Quandt, Carl Wilhelm Emil - Micha - Das dritte Kapitel.

In Jesu Namen. Amen,

Des Herrn richtende Gerechtigkeit, wie sie in Strafgerichten über Samaria und Jerusalem sich offenbaren würde, hatte der Prophet im ersten Kapitel geschildert. Was er dabei nur angedeutet, daß die Gerichte wegen der Sünden Israels und Juda's sich entladen würden, hatte er im zweiten Kapitel des Weiteren geschildert, besonders die Sünden der von Lügenpropheten umschmeichelten gottlosen Großen in Juda hervorhebend. Nur vorübergehend hatte er zum Schluß die Hoffnungen auf Erlösung nach dem Gerichte berührt, deren sich die wenigen Treuen bei der allgemeinen Untreue getrosten konnten. Er kehrt nach dieser kurzen Unterbrechung zur Schilderung der strafenden Gerechtigkeit Gottes nun im dritten Kapitel zurück und betont, daß die nächste und schwerste Strafe besonders die sündenvollen Häupter Israels, als deren Frevel am lautesten gen Himmel schrieen, treffen werde, nicht minder aber die falschen Propheten, die, mit jenen im Bunde, das Volk verderbten.

V. 1. „Und ich sprach: Höret doch, ihr Häupter im Hause Jacobs und ihr Fürsten im Hause Israel, ihr solltet es billig sein, die das Recht wüßten.“ -

Und ich sprach - der Prophet hat also nicht blos schriftlich gewirkt, sondern mit dem lebendigen Worte; und hat hinterher nur die Summa von dem für die Nachwelt aufgezeichnet, was er zuvor unter seinem Volk gepredigt hat. Er hat es gewagt, den habsüchtigen Großen mit dem Wort des Herrn gegenüberzutreten, gleichwie Johannes der Täufer zu dem mächtigen Herodes sprach: Es ist nicht recht, daß du die Herodias habest. Es ist nicht Jedermanns Sache und Aufgabe, die Sünden der großen Herren zu strafen; aber die diese Aufgabe haben, machen sich schwerer Sünde schuldig, wenn sie aus Menschengefälligkeit stumme Hunde sind. „Das sind die rechten Hofprediger“, hat einmal Einer gesagt, „die sich durch den Stern auf der Brust nicht abhalten lassen, darnach zu fragen, ob auch der himmlische Morgenstern in der Brust leuchtet.“ Ein solcher war Samuel Urlsperger, seit 1714 Hofprediger in Stuttgart. Es ging zu jener Zeit am württembergischen Hofe sehr wüst zu; den Hofprediger schmerzte es, aber Menschenfurcht band seine Zunge. Der berühmte Glaubensmann August Hermann Franke, der 1717 eine Reise nach Süddeutschland machte, erfuhr dies; er ging in seine Predigt, und nach der Predigt voll Wehmuth zu Urlsperger und sagte: „Ich höre, Bruder, daß Deine Vortrage evangelisch sind, aber die Sünden Deines Hofes berührst Du mit keinem Worte. Ich komme also, Dir im Namen Gottes zu sagen, daß du ein stummer Hund bist (Jes. 56, 10), und wenn Du nicht umkehrst und als öffentlicher Lehrer die Wahrheit frei heraussagst, so gehst Du verloren, trotz aller Deiner Erkenntniß.“ - Betrübt nahm Franke Abschied und ging.

