste Praxis der Sünde, aus dem Spiele der Gedanken in die Lust des Fleisches. Die Buhlerin ist nicht etwa eine allegorische Person, zu der man sie wohl hat machen wollen, als ob die Thorheit in ihr personificirt dargestellt würde, sondern eine Person von Fleisch und Blut. Der weise Salomo - hat er nicht selbst am Ende sich einen Harem von tausend Weibern eingerichtet? Stehen nicht in der Geschichte der Christenheit so viele Gnostiker der alten Kirche als traurige Beweise dafür da, daß krankhafte Weisheitssucht und dünkelhafte Erkenntniß zu den gräulichsten Sünden führen kann, also daß „die sich für weise halten, zu Narren werden?“ Weisheit ohne Gottesfurcht ist allen Versuchungen der Sünde preisgegeben und hat keine Kraft, ihnen zu widerstehen. Darum ist das allem Weisheit im wahren Sinne des Worts, der Gottes Wohlgefallen das Höchste ist; mit dieser gottseligen Weisheit geht auch immer die Josephsfrage Hand in Hand: Wie sollte ich ein so großes Uebel thun und wider Gott sündigen? Nur die Weisheit von oben her ist eine keusche Weisheit.
V. 28. 29. Schaue, das habe ich gefunden, spricht der Prediger, eins nach dem andern, daß ich Kunst (wörtlich: Nachdenken) erfände, und meint Seele suchet noch und hat es nicht gefunden. Unter tausend habe ich Einen Menschen (Mann) gefunden; aber kein Weib habe ich unter den Allen gefunden.
Es ist das eine viel umstrittene Stelle. Uns scheint nach dem Zusammenhang der Sinn dieser zu sein: Der in Fleischeslust gefallene Weise könnte seinen Fall damit beschönigen, daß er sagte, daß er im Umgang mit den Frauen größere Weisheit lernen könne, als im Umgang mit den Männern. Allein der Prediger spricht, dem ist nicht so! Unter Tausenden ist wohl Ein Mann zu finden, der uns in der Weisheit fördert, aber kein Weib. Das Weib war vor dem Kommen des Erlösers in die Welt nicht nur das schwächere, sondern auch das thörichtere Werkzeug; der alttestamentliche Weise konnte wohl von Männern, aber nicht von Frauen Weisheit erwarten. Frauengestalten wie Mirjam, Sara, Hanna beweisen nichts dagegen; keine Regel ist ohne Ausnahme. Unsere Frauen aber, wenn sie Prediger Salomo 7, 28. 29 lesen, sollen dem Herrn Jesus brünstigen Dank sagen, dem sie fast noch mehr verdanken, als die Männer, nämlich nicht bloß die Erlösung von Sünde, Tod und Teufel, sondern auch eine würdigere und einflußreichere Stellung im Leben. - Andere Ausleger deuten den Schlußsatz unserer Verse also: Unter Tausenden habe ich einen Mann gefunden, der da ist, was er als solcher sein soll, aber nicht ein Weib, das da ist, was es als solches sein soll. Noch Andere nehmen das Weib als Gleichniß der Weisheit und deuten also: Die wahre, vollkommene Weisheit oder Einen, der sich zu ihr weiblich, d. i. empfänglich verhielte, habe ich nicht in Allen unter tausend gefunden, höchstens in einem Einzigen. Endlich sind auch solche Ausleger vorhanden, die das Weib als Gleichniß der Thorheit und Sünde nehmen und so verstehen: Das Weib, das in allen Andern ist, habe ich nur in einem Einzigen nicht gefunden.
V. 30. Allein schaue das, ich habe gefunden, daß Gott den Menschen hat aufrichtig gemacht, aber sie suchen viele Künste.
Die schönste evangelische Auslegung dieses Verses giebt eine klassische Predigt von v. Steinmeyer in seinen „Fest- und Gelegenheitsreden“ unter dem Thema: Die Künste des Menschen als die Waffen seiner Sünde, v. Steinmeyer findet in diesem Verse sowohl eine Klage, als auch eine Weisung, „der Prediger hat die Menschen geprüft, in allen Lebensverhältnissen und in allen Lebenslagen, in allen Lebensaltern und in allen Lebensbewegungen - und überall wo er gewesen, wo er schärfer zugesehn, da hat er die unverkennbaren und unvertilgbaren Spuren einer dem Menschen anerschaffnen, jedem Einzelnen mitgegebnen Aufrichtigkeit entdeckt. Aber die Menschen suchen viele Künste. Die Künste selbst hat der Prediger nicht genannt, auch nicht einmal ein Beispiel derselben hat er aufgewiesen. Wir müssen die Lücke ergänzen. Zwei Klassen scheiden sich von einander, die Künste der Trägheit, die Zerstreuungen, und die Künste der Täuschung; die Menschen suchen diese Künste, um die Aufgabe zu umgehen, die ihnen verordnet worden ist von oben her. Daher die Warnung, nicht durch Künste in Unnatur zu fallen, die kaum noch vom Satanischen zu unterscheiden ist, und der Rath: Zurück zur Natur, denn Gott hat den Menschen aufrichtig gemacht, und den Aufrichtigen läßt es der Herr gelingen.“ So bildet dieser letzte Spruch einen trefflichen Abschluß dieser ganzen Spruchreihe. So viel Elend, Jammer, Eitelkeit in der Welt ist, den großen Gott im Himmel trifft keine Schuld; Gott hat den Menschen gerade, redlich, übereinstimmend mit seinem Willen geschaffen, aber die Sünde hat den Menschen also verderbt, daß er auf allerlei Ränke sinnt und krumme Wege sucht. Des Menschen Unheil ist des Menschen eigne Schuld; nur in bußfertiger Rückkehr zu Gott, auf den unser Herz angelegt ist, ist Rettung und Heil und damit die wahre Weisheit und Gottseligkeit zu finden.
Wir Kinder des neuen Bundes wissen, daß solche Rückkehr zu Gott nur in Christo Jesu möglich ist. Jesus Christus hat in seinem Blute der Menschheit einen Rückweg zu Gott eröffnet. Jesus Christus ist der Weg und die Wahrheit und das Leben, nach Augustins kurzer und treffender Auslegung: Christus ist der wahre Weg zum Leben. Selig wer ihn wandelt! Jesu, geh' voran auf der Lebensbahn, und wir wollen nicht verweilen, Dir getreulich nachzueilen; führ' uns an der Hand bis in's Vaterland!
Amen.