Quandt, Carl Wilhelm Emil - Die vierte Bitte.

Unser täglich Brod gieb uns heute.

Die heiligen Alpenhöhen des Vaterunsers liegen hinter uns; wir kommen nun in die Thäler. Die drei hohen Bitten um die Heiligung des göttlichen Namens, um das Kommen seines Reiches, um das Geschehen seines Willens - wir haben sie erkannt als eine einzige dreieinige Bitte um die Verherrlichung des dreieinigen Gottes auf Erden. So wenden wir uns nun in die Tiefe zu dem viertheiligen Gebet der Kinder Gottes für ihr eigenes Wohl und Heil, nämlich zur Brodbitte und zur Vergebungsbitte und zur Bewahrungsbitte und zur Erlösungsbitte. Das sind die vier tiefen Bitten, und die Brodbitte ist die erste unter ihnen.

Das Wörtlein Brod, ist nicht blos äußerlich, auch innerlich das Hauptwort der vierten Bitte. Von dem Verständniß dieses Wortes ist das Verständniß der ganzen Bitte abhängig. Wie ist dies Wort zu deuten, geistlich oder buchstäblich, im nächsten oder im weiteren buchstäblichen Sinne?

Die geistliche, allegorische Deutung des Wortes Brod in der vierten Bitte zählt manche Freunde. Entweder können sie es sich überhaupt nicht reimen, daß das Reichsgebet der Kinder Gottes auch einen Seufzer um irdisches Brod enthalte, oder sie stoßen sich daran, daß die Bitten für unser Heil mit diesem Seufzer beginnen sollen. Darum deuten sie das Brod der vierten Bitte auf das Brod des Lebens und meinen damit entweder Jesum Christum im Allgemeinen oder wie er im heiligen Abendmahl in, mit und unter dem Brode uns seinen für uns in den Tod gegebenen Leib darreicht. Allein diese allegorische Erklärung legt nicht aus, sondern unter. Sie übersieht, daß das Vaterunser kein Gebet sein soll für die Abgeschiedenen im Paradiese, für die Erlöseten der neuen Welt, die keine irdischen Bedürfnisse mehr haben, sondern für die Kinder Gottes auf Erden, wo das geistliche Leben mit tausend Fäden an das leibliche Leben gebunden ist, ja wo ohne Fristung des leiblichen Lebens das geistliche Leben selber unmöglich ist. Das Brod der vierten Bitte verträgt keine geistliche Umdeutung, und wir sollen es in unserer irdischen Schwachheit und leiblichen Bedürftigkeit doch auch ja mit Freuden in seinem buchstäblichen Sinne stehen lassen. In diesem Sinne führt uns die vierte Bitte nach dem derben, aber treffenden Ausdruck eines Alten, in Gottes Küche, Kellerei und Speisekammer. Mir fallen bei der vierten Bitte, sagt der liebe Claudius, meine Kinder ein, wie die so gerne essen mögen und so flugs und fröhlich bei der Schüssel sind; und dann bitt' ich, daß der liebe Gott uns doch wolle etwas zu essen geben.

Nach dem nächsten buchstäblichen Sinne ist das Brod, um das wir in der vierten Bitte beten, das gewöhnliche, von aller Welt so genannte Brod, „das liebe Brod“, wie's unsre Väter hießen und davon sie sagten: „Es ist etwas Großes, Gottes Wort und ein Stück Brod haben.“ Den Werth des Brodes in dieser einfältigsten Bedeutung des Wortes wissen am besten die Niedrigen und Geringen im Volk, unsre staubbedeckten Brüder mit schwieligen Händen, zu schätzen. Aber auch die Reichen sollen seines Werthes eingedenk sein, daß nicht der Mangel über sie komme als ein gewappneter Mann und die Entbehrung sie achten lehre, was sie in der Fülle nicht schätzten. Ein vornehmer Araber hatte sich einst in der Wüste verirrt und wurde vom Hunger gequält. Da findet er ein Säcklein, das ein Wandersmann vergessen hat, und voller Hoffnung sieht er es an und denkt nicht anders, als es werde Nahrung für ihn darinnen sein. Aber es sind Edelsteine darin, und bitter enttäuscht, ruft der Mann voll Schmerz aus: „Es sind nur Edelsteine, ich dachte, es wäre Brod!“ Achtung vor dem Brode und sammelt auch immer hübsch die übrigen Brocken! Brod ist köstlicher, als Edelsteine; der himmlische Vater sei gepriesen, daß wir ihn bitten dürfen um Brod im allerbuchstäblichsten Sinne.