Sonntags darauf redete der Hofprediger mit Ernst und Freimüthigkeit. Der Herzog ließ ihm sagen, er sei schon Willens gewesen, ihn von der Kanzel zu schießen; wenn er künftigen Sonntag seine Predigt nicht widerrufe, so werde er sich beim Reichskammergericht beschweren, und da könnte er, weil er ein Majestätsverbrechen begangen habe, leicht den Kopf verlieren. Urlsperger ließ antworten, widerrufen könne er auf keinen Fall, er müsse daher Sr. Durchlaucht überlassen, zu thun, was Dieselben für gut fänden. Nun wurde er arretiert, und alle Veranstaltungen zu seiner Verurtheilung gemacht. Nachdem man ihn noch einmal befragt hatte, wurde ihm für künftige Woche sein Todestag bestimmt. Darauf ließ er seine Frau und vier Kinder kommen, und fragte sie, was sie zu seiner Sache sagten. - Die Frau antwortete: „Lieber Mann! Dein Tod wird mich und unsere Kinder in das größte leibliche Elend stürzen; ich bitte Dich aber um Gottes willen, verläugne die Wahrheit nicht, sonst bliebe der Fluch auf mir und meinen Kindern liegen.“ Getröstet über diese Antwort, ließ er dem Herzog sagen, sein Kopf stände ihm alle Tage zu Dienst. Dieser legte nun das Todesurtheil seinem Minister zur Unterschrift vor, allein der Minister übergab sein Amt und seinen Degen und sagte: „Euer Durchlaucht! hier ist mein Amt und meine Ehre, ich unterschreibe keine Blutschulden!“ Der Herzog erstaunte, und um seinen ersten Rath nicht zu verlieren, tödtete er den Hofprediger gar nicht, sondern begnügte sich, ihn ohne Versorgung abzusetzen. Urlsperger ertrug es in Demuth; er war ein Zeuge Gottes im Geiste Micha's. - Die Häupter und Fürsten Israels, die Micha züchtigt, sind dem Zusammenhange nach die Großen des Reiches Juda's; wahrscheinlich hielt sich Micha im Reiche Juda hauptsächlich auf. Die Grüßen sollten billig das Recht wissen - einmal hatten sie ja wie alles Volk im Lande Mosen und die Propheten, aus denen sie wissen konnten, was gut ist und was der Herr von seinen Knechten fordert, nämlich Liebe üben und Gottes Wort halten und demüthig sein vor dem Herrn, dem großen Gott; sodann aber waren gerade sie durch ihre höhere Lebensstellung verpflichtet, wie auch in der günstigeren Lage, sich sorgfältiger der Erforschung des Rechten und Guten hinzugeben, als die Andern. Denn je höher Jemand im Leben steht, desto größer ist seine Verantwortung vor dem Allerhöchsten, desto größer aber auch die gute Gelegenheit, zu forschen und zu sinnen über dem Gesetz des Herrn. Die Fürsten und gnädigen Herren sollten es billig sein, die das Recht wüßten.

