Der heilige Berg, der nächst dem Berge Ararat unter den Bergen des alten Testamentes am meisten unsre Blicke fesselt, ist der Berg Sinai in Arabien, heutzutage Dschebel Musa d.i. Berg des Moses genannt, die südliche Kuppe des mächtigen Gebirges Horeb, einer fast kreisrunden Berggruppe von acht bis zwölf deutschen Meilen im Durchmesser.
Ist denn aber auch der Sinai einer von den Bergen, von dannen uns die Hülfe kommt? Flößt er nicht vielmehr Furcht und Schrecken ein, sowohl durch seine äußere Erscheinung, als auch durch die Gesetzesoffenbarung, deren Träger er ist?
Vor allen Stätten der Erde ist der 7000 Fuß hohe Sinai durch riesenhafte, düstere Majestät ausgezeichnet; eine unabsehbare Wüste umgiebt ihn voll eintöniger Schweigsamkeit, die nur brausende Stürme und rollende Donner unterbrechen. Kann von einem solchen Berge auch Heil kommen?
Ach, die Offenbarung, zu der der große Gott sich diesen Berg erwählt, scheint nicht zum Heile, sondern uns zur Strafe und zum Unheil gegeben zu sein. Denn nicht freundlich, wie auf dem Ararat geht Gottes Stimme auf dem Sinai einher, sondern wie brausende Stürme und rollende Donner.
Am Fuße des Sinai in den weiten, wüsten, wilden Thalebenen, die ihn umgeben, lagert das Volk Israel, der abrahamitische Zweig des Geschlechtes Noah, das seinen Weg verderbt hat wie das Geschlecht Adams vor der Sündfluth und eine neue Sündfluth wohl verdienet hätte. Moses aber, der Knecht Gottes, der Mittler des alten Testamentes, steigt auf den Berg. Da geschieht das Wort des Herrn an ihn: „Gehe hin zum Volk und heilige sie heut‘ und morgen, daß sie ihre Kleider waschen und bereit seien auf den dritten Tag. Denn am dritten Tag wird der Herr herabfahren vor allem Volk auf den Berg Sinai. Und mache dem Volk ein Gehege umher und sprich zu ihnen: Hütet euch, daß ihr nicht auf den Berg steiget, noch sein Ende anrühret; denn wer den Berg anrühret, soll des Todes sterben. Keine Hand soll ihn anrühren, sondern er soll gesteinigt oder mit Geschoß erschossen werden; es sei ein Thier oder Mensch, so soll er nicht leben. Wenn es aber lange tönen wird, so sollen sie an den Berg gehn.“ Als nun die Sonne aufging am dritten Tage, da erhob sich ein Donnern und Blitzen und eine dichte Wolke auf dem Berge und der Ton einer sehr starken Posaune, und Moses führte das Volk aus dem Lager Gott entgegen an den Fuß des Berges, der gleich einem Riesenaltare glühete, rauchte und erbebte. Der Herr aber redete aus der Rauchwolke unter Donner und Blitzen und Posaunenton die heiligen zehn Worte, die heiligen zehn Gebote. Alles Volk aber sah den Donner und Blitz und den Ton der Posaune und den Berg rauchen. Und da sie das sahen, flohen sie und traten von ferne und sprachen zu Mose: Rede du mit uns, und wir wollen gehorchen, aber laß Gott nicht mit uns reden, wir möchten sonst starben. Mose aber sprach zum Volk: Fürchtet euch nicht, denn Gott ist gekommen, daß er euch versuchte, und daß seine Furcht euch vor Augen wäre, daß ihr nicht sündiget. Also trat das Volk von ferne, aber Mose machte sich herzu ins Dunkle, da Gott innen war, und stieg auf den Berg. Und da er auf den Berg kam, bedeckte eine Wolke denselben, und die Herrlichkeit des Herrn wohnte auf dem Berge Sinai. Das Ansehn der Herrlichkeit des Herrn