Doch dürfen wir in unserer Deutung bei dem nächsten buchstäblichen Sinne nicht stehen bleiben, sondern müssen mit Vater Luther in weiterem Sinne zum täglichen Brode rechnen Alles, was zu des Leibes Nahrung und Nothdurft gehört, als da ist: Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und getreue Oberherren, gut Regiment, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen. Jeder Wunsch in Beziehung auf leibliche Güter, sofern sie uns ebenso unumgänglich nöthig sind, als das liebe Brod, darf in der vierten Bitte zu Gott aufsteigen; Gott ist keineswegs ein so vornehmer Gott, daß er es sich nicht gern gefallen ließe, wenn eine arme Magd, die sich die Füße wund gelaufen, ihn um ein Paar Schuhe angeht; wenn ein viel geplagter Bürgersmann, dem böse Nachbarschaft das Leben sauer gemacht, ihn um getreue Nachbarn bittet. Nur eines der 23 Lutherschen Stücke haben Manche in neuerer Zeit von der Gebetsliste der Gläubigen streichen wollen, nämlich das Geld. Man hat es ein Vorurtheil gescholten, auch das Geld als eine Gabe Gottes zu betrachten, und gemeint, um das Geld als solches hätte doch wohl kaum je ein Gläubiger gebetet, geschweige über einer empfangenen Münze ein Dankgebet gesprochen. Ei, um wie manches Viergroschenstück hat der gottselige August Hermann Franke gebetet, und für wie manchen empfangenen Thaler hat er dankbar die Hände gefaltet! Und unser deutsche Landsmann Georg Müller in Bristol, dessen riesenhafte Waisenanstalten die Engländer das Wunder des Jahrhunderts nennen, und der sein Werk ohne alle eigne Geldmittel im Vertrauen auf den lebendigen Gott begonnen, hat niemals einen Menschen um einen Pfennig angesprochen, aber den großen Gott fast täglich um große Summen, die er brauchte, und hat sie erhalten. Nein wahrlich, so ist das Wort vom ungerechten Mammon nicht gemeint, als ob das Geld metallene Sünde wäre; der Heiland selbst nahm ohne Scrupel den Groschen in die Hand, und wir dürfen ohne Scrupel nach Groschen und Thalern, wenn sie uns nöthig sind, die Hände zum Gebet erheben.

Um Alles, was zur Leibes-Nahrung und Nothdurft gehört, darf und soll der Christ seinen himmlischen Vater bitten - das lehrt das Wörtlein Brod. Aber rechte Brodbeter müssen auch genügsame Leute sein, das lehrt das Wörtlein täglich, und fleißige Leute, das lehrt das Wörtlein unser, und barmherzige Leute, das lehrt das Wörtlein uns, und Gott vertrauende Leute, das lehrt das Wörtlein heute, und erkenntliche Leute, das lehrt das Wörtlein gieb.

Genügsame Leute sollen wir sein, wenn wir die vierte Bitte im Geist und in der Wahrheit beten wollen. Nicht um das Brodcapital, das Gott für uns in Händen hat, nur um die Brodzinsen lehrt der Heiland seine Jünger beten, indem er sie anweist zu flehen: Unser täglich Brod gieb uns heute! „Täglich“, so hat Luther das Wort verdollmetscht, welches eigentlich heißt „zu unserm Wesen gehörig, für unsre Existenz nöthig;“ eine andre, ältere Übersetzung giebt den griechischen Ausdruck wieder durch „das Brod unserer Dürftigkeit“. Um Alles, dessen wir für unseres Leibes Nahrung und Nothdurft bedürftig sind, aber niemals um mehr als dies, sollen wir also beten, eine Gebetsweise, die schon der weise Salomo kannte und übte, da er flehte: „Armuth und Reichthum gieb mir nicht, laß mich aber mein bescheiden Theil Speise dahinnehmen.“ Der alte Valerius Herberger theilt uns eine liebliche Geschichte aus der Reformationszeit von einem christlichen Beter mit, der des Wörtleins „täglich“ in der vierten Bitte wohl eingedenk war. Dr. Ziegler, als er das Kloster verließ und den lutherischen Glauben annahm, bat Gott, er möge ihm ein ehrliches Amt und etwa 40 Gulden dazu bescheeren, damit er Gott und dem Nächsten ehrlich dienen und sich ernähren könne. Es geschieht. Da er nun in die Ehe getreten, wollen die 40 Gulden nicht mehr reichen, und er bittet seinen himmlischen Vater um 60 Gulden. Gott giebt sie ihm. Da kommt eine Theurung über das Land, und der fromme Doctor muß seinen Gott um 100 Gulden anflehen. Gott giebt's ihm desgleichen. Da er nun alt wird, will's abermal nicht reichen. Da wirft er sich auf seine Knie und sagt: „Lieber Vater, ich habe von Abraham gelesen, daß er etliche Male mit Dir geredet hat und Du hast ihn in Gnaden erhöret. Das habe ich auch erfahren, ach zürne nicht mit mir, ich will noch einmal mit Dir reden; gieb mir, was ich bedarf, so werde ich allezeit genug haben, ich will Dir nichts mehr vorschreiben.“ Darauf bescheert ihm Gott alljährlich 150 Gulden, und da das der Churfürst von Sachsen erfährt, daß er also gebetet habe, sagt er: „Der Mann soll nicht blos sein trocken Brod, sondern in seinem Alter auch sein Labetrünklein haben!“ und schenkt ihm noch 200 Gulden dazu. Das war ein genügsamer Beter, wie der Heiland ihn haben will. Heutzutage aber ist solche Genügsamkeit ein rares Ding. Durch das Leben der Gegenwart zieht sich ein starker Zug „der Ungenügsamkeit, der Genußsucht, des Haschens nach irdischen Gütern und Ergötzungen; und selbst unter den gläubigen Jüngern dessen, der nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegte, findet sich vielfach ein luxuriöser Sinn, der weder deutsch noch christlich ist. Die beiden Wörtlein „täglich Brod“ in der vierten Bitte und das Beispiel Salomos und des ehrwürdigen Dr. Ziegler könnten unser verwöhntes Geschlecht in die Scham und in die Buße leiten. Es betet Niemand die vierte Bitte recht, der nicht mit St. Paulo denkt und spricht: „Es ist ein großer Gewinn, wer gottselig ist und lasset ihm genügen. Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum offenbar ist, wir werden auch nichts herausbringen. Wenn wir aber Nahrung und Kleidung haben, so lasset uns begnügen.“