V. 2. 3. „Aber ihr hasset das Gute und liebet das Arge; ihr schindet ihnen die Haut ab und das Fleisch von ihren Beinen. Und fresset das Fleisch meines Volkes, und wenn ihr ihnen die Haut abgezogen habt, zerbrechet ihr ihnen auch die Beine und zerleget es mir in einen Topf und wie Fleisch in einen Kessel.“ - Gerade das Umgekehrte von dem, was man von Großen und Gewaltigen in Israel erwarten sollte, thun sie. Das Gute, was der Herr von ihnen fordert, hassen sie; das Arge, was der Herr verbietet, lieben sie. Diese ihre gottwidrige Gesinnung offenbaren sie vor Allem darin, daß sie das Volk schinden und sein Fleisch fressen. Es sind das bildliche Ausdrücke, die uns in der Schrift öfter begegnen. Schinden ist soviel, als: den Nächsten widerrechtlich und gewaltsam um das Seine bringen, ihn unterdrücken und mißhandeln; im Gesetz war diese Schinderei vielfach und streng verpönt; nichtsdestoweniger hatten die Propheten je länger, je mehr über die unter dem Volk überhand nehmende Schinderei zu klagen. Das Fleisch des Volkes fressen - wird in der Schrift besonders von gottlosen Obrigkeiten ausgesagt, welche ihrer Selbstsucht und Tyrannei gegen ihre Unterthanen alle Zügel schießen lassen, sie ausbeuten und von solcher Beute prassen und so am Marke des Landes saugen. „Will denn“, ruft David im 14. Psalme, „der Uebelthäter keiner das merken, die mein Volk fressen, daß sie sich nähren, aber den Herrn rufen sie nicht an?“ Und desgleichen redet Sacharja (11, 16) von Hirten im Lande, die das Fleisch der Fetten fressen und ihre Klauen zerreißen. Solche Menschenfresser im bildlichen Sinne sind aber nicht nur gottlose und tyrannische Obrigkeiten, sondern alle reichen Leute, die ohne Glauben alle Tage herrlich und in Freuden leben und die Lazarusse ihres Volks den Hunden überlassen. Ein Missionar erzählt in einer Gesellschaft in Irland von den Menschenfressern auf Neuseeland, und meint, das wäre doch etwas Entsetzliches. „O“, sagt ein Herr in der Gesellschaft, „das ist hier in Irland nichts Neues und Unerhörtes.“ - Der Missionar sah die Gesellschaft verwundert an, ob er wohl auch bei den rechten Leuten sei. - „Ja, ja! lieber Freund“, fuhr der Herr fort, „ich kann Ihnen hier Männer zeigen, die in Einer Mahlzeit eine ganze Sonntagsschule, ein ganzes Dorf voll Heiden verschlingen.“ - Der Missionar weiß nicht, was er sagen soll. - „Nun, so will ich es Ihnen erklären“, fuhr der Herr fort. „Es giebt Männer hier, die an ihren kostbaren Mahlzeiten so viel Geld verzehren, daß mit den Kosten einer einzigen solchen Mahlzeit schon für eine beträchtliche Zeit der Unterhalt eines Lehrers für eine Sonntagsschule oder eines Missionars unter den Heiden bestritten werden könnte. Werden dann nicht die Seelen dieser Menschen bei solchen Mahlzeiten verschlungen?“ - Der Missionar meinte: Ja! wenn es so gemeint wäre, so wäre es leider Wahrheit. - Wir aber wollen solcher traurigen Wahrheit gegenüber an unsere Brust schlagen und recht brünstig beten:

Laß, Herr, dein Wort recht kräftig
Und deinen Geist geschäftig
In unsern Herzen sein!
Laß immer mehr die Deinen
Auf dich nur sich vereinen,
Durch Bruderliebe dich erfreun!

V. 4. „Darum, wenn ihr nun zum Herrn schreien werdet, wird er euch nicht erhören, sondern wird sein Angesicht vor euch Verbergen zur selbigen Zeit, wie ihr mit eurem bösen Wesen verdienet habt.“ - Ihr böses Wesen ist die himmelschreiende Sünde, daß sie die geraubte Nothdurft des Armen zu ihrem eigenen Vortheil verwenden. Wenn nun der Herr um dieses ihres bösen Wesens willen die Donner seiner Strafe über ihren Häuptern rollen lassen wird, so werden sie dann wohl zum Herrn schreien, aber da wird keine Stimme noch Antwort sein; der Herr wird sie nicht erhören, vielmehr sein Angesicht im Zorne vor ihnen verbergen. Aber wie? Will denn Gott nicht jeden erhören, auch den verhärtetsten Sünder, wenn derselbe in der Noth seine Hände ausstreckt zu Ihm? Gilt nicht Jedem, auch dem Verirrtesten, das trostreiche Wort der Verheißung: Rufe mich an in der Noth, so will ich dich erhören!? Allerdings, wenn der Sünder Buße thut und um Vergebung seiner Sünden aus Gnaden bittet, wird der Herr nimmermehr sein Angesicht vor ihm verbergen. Aber es giebt eine innerliche Verhärtung und Verstockung, bei der ein Mensch in großer Angst es wohl noch zu einem Geschrei um Befreiung von äußerlicher Noth, aber nicht mehr zu einem bußfertigen Gebet um Vergebung der Schuld bringt. Solches unbußfertige Geschrei darf sich keiner Erhörung getrosten; denn Gott ist nicht ein Gott, dem gottlos Wesen gefällt; wer böse ist, bleibt nicht vor ihm.