aber war wie ein verzehrendes Feuer auf der Spitze des Berges vor den Kindern Israel. Und Mose blieb auf dem Berge vierzig Tage und vierzig Nächte. Da redete der Herr mit ihm von Angesicht zu Angesicht, wie ein Freund mit einem Freunde redet, und übergab ihm alle die Gesetze, Gebote und Rechte für das Volk, die uns in den Büchern Mose aufbewahrt sind, und die entweder Erläuterungen und Ausführungen der zehn Gebote bilden oder durch äußere Gebräuche auf die geistigen Forderungen desselben hindeuten sollen. Da aber Mose vom Berge Sinai ging, wußte er nicht, daß die Haut seines Angesichtes glänzte davon, daß er mit dem Herrn geredet hatte. Welche Gefühle der Ehrfurcht und der Beugung aber den Knecht Mose unter der Sinaioffenbarung seines Gottes durchbebten, davon giebt Zeugniß der älteste aller Psalmen, da Moses singt: Ehe denn die Berge worden und die Erde und die Welt geschaffen worden, bist du Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Der Stern und Kern der gewaltigen Offenbarung Gottes auf dem Sinai ist das Gesetz der heiligen zehn Worte. Dieses Gesetz wurde dem Volke Israel nicht nur für sich, sondern für die ganze Menschheit übermittelt. Während alles Andre, das dem Volk außer den zehn Geboten auf dem Sinai geboten ward, durch Volk und Zeit bedingt war und nur eine vorübergehende heilige Form bildete, die hinfiel, sobald in Jesu Christo das heilige Wesen für alle Völker und alle Zeiten geoffenbart ward: ist das Gesetz der zehn Worte der unvergängliche Abdruck des göttlichen Wesens und Willens, das Gesetz im Gesetze, das auch Christus nicht bekommen ist aufzulösen, sondern zu erfüllen. Um dieses Gesetzes der zehn Worte willen ist der Sinai noch heute von schwerwiegender Bedeutung für jedes Erdenkind; denn durch dasselbe lehrt uns der Sinai, was Gottes Heiligkeit von den nach seinem Ebenbild geschaffenen Creaturen fordert und fordern muß.
„Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst nicht andre Götter haben neben mir!„ das ist das erste der zehn Worte, die uns vom Sinai unter Donner und Blitz entgegen tönen; dieses Wort fordert von uns, daß wir den großen Gott, der uns gemacht hat, über alle Dinge fürchten, lieben, und vertrauen; es gebietet uns die Heiligung der göttlichen Person. Das zweite Wort gebietet uns die Heiligung des göttlichen Namens, das dritte die Heiligung des göttlichen Tages, das vierte die Heiligung der göttlichen Stellvertreter auf Erden, der Eltern und der Obrigkeit. Zu diesen vier Worten, die die Beziehung des menschlichen Lebens zu Gott regeln, kommen sechs, die das Verhältniß des Menschen zu seinem Nächsten betreffen. Das fünfte Gebot gebietet uns, das Leben des Nächsten zu ehren, das sechste gebietet dasselbe in Beziehung auf seine Ehe, das siebente in Beziehung auf sein Eigenthum, das achte in Beziehung auf seinen guten Namen. Die beiden Schlußgebote gebieten, daß wir die zuvor gegebenen Gebote nicht blos äußerliche mit Hand und Mund, sondern vor allen Dingen auch innerlich im Herzen halten sollen. Das ganze Gesetz aber hanget in diesen zwei Geboten: du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüth. Dies ist das vornehmste und größeste Gebot. Das andre aber ist dem gleich: du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst.