Unser täglich Brod gieb uns heute, lehrt der Herr beten. Von alten Zeiten her hat man in dem Worte unser hier die Lehre von der Arbeitsamkeit, die Forderung des Fleißes gefunden. Und in der That arbeitsame, fleißige Leute will der Herr in seinen Brodbetern sehen, Leute, die den Herrn um Brod anflehen, das kein fremdes, sondern eignes, kein auf unrechte Weise erworbenes, sondern in den Wegen göttlicher Ordnung erlangtes Brod ist. Die Ordnung aber, die Gott für das Erwerben des täglichen Brodes vorgeschrieben, ist in dem Gebot verfaßt, das er den Sündern bei ihrem Scheiden aus dem Paradiese gab: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brod essen, bis daß du wieder zur Erde werdest, davon du genommen bist!“ Dies Gebot geht selbstverständlich nur diejenigen an, die arbeiten können, die die Kraft zur Arbeit von Gott erhalten haben, aber dieselben geht es auch an. So lange der Mensch arbeiten kann, soll er kein Brod essen ohne Arbeit, geschweige um Brod bitten ohne Arbeit; denn der Herr lehrt nicht beten: Gieb uns fremdes Brod! er lehrt beten: Gieb uns unser Brod! Das Wörtlein unser ist ein hauendes Schwert gegen die Arbeitsscheu, gegen weltlichen und frommen Müßiggang, besonders auch gegen den frommen, von dem St. Paulus an die Thessalonicher schreibt: „Wir hören, daß Etliche unter euch wandeln unordentlich und arbeiten nichts, sondern treiben Vorwitz. Solchen aber gebieten wir und ermahnen sie durch unsern Herrn Jesum Christum, daß sie mit stillem Wesen arbeiten und ihr eigen Brod essen.“ Die des Ewigen Herr sind, sollen das Zeitliche nicht betteln, noch rauben, sondern sollen die Hände, die sie fleißig falten, nicht minder fleißig rühren, und sollen sich den Seufzer Joh. Heermanns aus der Seele gesprochen sein lassen: „Willst du mir etwas geben an Reichthum, Gut und Geld, so gieb auch dies dabei, daß von unrechtem Gut nichts untermenget sei.“

Aber wozu denn, fragt der Unglaube mit lachendem Munde, wozu denn überhaupt noch um das tägliche Brod seufzen und beten, wenn das Brod doch erarbeitet sein will? Ja, einer der frechsten Propheten des Unglaubens hat erst jüngst den Brandfackelvers höhnend in den Arbeiterstand hineingerufen: „Bet' und arbeit'! ruft die Welt. Bete kurz, denn Zeit ist Geld. An die Thüre pocht die Noth; bete kurz! denn Zeit ist Brod.“ Solchen Einwürfen und Angriffen gegenüber hat der Christ zunächst sich einfach hinter die Mauern der heiligen Schrift zu stellen. Es stehet geschrieben, daß wir arbeiten sollen, als ob alles Beten nichts hülfe, und daß wir beten sollen, als ob alles Arbeiten nichts hülfe, darum arbeiten wir für das Brod, um das wir beten, darum beten wir um das Brod, für das wir arbeiten, denn was Gott gebeut, das muß geschehn, das Andre wird der Herr versehn. Sodann aber weist der Christ auf jene große Wolke von Zeugen im Reiche Gottes, deren die Welt nicht werth war, und die alle ebenso emsige Arbeiter, als fleißige Beter waren, auf St. Paulum, der trotz seiner ungeheuren Geistesarbeit und seiner nächtlichen Handarbeit fleißig betete um Erfüllung seiner Nothdurft, auf alle lieben Apostel, auf alle Gottesmänner unsrer Kirche; sie alle haben die Krone des Lebens empfangen nach treuer Arbeit und treuem Gebet und uns ein Vorbild hinterlassen, daß wir in ihren Fußtapfen wandern sollen. Endlich aber hat der Christ zu betonen, was selbst die Welt, wenigstens die honette, noch anerkennt: Von der Stirne heiß rinnen muß der Schweiß, soll das Werk den Meister loben, doch der Segen kommt von oben. Wenn der Mensch ein noch so geschickter Arbeiter ist, den Segen seiner Arbeit kann er sich nicht machen, sondern muß ihn sich von oben erbitten; soll unsre Arbeit uns unser Brod geben, muß Gott es uns gelingen lassen. Wo der Herr nicht das Haus bauet, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Es ist umsonst frühe aufzustehn und hernach lange zu sitzen und sein Brod zu essen mit Sorgen; denn seinen Freunden giebt er es schlafend. Darum bleiben wir bei der alten goldenen Regel: „Bete und arbeite!“ Darum beten wir für unser Brod, für das wir arbeiten, und arbeiten für das Brod, um das wir beten.