Bis Hieher ist die Bestrafung gegen die räuberischen Großen gerichtet, jetzt wendet sich Micha gegen die mit ihnen verbündeten falschen Propheten, indem er anhebt:

V. 5. „So spricht der Herr gegen die Propheten, die mein Volk verführen: Sie predigen, es solle wohlgehen, wo man ihnen zu fressen gebe; wo man ihnen aber nichts in das Maul giebt, da predigen sie, es müsse ein Krieg kommen.“ - Die im Bunde mit den gottlosen Fürsten stehenden Propheten der Lüge waren entweder listige Heuchler und hochmüthige Schwärmer oder aber geradezu vom Teufel, dem Vater der Lüge, inspirierte Menschen. Der Herr hatte sie nicht gesandt, noch mit ihnen geredet, dennoch geben sie vor, Werkzeuge Jehovahs zu sein und von ihm Auftrag an das Volk empfangen zu haben. Sie schmeichelten den Großen und ihren Lüsten und machten ihnen den Weg zum Himmel so bequem als möglich, aus keinem andern Grunde, als um selbst einen möglichst bequemen Weg auf Erden zu haben. „Daß sie zu essen hätten“ - war ihr höchstes Ziel, und der Bauch war ihr wahrer Gott. Gab man ihnen etwas für ihre Zähne zu beißen, so predigten sie, was die hohen Herren wünschten; hing man indes ihnen einmal den Brodkorb höher, so weissagten sie Krieg und alles mögliche Unheil. Daß gegen ein solches unsauberes Völklein die wahren Propheten auftreten und alle Mittel, die ihnen zu Gebote standen, anwenden mußten, lag auf der Hand; die da zu Hütern des Weinberges Gottes gesetzt waren, mußten vor allen Dingen ihre Stimme erheben gegen die Füchse, die den Weinberg verwüsteten. Zu allen Zeiten ist es Pflicht der gottgesandten Zeugen des Herrn, gegen alle Schalkheit und Täuscherei der bloßen Brodpropheten zu kämpfen, damit nicht verführet werden in den Irrthum, so es möglich wäre, auch die Auserwählten.

V. 6. „ Darum soll euer Gesicht zur Nacht und euer Wahrsagen zur Finsterniß werden. Die Sonne soll über den Propheten untergehen und der Tag über ihnen finster werden.“ - Das redet Micha als auf Befehl und durch Erleuchtung Gottes. Darum - weil sie nichts als gleißnerische Brodpropheten sind, die Thorheit lehren und die Leute mit vergeblicher Hoffnung betrügen, weil sie falsche Gesichte vorbringen und eitle Wahrsagereien, darum soll Nacht und Finsterniß über sie hereinbrechen, sie sollen ausgestoßen werden in die äußerste, von Gott und seinem Reich durch eine unübersteigliche Kluft getrennte ewige Finsterniß. Denn was der Mensch säet, das wird er ernten; wer auf sein Fleisch säet, der wird vom Fleische das ewige Verderben ernten. Der Tag, der finster und ohne Sonne über die Frevler kommen wird, ist der Gerichtstag des Herrn, von dem auch Amos handelt (8, 9): „Zur selbigen Zeit, spricht der Herr Herr, will ich die Sonne im Mittage untergehen lassen, und das Land am hellen Tage lassen finster werden.

Nur ein plötzlich Angedenken
An die finstre Ewigkeit
Kann schon eine Seele kränken,
Die sich jetzt der Sünde freut.
O was wird man dann erfahren,
Wenn sich die wird offenbaren!