Das ist der heilige Wille Gottes, wie er sich auf dem Sinai zunächst Israel, durch Israel aber allen Menschen in majestätischem Ernste geoffenbart hat. Wir hören dazu die Drohung und Verheißung: „Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsuchet der Väter Missethat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied, die mich hassen; und thue Barmherzigkeit an vielen Tausenden die mich lieb haben und meine Gebote halten!“ Diese süße Verheißung von Gottes Barmherzigkeit an denen, die ihn lieb haben und seine Gebote halten, leuchtet sie uns als Hoffnungsschimmer mitten in dem düsteren Sinai-Gemälde? Dürfen wir sagen: der Berg Sinai ist ein Berg, von dannen uns die Hülfe kommt, um der Verheißung willen, die dort gegeben ist denen, die Gottes Gebote halten? Es getrösten sich dieser Verheißung ja nicht Wenige, nämlich alle die, die mit den Werken umgehn und durch ihre eigne Gerechtigkeit und Tugend die Seligkeit erwerben, nicht aus Gnaden ererben wollen. Solche waren die Pharisäer zu Christi Zeit, die der thörichten Meinung waren, sie hätten alle Gebote Gottes gehalten von Jugend auf; solche waren die judenchristlichen Irrlehrer der Apostel Zeit, die da lehreten, daß Fleisch und Blut durch des Gesetzes Werke gerecht werden könne und müße; solche waren die römischen Mönche und Priester, die von den sogenannten Heiligen vorgaben, daß dieselben sogar noch einen Ueberschuß guter Werke geleistet hätten. Solche sind auch heutzutage alle die, die zwar gegen den Leichtsinn und die Lust der eitlen Menge eifern und zürnen, aber nicht minder gegen Orthodoxie und Pietismus ihre Lanze brechen, alle die ehrbaren Männer und sittsamen Frauen, die sich äußerlich nichts zu Schulden kommen lassen und diese ihre äußerlich Unbescholtenheit für ausreichend zum ewigen Leben erachten und sprechen: Was darüber ist, das ist vom Uebel. Das sind die Leute, die sich der Sinai-Verheißung getrösten, nach der Gott Barmherzigkeit thun will an Allen, die ihn lieben und seine Gebote halten. Aber diese Leute irren sich sehr, und ihr letztes Verwundern wird groß und schrecklich sein. Der Verheißung vom Sinai kann sich in Wahrheit kein Mensch getrösten, denn kein Mensch hat in Wahrheit das Gesetz der zehn Worte gehalten. Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie an Gott haben sollten. Alle Welt ist nach dem Gesetze Gott schuldig, und kein Fleisch mag durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein, kein Lebendiger ist vor ihm gerecht. Das Gesetz giebt uns nicht das Heil, weil wir Sünder sind. Es kann dem Menschen wohl zu einem Riegel dienen, der so lange bis er gesprengt wird, wehrt, daß die Sünde, die gleich wilden Thieren im Herzen liegen, nicht herausbrechen, aber zahm machen kann der Riegel die wilden Thiere nicht. Es kann dem Menschen zu einem Zügel dienen, ihn auf den richtigen Weg zu leiten, aber ihm Kraft geben, daß er ihn laufe, ihm Lust geben, daß er darauf bleibe, das kann der Zügel nicht. Das Gesetz kann dem Menschen zu einem Spiegel dienen, der ihm die Flecken und die Unsauberkeiten seines Lebens zeigt; aber waschen und reinigen das unsaubere Leben, das kann der Spiegel nicht. So hilft uns denn die Verheißung vom Sinai nichts, so dürfen wir dieselbe uns nicht aneignen. Unser Theil, der uns gebührt, ist vielmehr die Drohung vom Sinai, derzufolge der Herr, unser Gott, der Väter Missethat heimsuchen will an uns und unsern Kindern. Je mehr wir die zehn Worte betrachten, je eifriger wir sie mit unserm Leben vergleichen – desto lauter werden wir rufen: O meine Sünde, meine Sünde! desto gewaltiger wird unser Zittern sein vor dem starken und eifrigen Gotte, der nicht ungestraft läßt, Alle, die seine Gebote übertreten. Das große “Du sollst!“ des Sinai, das so majestätisch und so feierlich in Ohr und Herzen dringt, läßt uns mit Beben inne werden: “Ich kann nicht!!“ So stehen wir mit traurigen Gedanken vor dem Sinai, und unsre Augen füllen sich mit Thränen, und wie das alte Volk Israel fliehend und von ferne tretend, seufzen wir: O Sinai, du bist nicht ein Berg, von dannen uns die Hülfe kommt; du bist vielmehr ein Berg, der uns aufdeckt, wie hülflos wir sind, wenn wir unser Leben stellen allein in’s Licht der Heiligkeit Gottes. So hat der fromme Sänger den Sinai angesehn, da er von ihm sagte und sagt:
Sieh da in Riesenlettern
Das göttliche Gebot,
Das wie ein Fels aus Wettern
Die Sünderwelt bedroht,
Das auf die Schuld der Erde
Gelassen, unverrückt
Mit steinerner Gebehrde
Zermalmend niederblickt!