Doch es giebt Viele, die nicht arbeiten können; Kinder, die es noch nicht können; Greise, die es nicht mehr können; arme Lazarusse, die es überhaupt nicht können. Nun diese alle sollen ihr Brod essen auch ohne Arbeit, und. sollen auch ohne Arbeit getrost beten: Unser täglich Brod gieb uns heute! Es ist Gottes Ordnung, daß ihnen ihr Brod von anderer Leute Tisch kommt; so dürfen sie, aber auch allerdings nur sie, um fremdes Brod bitten als um das ihrige. Und es giebt auch Manche, die arbeiten können und auch gerne möchten, aber nicht Arbeit haben; nun für sie ist die Brodbitte eine Arbeitsbitte; für sie übersetzt sich das Gebet: „Unser täglich Brod gieb uns heute!“ in das andre: „Lieber Herrgott, gieb uns Arbeit, daß wir unser eigen Brod essen können.“ Und wahrlich an jenen, die nicht arbeiten können, wie an diesen, die Arbeit suchen, wird Gott gerade seine größten Wunder thun, wenn sie fleißig beten; denn wo die Noth am größten, ist Gottes Hülfe immer am nächsten. Und wenn Gott am Lebensabend sie fragen wird: „Kinder, habt ihr je Mangel gehabt?“ so werden seine frommen Kinder ihm alle aus einem Munde antworten können: „Herr, nie keinen!“