V. 7. „Und die Schauer sollen zu Schanden, und die Wahrsager zu Spott werden, und müssen ihr Antlitz alle verhüllen, weil da kein Gotteswort sein wird.“

Schauer - das war ein Ehrenname der Propheten ihnen ertheilt, weil das, was sie redeten und zeugten, auf unmittelbarer, innerer Anschauung beruhte; sie hießen Schauer, weil sie des Allmächtigen Offenbarungen zu schauen gewürdigt waren. Die falschen Propheten maßten sich den Titel „Schauer“ unrechtmäßiger Weise an - sie waren nichts, als lügenhafte Wahrsager, die ihres eignen Herzens böse und leichtfertige Träume ausschäumten. Die Zukunft sollte und mußte sie zu Schanden machen. Es sollte sich sehr bald herausstellen, daß ihre Weissagungen des Fundamentes des Wortes Gottes entbehrten und hohle Redensarten waren, denen der Gang der Ereignisse nicht entsprach. So mußte denn der Spott ihrer eignen Anhänger und Gläubigen unausbleiblich sein; sobald die Welt erkennt, daß sie betrogen ist, wendet sie sich mit Hohn von ihren eignen Propheten ab. Da werden denn die Betrüger, weil ihr Betrug zu Tage getreten ist, ihr Angesicht verhüllen, zum Zeichen sowohl der Trauer, als der Scham. Wenn in unseren Tagen Lügenpropheten wie die Pilze aus der Erde schießen und ein Glück predigen ohne Sittlichkeit oder eine Sittlichkeit ohne Religion oder eine Religion ohne Christenthum oder ein Christenthum ohne den heiligen Geist, so wird es auch bei ihnen des nicht ausbleiben, daß sie zu Spott und Schanden werden und daß sie ihr Angesicht beschämt verhüllen müssen. Denn alle Lehren, die das Wort Gottes nicht zum sicheren Fundamente haben, sind wie Spreu, die der Wind verwehet; eine Zeit lang können sie die öffentliche Meinung beherrschen, darnach aber müssen sie weichen und Platz machen entweder der Wahrheit - oder einem neuen kräftigeren Irrthum.

V. 8. „Ich aber bin voll Kraft und Geistes des Herrn, voll Rechts und Stärke, daß ich Jacob sein Uebertreten und Israel seine Sünde anzeigen darf.“ - Dem falschen Prophetenthume und seinem Eigennutz und Heuchelwesen stellt in diesem Verse, wie beiläufig, der Prophet in seiner eignen Person das Gepräge des wahren, von Gott beglaubigten Prophetenthums gegenüber, das in stets durch den Geist Gottes verjüngter Stärke nur der Wahrheit und dem Rechte dient und dem durch die Wahrsager belogenen und verführten Volke seine Sünden vorhält. Es ist kein anmaßliches Selbstgefühl, das Micha zu solchem Zeugniß über sich selber drängt, sondern ein ihn von den Gegnern, die sich fort und fort brüsteten, abgenöthigter Selbstruhm, der doch nur ein Ruhm Gottes ist, aus dessen Gnade er ist, was er ist. Es geht ihm ähnlich, wie es St. Paulo bei den Corinthern ging, da er an sie schreiben mußte: „Sintemal viele sich rühmen nach dem Fleisch, will ich mich auch rühmen. - Es ist mir ja das Rühmen nichts nütze, doch will ich kommen auf die Geschichte und Offenbarungen des Herrn.“ Micha setzt der Ohnmacht der falschen Propheten seine Kraft und Stärke gegenüber, in der er, als von Gott selbst gerüstet, daher schreitet; ihrer Lüge und ihrem bösem Geiste aber setzt er gegenüber den Geist des Herrn, mit dem er von Gott gesalbt ist, und das Recht, die Wahrheit, in die dieser Geist ihn leitet. Wo ein Diener Gottes solche Ausrüstung und Salbung empfangen, da darf er getrost wider die Sünden seines Volkes zeugen, unbekümmert, wie man solche Predigt aufnehme; da heißt es nur: Was Gott gebeut, das muß geschehn; das Andre wird der Herr versehn. Die innerliche Gewißheit und das in Gott Gegründetsein ist die beste Vocation für einen Prediger. Auf Grund solcher Vocation fährt nun Micha im Folgenden fort, als im Namen Gottes mit Israel um seiner Sünden willen zu rechten.