Wir kommen von der Betrachtung des Wörtleins unser zu der Erwägung des Wörtleins uns. Unser täglich Brod gieb uns heute. Es ist sündhaft, gar nicht um das tägliche Brod zu beten, aber es ist nicht minder sündhaft, nur für seine eigene armselige Person um Brod zu bitten. Das Wörtlein uns in der vierten Bitte und die ganze heilige Schrift erfordern eitel barmherzige Beter. Das Herz des Christen soll sich weit aufthun in der vierten Bitte, daß er alle irdische Noth und alle irdischen Bedürfnisse seiner Nächsten in ihrem ganzen Umfange, wie sie ihm bekannt sind, mit Namen nenne vor dem Throne seines himmlischen Vaters und anhalte an der Fürbitte für alle Wittwen und Waisen, für alle Siechen und Kranken, für alle Elenden und Armen. Es giebt in unserer Zeit so manche wohlthätige Anstalten, Häuser der Barmherzigkeit gegen allerlei Noth des Lebens, die allein angewiesen sind auf die Gaben der Milde; wenn nun wo ein armer, frommer Mensch ist, der nur gerade so viel Brod hat, daß er mit den Seinigen sich satt ißt, was soll er thun, wenn Andere, Begütertere ihre Gabe in die Collectenbüchse werfen und seine Hand doch leer ist? Ei, er soll, während die Andern die Hände öffnen, still und ernst seine Hände falten und für die, die noch ärmer sind, als er, brünstig mitbeten: Unser täglich Brod gieb uns heute! Der das Scherflein der Wittwe segnete, segnet auch die Fürbitten seiner armen Kinder. Aber die Fürbitten seiner reichen Kinder segnet er nur dann, wenn das Wörtlein uns in der vierten Bitte sie nicht blos zum barmherzigen Beten, sondern auch zum barmherzigen Mittheilen treibt. Ein Klingelbeutel ist das Wörtlein uns, das unser Gott alle Tage den Wohlhabenden vorhält mit der Mahnung: „Wohlzuthun und mitzutheilen vergesset nicht, denn solche Opfer gefallen mir wohl!“ Denn dazu segnet uns Gott, daß wir wieder segnen; darum ist er ein so freundlicher Geber, daß auch wir nicht blos Nehmer, sondern auch Geber sein; dazu thut er seine milde Hand so reichlich über uns auf, daß wir auch unsre Hand aufthun. Die Taschen der reichen Kinder Gottes bergen den Staatsschatz im Reiche Gottes, sind und sollen sein das Californien für der Heiligen Nothdurft. Freilich, das will manchem reichen Christen nicht immer einleuchten. Ein reicher Londoner Kaufmann trat an einem Winterabende aus dem Comtoir in seine Wohnstube. Er machte es sich bequem, rückte den Lehnstuhl an den Kamin und ließ sich am hellen Feuer gemächlich nieder. Es wollte aber mit der Gemüthsruhe heut Abend nichts Rechtes werden. Es ging dem Manne etwas im Kopf herum. Am Nachmittage war der Agent einer wohlthätigen Gesellschaft bei ihm im Comtoir gewesen, hatte ihn dringend gebeten, seinen Beitrag zum Besten der Gesellschaft dies Jahr zu verdoppeln und ihm die Bedürfnisse derselben mit vielem Nachdruck an's Herz gelegt. Der Kaufmann hatte ihn abgewiesen. „Die Leute müssen meinen, ich wäre ganz aus Geld zusammengesetzt“, sprach er jetzt vor sich hin; „das ist nun der vierte Verein, für den ich dies Jahr meinen Beitrag erhöhen soll, und doch habe ich grade dies Jahr so schwere Ausgaben für meinen Haushalt gehabt, wie noch nie. Der Bau hat schweres Geld gekostet; und diese Möbel und Tapeten und Vorhänge haben gekostet; ich wüßte wahrhaftig nicht, wie ich auch nur um einen Pfennig meine Beiträge erhöhen könnte.“ Der Mann wurde immer verdrießlicher, wurde müde und schläfrig, und endlich schlief er in seinem Lehnstuhle ein. Da kam es ihm im Schlafe vor, als höre er Fußtritte vor der Thür, und ein einfacher, ärmlich aussehender Mann trat herein, stellte sich vor ihn hin und bat um einen Augenblick Gehör. Der Kaufmann zog ihm einen Stuhl an den Kamin und bat, Platz zu nehmen. Der Fremde sah sich die schön möblirte Stube ein paar Augenblicke aufmerksam an, zog dann ein Papier hervor, reichte es dem Kaufmanne hin und sagte mit einer demüthigen und von Herzen sanftmüthigen Stimme: „Mein Herr, hier ist die Zeichnung Ihres letztjährigen Beitrages für die Mission. Sie kennen die Bedürfnisse dieser heiligen Sache besser, als ich es Ihnen sagen kann; ich wollte hören, ob Sie nicht Ihrem Beitrage für dieses Jahr noch etwas hinzufügen möchten.“ Die sanfte Ansprache des einfachen und anspruchslosen Mannes beunruhigte den Kaufmann noch mehr, als der Agent heut Nachmittag, und er wiederholte hastig und verlegen dieselben Entschuldigungen: die drückende Zeit, die Schwierigkeit, etwas zu verdienen, seine Familienausgaben u. s. w. Der Fremde schaute ruhigen Blicks durch das stattliche Zimmer, nahm sein Papier wieder an sich, reichte aber augenblicklich ein anderes mit den Worten hin: „Dies ist die Liste, auf der Ihr letztjähriger Beitrag für die Tractat-Gesellschaft verzeichnet steht; haben Sie nichts hinzuzufügen? Sie wissen, wie viel schon durch dieselbe geschehen ist, wie viel aber auch noch zu thun übrig bleibt? wollen Sie nicht Ihren Beitrag erhöhen?“ Der Kaufmann ward allerdings durch diese neue Bitte etwas verstimmt, aber in der stillen, milden Weise des Fremden lag etwas, was ihn vor heftigem Ausbruche bewahrte. Er antwortete nur, daß er unendlich bedaure, daß seine Verhältnisse der Art seien, daß sie ihm keine Erhöhung seiner milden Gaben für dies Jahr gestatten, und der Fremde zog auch dies Papier ohne den geringsten Widerstand zurück; aber unmittelbar darauf hielt er die Liste der Beitragenden für die Bibelgesellschaft hin und erinnerte den Kaufmann mit wenigen, aber eindringlichen Worten an die allgemein anerkannten Ansprüche dieser Gesellschaft und bat wieder um eine Erhöhung des Beitrages. Da wurde der Kaufmann ungeduldig. „Habe ich's nicht deutlich genug gesagt,“ fuhr er auf, „daß ich dies Jahr nichts mehr für solche Zwecke geben kann? Es scheint, als ob dergleichen Ansprüche in unserer Zeit gar kein Ende nehmen wollten. Anfangs gab es nur zwei bis drei Vereine und die Gaben dafür brauchten grade nicht hoch zu sein. Jetzt aber entstehen täglich neue, und nachdem wir schon reichlich gegeben, muthet man uns gar zu, unsere Gaben noch zu verdoppeln und zu verdreifachen. Dies Ding nimmt kein Ende! Wir müssen doch endlich einmal aufhören?“ - Der Fremde steckte sein Papier wieder ein, stand dann auf, heftete sein Auge durchdringend auf den vor ihm sitzenden Kaufmann und sprach mit einer Stimme, die durch die Seele zitterte: „In dieser Nacht vor einem Jahre glaubten Sie, Ihre Tochter läge im Sterben; Sie hatten vor Angst nirgends Ruhe - wen riefen Sie in jener Nacht an?“ Der Kaufmann fuhr zusammen und sah auf: es schien, als ob der Fremde verwandelt sei, so drückte ihn dessen ruhiger und durchdringender Blick zu Boden. Er rückte fort, hielt die Hand vors Gesicht und antwortete nichts. „Vor fünf Jahren,“ fuhr der Fremde fort, „wissen Sie es noch? da lagen Sie am Rande des Grabes und glaubten eine unversorgte Familie zurücklassen zu müssen; wissen Sie noch, zu wem Sie da beteten? wer Sie nicht zurückwies? wer Ihnen da half?“ Einen Augenblick hielt der Fremde inne; Todesstille herrschte im Zimmer. Der Kaufmann beugte sich vorn über und legte das betäubte Haupt auf die Lehne des Stuhls, der vor ihm stand. Der Fremde trat näher und in noch eindringlicherem Tone fragte er zum dritten Male: „Denken Sie fünfzehn Jahre zurück, an jene Zeit, wo Sie sich so hülf- und hoffnungslos fühlten, wo Sie Tag und Nacht im Gebet rangen, wo Sie gern den Werth einer ganzen Welt für eine Stunde gegeben hätten, in der Sie die Versicherung empfingen, daß Ihre Sünden Ihnen vergeben seien. Wer hörte damals auf Ihr Flehen?“ -

„Mein Gott und mein Heiland war es!“ rief der Kaufmann; „ja, er war es!“ - „Und hat der sich denn jemals beklagt, daß er von Ihnen zu viel in Anspruch genommen wurde?“ fragte der Fremde und seine Stimme war dabei so ruhig und so weich, und doch lag der allertiefste Vorwurf darin. „Wohlan, sprechen Sie! Sind Sie es zufrieden, von diesem Abend an nichts mehr von ihm zu bitten, wenn er dafür von heute Abend an Sie auch um nichts mehr bitten will?“ - „Nimmermehr!“ sprach der Kaufmann und stürzte zu des Fremden Füßen. Aber in diesem Augenblicke schien die Gestalt zu verschwinden und er erwachte. „O mein Gott und Heiland!“ rief er aus, „was habe ich gethan! Nimm Alles, nimm jedes. Was ist alles, das ich habe, gegen das, was Du für mich gethan hast!“

Diese Geschichte recht erwogen, könnte wohlhabende Christen recht gedankenvoll machen und die Gelübde der Barmherzigkeit, zu denen das Wörtlein uns in der vierten Bitte sie drängen will, ihren Seelen sehr nahe legen. Die vierte Bitte will von reichen Leuten nicht blos mit gefalteten, sondern auch mit offenen Händen gebetet sein.

Achten wir jetzt auf ein anderes Wort der vierten Bitte, auf das Wörtchen heute. Dasselbe ist ein Wort des Gottvertrauens. Christliche Brodbeter sollen beten nur für heute und die Zukunft vertrauensvoll dem Herrn überlassen; um das aber, was sie für den heutigen Tag erbitten, dürfen sie getrosten Muthes beten und gewiß sein, daß sie vom himmlischen Vater für heute sicherlich erhöret werden. Nur für heute dürfen Christenmenschen um das tägliche Brod bitten, nicht auch für morgen und übermorgen und die zukünftigen Tage. Arbeiten dürfen und sollen wir auch für das Brod der Zukunft, aber dafür beten dürfen wir nicht. Dem mit Leib und Seel' ergeben und hingegeben, der uns tragen will bis ins Alter und wenn wir grau werden, haben wir unsre Bitte allein auf den leiblichen Unterhalt in der Gegenwart zu richten. Der Herr Jesus schneidet mit dem Wörtlein heute alles heidnische Sorgen für die Zukunft ab, da sich das thörichte Herz zu Tode ängstigen will über den Fragen: „Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden?“ Es ist ja wahr, was das Sprichwort sagt: „Man sorgt sich eher alt, als reich!“ Und auch das andre Wort ist wahr: „Sorgen und Wachen sind Herrensachen.“ Ueberlassen wir die Sorge für unsre Zukunft nur getrost dem Allerhöchsten Herrn, es ist seine Sache, Er wird's schon wohlmachen. Aber ist's uns verwehrt, für die Nothdurft der Zukunft zu beten, so ist's uns desto näher gelegt, für die Nothdurft der Gegenwart bei unserm Gotte betend einzutreten und nicht müde zu werden, bis er uns erhört, heute erhört und uns heute giebt, was uns für heute noth thut. Und wahrlich so lange es heute heißt, wird Gott das Schreien seiner Auserwählten nach ihrer Nothdurft für heute auch gnädig erhören. Einst betete A. H. Franke in einer Stunde großer Noth das Vaterunser. Bei der vierten Bitte ruhete er in dem Worte heute mit gläubigem Gottvertrauen. Und siehe, er hatte noch nicht ausgebetet, da wurden ihm hundert Thaler gebracht. Damit aber Keiner meine, solcher gnadenvollen. Gebetserhörungen hätten sich nur die Helden in Israel zu rühmen, sei hier noch eine ähnliche Geschichte von einem armen Schneider unserer Tage berichtet: Ein Schneider wurde, nachdem er seine Wanderjahre hinter sich hatte, an einem Orte, fern von seiner Heimath als Meister ansäßig. Aber er fand unter seinen neuen Mitbürgern, denen er ganz fremd war, keine bleibenden Kunden; die Arbeit ging ganz aus, und das Wenige, was er zuzusetzen hatte, war bald verzehrt. Seine Frau, von Noth und Kummer angegriffen, lag trank im Bett; seine kleine Tochter saß, die rothen Hände unter der Schürze, auf der Thürschwelle und weinte vor Hunger; er selbst, so matt, daß er kaum aufrecht stehen konnte, stützte sich auf den Sims und drückte seine Stirn an das Fenster. Draußen aber war's finster und Regenschauer mit Windstößen thaten das Ihre dazu. - Wer sollte in einem solchen Unwetter kommen und Hülfe bringen? Und doch konnte der arme Mann nicht anders - so oft er seine Hände fester faltete und in seinem Herzen rief: „Herr, hilf! Herr, erbarme Dich unser!“ mußte er immer hinzusetzen: „Aber heute noch, heute noch!“ Und als er zum dritten Mal so gefleht hatte, stolperte es die Stiege herauf, suchte nach der Thür und klopfte an. Eine Viertelstunde vorher war in dem Gasthofe nicht weit von der Hütte des Elends ein Fremder abgestiegen und hatte dem Kellner befohlen, ihm sogleich einen Schneider zu rufen. Dem Kellner in der Jacke und den dünn besohlten Schuhen war es aber nicht nach der Hand, in dem kalten, nassen Wetter den langen Weg zu einem der ersten Kleidermacher der Stadt zu nehmen, und er wählte daher den nächsten zu unserem Schneider. Als über der Fremde das magere, halbverhungerte und zitterige Männlein ansah, wollte er ihm die Arbeit nicht anvertrauen, sondern ihn nur mit einem Almosen abfertigen; aber es sprach auf der einen Seite so zuversichtlich von seiner Tüchtigkeit und auf der andern so beweglich von seiner Noth, daß er sich endlich die Beinkleider anmessen ließ und das seine, theure Tuch dazu aushändigte. - Nun vergaß der arme Schneider Hunger und Mattigkeit und brachte in der langen Herbstnacht und in den ersten Stunden des darauf folgenden Morgens so elegante Beinkleider zu Stande, daß sie der Fremde bewunderte und in der Freude über die wohlgelungene Bestellung doppelt bezahlte. Auch in der Abendgesellschaft, wozu er sie anthat, zogen sie die Blicke einiger Modeherren auf sich. Der Fremde nannte ihnen den Meister, der sie gemacht hatte, die Herren suchten sogleich am anderen Tage den Empfohlenen auf und unser Schneider bekam von dem Augenblicke an eine so große und reiche Kundschaft, daß er sich endlich zwei und oft noch mehr Gesellen halten konnte.