V. 9. „So höret doch dies, ihr Häupter im Hause Jacob und ihr Fürsten im Hause Israel, die ihr das Recht verschmähet und alles, was aufrichtig ist, verkehret.“ - Von Neuem wendet sich die Strafrede an die bürgerlichen Großen, als die eines Hauptes länger sind als das sündliche Volk. Sie verschmähen das Recht, d. i. sie verachten auf das Schnödeste die Forderungen des heiligen Gottes. Sie verkehren, was aufrichtig ist, wörtlich, sie verderben alle Frömmigkeit, nämlich durch ihre Sünden sowohl bei sich, als Andere, bei denen ja immer das böse Beispiel leicht die guten Sitten verdirbt. Aehnlich klagt Amos (5,7): „Die ihr das Recht in Wehmuth verkehret und die Gerechtigkeit zu Boden stoßet.“

V. 10. „Die ihr Zion mit Blut bauet und Jerusalem mit Unrecht.“ - Dieser Vorwurf gegen die Großen Israels schließt eine Ironie ein. Der Prophet will sagen: Dadurch, daß ihr Unrecht und Blutschuld über einander häuft, bauet ihr wahrlich Zion sehr schlecht, ihr bringt es durch Blut und Unrecht in die Zerstörung und Vernichtung. Die Mauern Zions kann nur Einer bauen, der lebendige, barmherzige Gott; vor Ihm hätten die gottlosen Fürsten in Sack und Asche wegen ihrer Blutschulden Buße thun sollen, so würde er Jerusalems Mauern erhalten haben. Allein das thaten sie nicht. David hatte es weiland gethan. Als er gesündigt hatte vor Gott und Blutschuld auf sich geladen, warf er sich mit geängstetem und zerschlagenem Herzen in den Staub und betete: „Thue wohl an Zion nach deiner Gnade, baue die Mauern zu Jerusalem!“ Psalm 51) und der Herr erhörte die Bitte seines bußfertigen Knechtes.

V. 11. „Ihre Häupter richten um Geschenke, ihre Priester lehren um Lohn, und ihre Propheten wahrsagen um Geld, verlassen sich auf den Herrn und sprechen: Ist nicht der Herr unter uns? Es kann kein Unglück über uns kommen.“ - Ein Zeitbild wird uns in diesem Vers entworfen, wie kaum ein traurigeres gedacht werden kann. Das Verderben hat alle drei Stände der göttlich berufenen Leiter, von denen das Wohl und Wehe des Volks abhing, die Fürsten, die Priester die Propheten, ergriffen. Sklaven des ungerechten Mammons sind sie alle mit einander, die Fürsten richten um Geschenke, die Priester lehren um Lohn, die Propheten wahrsagen um Geld; das Geld ist der Götze, dem sie alle mit einander dienen. An der Spitze der sündenvollen Sippe stehen die Fürsten; die Anklagen, die gegen Priester und Propheten erhoben werden, beziehen sich besonders auf ihr Verhältniß zu den Großen. Wie die falschen Propheten weissagen, was nach dem Geschmacke der hohen Herren ist, blos um von ihnen gefüttert zu werden, so legen auch die Priester für Geld und gute Worte das Gesetz in einer den räuberischen Gelüsten der Großen günstigen Weise aus und arbeiten also, gerade so wie die falschen Propheten, ihnen in die Hände. Mit der Gottlosigkeit der drei Hauptstände im Volk ist eine bodenlose Sicherheit gepaart. Fürsten, Priester und Propheten bildeten sich ein, trotz aller ihrer Missethaten doch noch sehr respektable Israeliten zu sein, denen es schließlich nicht fehlen könne, und sie wagen es, auf die Barmherzigkeit des Herrn zu pochen und seine Verheißungen auf sich zu ziehen. Wo es aber so weit gekommen ist, wo neben himmelschreienden Sünden die anmaßungsvollste Sicherheit und heuchlerische Selbstverblendung hergeht, da ist nur noch Platz für Schreckenszeichen der richtenden Gerechtigkeit Gottes. Wo ein Geschlecht innerlich total entheiligt ist, da bleibt nichts übrig, als daß es auch äußerlich entheiligt werde. Wie das geschehen werde, sagt Micha noch einmal, wenn er den ersten großen Theil seines prophetischen Buches abschließt mit dem Verse:

V. 12. „Darum wird Zion um euretwillen wie ein Feld zerpflüget, und Jerusalem zum Steinhaufen und der Berg des Tempels zu einer wilden Höhe werden.“ - Was Kap. 1, 6 der Hauptstadt des Reiches Israel, Samaria, angedroht war, wird nun hier auch der Königsstadt des Reiches Juda, Jerusalem, prophezeit: das Gefilde Zions soll zu einem gemeinen Ackerfelde werden; Jerusalem, die Stadt Gottes, soll in Schutt und Trümmer sinken; der Tempelberg soll wieder werden, was er früher war, ehe er Gottes Wohnung ward, nämlich eine dichtbewachsene, wilde Waldhöhe. Solches soll geschehen zum Zeichen und Zeugniß, daß der Herr im Himmel ein starker und eifriger Gott ist, der nach seiner richtenden Gerechtigkeit zerbricht, was sich nicht beugen will.

Dieser letzte Vers kommt in der Bibel noch einmal vor, nämlich beim Propheten Jeremias 26, 18. Jeremias war wegen seiner Weissagungen über den Untergang der heiligen Stadt zur Verantwortung gezogen; die Aeltesten aber berufen sich zu seiner Rechtfertigung auf diese furchtbare Drohung Micha's über Jerusalem, die das Volk doch noch Ehrfurcht genug gehabt hätte hinzunehmen, ohne dem Propheten ein Leid zu thun. Wir merken daraus, daß, so schlimm die Zeiten Micha's waren, doch noch schlimmere Zeiten nachfolgten, bis dann in den Tagen Jeremia's Gott mit Schärfe einholte, was er in Langmuth sich gesäumt hatte. Es erfüllte sich, was Micha dem gottlosen Volk vorhergesagt: Die richtende Gerechtigkeit Gottes verwandelte Jerusalem in einen Steinhaufen und den Tempelberg in eine wilde Höhe.

So stehen wir am Ende des ersten Haupttheils der Reden Micha's. Er ist eine ernste, durch Mark und Bein gehende Darlegung der richtenden Gerechtigkeit Gottes, wie sie sich in Strafgerichten an Samaria und Jerusalem offenbart, um der Sünden des Volkes, namentlich seiner Häupter willen, und darum auch besonders erschrecklich für diese Häupter sein wird. Nur an einer einzigen Stelle und zwar gerade in der Mitte, Kap. 2, 12. 13, ist diese ernste Darstellung der Gerichte Gottes unterbrochen von einem evangelischen Hinweis auf eine hinter den Gerichten folgende Offenbarung der erlösenden Barmherzigkeit Gottes; aber diesen Hinweis auf die Gnade hat man unter dem erschütternden Eindruck der geweissagten Gerichte am Schlusse fast ganz aus den Augen verloren. Der Prophet aber geht im zweiten Haupttheile, von Kap. 4 an, auf eine nähere Darlegung der zukünftigen Gnadenoffenbarung ein, zum Troste für alle demüthigen und zerschlagenen Herzen in Israel.

Damit auch wir die Tröstungen des Propheten, die er im Folgenden giebt, uns innerlich aneignen können, wollen wir seine Gerichtsprophezeihungen uns zu innerlicher Buße dienen lassen. Wollte der Herr mit uns hadern und unsere Sünden aufdecken, Er müßte uns in seinem Zorne strafen, wie Samaria, und in seinem Grimme züchtigen, wie Jerusalem. Darum flehen wir ihn an: Verbirg dein Antlitz, Herr, von meinen Sünden und tilge alle meine Missethat. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gieb mir einen neuen gewissen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von uns. Amen.