Also hilft mit ausgerecktem Arm der große Gott denen, die im Vertrauen auf Ihn das „heute“ in der vierten Bitte recht andächtig beten, und hilft ihnen nicht blos heute, sondern auch morgen; denn jeder morgende Tag ist ein neues heute, wo Gottes Kinder von Neuem rufen um's tägliche Brod und es von Neuem erhalten.

Es erübrigt unserm frommen Nachdenken nur noch ein einziges Wörtlein unter den sechs Worten der vierten Bitte, das ist das Wörtlein gieb. Unser tägliches Brod gieb uns heute. Vater Luther richtet gerade auf dies Wort den Kern seiner Erklärung, wenn er spricht: Gott giebt täglich Brod auch wohl ohne unsere Bitte allen bösen Menschen, aber wir bitten in diesem Gebet, daß er uns erkennen lasse und wir mit Danksagung empfangen unser täglich Brod. Der himmlische Vater ist ein Gott, der allem Fleische Speise giebt; Aller Augen warten auf ihn, und er giebt ihnen ihre Speise zu seiner Zeit; er thut seine Hand auf und erfüllet Alles, was lebet mit Wohlgefallen. Die unvernünftige Creatur erkennt es nicht, von wem ihr das tägliche Brod kommt, und die bösen, der Welt zugethanen Menschen wollen es nicht erkennen. Aber der Jünger des Heilandes soll es erkennen und soll es zu erkennen geben dadurch, daß er den Geber aller Güte anflehet um das tägliche Brod und spricht: „Gieb Du, himmlischer Vater, gieb Du uns das tägliche Brod.“ Dieses Erkennen Gottes aber als des gütigen Brodspenders vollendet sich in der Erkenntlichkeit gegen Gott als den freundlichen Geber. Dem wahren Christen ist das tägliche Brod eine tägliche Predigt von Gottes väterlicher Güte und Barmherzigkeit, eine Predigt, die ihn auf die Knie zieht. So nimmt er denn auch jeden Bissen Brodes, den Gott ihm schenkt, mit herzlicher Dankbarkeit hin; so bewegt ihn der Anblick jeder Aehre, jedes Gräsleins zum Preise Gottes. Als Luther einmal auf dem Wege nach Leipzig fuhr und die Saat sah, daß sie so voll, lieblich und schön im Felde stand, betete er, dankte und sprach: „Ach, lieber Herr Gott, Du wollest uns ein gut Jahr geben, wahrlich nicht um unserer Frömmigkeit willen, sondern um Deines Namens willen. Gieb, lieber Herr, daß wir uns bessern und in Deinem Wort wachsen und zunehmen, denn das sind nichts anders, denn Wunder, daß Du aus der Erde, ja aus dem Sande bringst Halme und Aehren. Lieber Vaters gieb uns, Deinen Kindern, das tägliche Brod.“

Wenn aber so das Wörtlein „gieb“ zur Erkenntlichkeit drängt und führt, so führt und drängt es damit auch zum Tischgebet. Denn das Tischgebet ist der tägliche, praktische Ausdruck christlicher Erkenntlichkeit gegen den himmlischen Brodherrn. Das Tischgebet ist viel älter, als das Christenthum, ist so alt, als die Welt ist. Schon dem Volke Israel war geboten (5 Mose 8, 10): „Wenn Du gegessen hast und satt bist, sollst du den Herrn deinen Gott loben für das gute Land, das er dir gegeben hat;“ aber auch die alten Griechen und Römer beteten regelmäßig beim Anfang und beim Schlusse des Mahles. Erst das moderne Heidenthum mitten in der Christenheit hat den traurigen Ruhm, das Tischgebet über Bord geworfen zu haben. Das Unerhörte, in allen früheren Jahrhunderten Unmögliche, seit den letzten hundert Jahren ist's geschehen: Es ist in den höchsten, wie in den niedersten, namentlich aber in den mittleren Kreisen zur gesellschaftlichen Sitte geworden, bei Tische von Gott zu schweigen. Unter dem Banne dieser bösen Sitte leben auch nicht Wenige von denen dahin, die sonst dem Reiche Gottes nicht ferne stehn; und manch' Einer hat eher den Muth, in den dichtesten Kugelregen der Schlacht zu gehn, als die Tyrannei dieser Sitte zu brechen. Wo es so steht, ist mit dem bloßen Predigen: Betet bei Tische! wenig gethan; eine Sitte läßt sich selten wegpredigen, sie muß weggelebt werden. Die Hoffnung der Kirche in diesem Puncte ruht auf den Kleinen, auf den Kindern. Wo die Schulen nicht ganz auf die schiefe Ebene gerathen sind, werden die Kinder vermahnt und angewiesen zum Tischgebet. Das läßt uns auf ein anderes, besseres Geschlecht nach uns hoffen, unter dem es wieder in den weitesten Kreisen gesellschaftliche Sitte sein wird, den Herrn zu Gaste zu laden und dem Herrn m danken bei jeder Mahlzeit. Aber auch schon jetzt bekehrt manches Kind die Herzen der Eltern zur Erkenntlichkeit gegen den Herrn und zum Tischgebet. In einer kleinen Stadt Pommerns besuchte des Bürgermeisters ältestes Söhnlein seit einigen Tagen die Vorschule des Gymnasiums. Das Kind hatte sich vorher sehr geängstigt vor der Schule; aber kaum war es drin, so war sie ihm lieber als alles Andre in der Welt. Es ist ja oft so im Leben: Was Einer heute nicht leiden mag, weil er's nicht kennt, mag er morgen schon nicht lassen, weil er's nun kennt. Einmal nun kommt der Knabe um die Mittagszeit aus der Schule zu Hause, setzt sich wie gewöhnlich mit Vater und Mutter zu Tische, aber, obwohl die schönsten Speisen auf dem Tisch stehn und die Mutter ihm ein vollgerüttelt Maaß auf seinen Teller füllt, und obwohl der Kleine ganz gesunden Appetit hat, will er doch nichts anrühren. Die Eltern verwundern sich und fragen: Warum issest du denn nicht? Da sagt das Kind: „Wir haben ja noch nicht gebetet, und der Herr Lehrer hat uns gesagt: Wer nicht beten will, darf auch nicht essen!“ Da haben Vater und Mutter sich ernst angesehn, haben Messer und Gabel hingelegt und haben das Kind beten lassen: „Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, segne, was Du uns bescheeret hast!“ Und dann hat das Kind fröhlich gegessen und die Eltern auch, und hat ihnen Allen so gut geschmeckt, wie noch nie. Sie haben auch fortan immer gebetet beim Essen, vorher und nachher. Und diese Geschichte hat nicht der Lehrer weiter erzählt, auch nicht das Kind, sondern der Vater; und es wäre gar schön, wenn recht viele solche Geschichten geschähen heutzutage und das Tischgebet wieder allgemeiner zu Ehren käme und die Erkenntlichkeit wüchse, die Erkenntlichkeit gegen den lieben himmlischen Vater, der sich von uns gerne bitten läßt: Unser täglich Brod gieb uns heute!

Das ist die vierte Bitte, betrachtet nach den einzelnen sechs goldenen Worten, die sie enthält. Sie ist die Bitte um des Leibes Nahrung und Nothdurft, die im Geist und in der Wahrheit nur da gebetet wird, wo Genügsamkeit, Fleiß, Barmherzigkeit, Gottvertrauen und Erkenntlichkeit bei einander , und mit einander sind. Sie sitzt im Mittelpunct der sieben Bitten wie die Perle mitten im Golde. Und wer sie recht beten kann, sitzt im Schooße der Gnade und singt mit Jauchzen von des himmlischen Brodherrn Gnade; denn wessen Brod ich esse, dessen Lied ich singe. - Amen.