Kein Freudenblümlein sprießet
An seinem Felsgestein,
Kein Born des Lebens fließet
Von seinen Höhen feldein:
Hier fühlt mit tiefem Beben
Das Menschenkind sein Nichts,
Und ihm zu Häupten schweben
Die Adler des Gerichts! –
Aber ist denn der Sinai nur ein Zeuge der Heiligkeit und des Zornes Gottes? Hat denn Gott auf dem Sinai nur mit Moses und durch Moses gesprochen? Nein, der Sinai ist auch geweiht worden durch eine vordeutende Offenbarung Gottes in Christo. Gott hat auf dem Sinai nicht blos mit Mose, sondern auch mit den Propheten gesprochen. Noch heute wird an dem Abhange des Dschebel Musa die Höhle gezeigt, in die einst das Haupt der Propheten, Elias, kam und blieb daselbst über Nacht. Und als er herausging und trat auf den Berg vor den Herrn, siehe da ging der Herr vorüber, und ein großer starker Wind, der die Berge zerriß und die Felsen zerbrach, vor dem Herrn her; aber der Herr war nicht in dem Winde. Nach dem Winde aber kam ein Erdbeben, doch der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen Da das Elias hörete, verhüllete er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging heraus und trat in die Thür der Höhle; und siehe, da kam die Stimme des Herrn zu ihm. Welch‘ ein anderes, süßeres Bild gewährt hier der Sinai, als weiland zu Mosis Zeiten! Der Sturm und das Feuer und das Beben, wie es bei der mosaischen Gesetzgebung erschienen, wandelte sich unter den Propheten in ein stilles, sanftes Sausen. Und dies stille sanfte Sausen, es ist die vorlaufende Gnade Gottes in Christo, die die Wunden heilt, die das Gesetz geschlagen, den glimmenden Tocht anfacht, den das Gesetz fast ausgelöscht hat, das Rohr aufrichtet, das das Gesetz zerknickte. Alle Prophetenstimmen von dem, der unsre Krankheit tragen sollte und unsre Strafe auf sich nehmen, auf daß wir Frieden hätten, sind Fortsetzungen jenes Säuselns vom Sinai. Durch das ganze alte Testament geht neben dem Donner vom Sinai gleichmäßig ein Säuseln vom Sinai her, zum Zeichen und Zeugniß, daß Jehovah, der Herr Zebaoth, ein eben so großer Gott der Gnade, als der Gerechtigkeit ist.
So predigen denn diejenigen nicht recht, die einseitig nur die Donner vom Sinai durch die Gemeinden rollen lassen, die nur predigen die Verdammniß, die der Sünder vor dem Gesetze verdient hat, den Zorn, den er sich aufgehäuft hat zum Tage des Gerichts. Und wenn sie noch so sehr donnern und stürmen, der Herr geht nicht vor ihnen her. Die bloße, einseitige Gesetzespredigt, da man dem Sünder nur seine Sünden vormalt und ihm nur die Hölle heiß macht, stürzt in Mißglauben, Verzweiflung und andre große Schande und Laster. Es gilt, eingedenk zu sein, daß nicht blos ein Mose, daß auch ein Elias auf dem Sinai gestanden; daß es nicht blos gedonnert und geblitzt hat auf dem Sinai, sondern auch leise und lind gesäuselt. Auf dies linde Säuseln der Gnade Gottes soll man die mühseligen und beladenen Herzen hinweisen; man soll ihnen predigen von dem, von dem die Propheten zeugten, von Christo Jesu, der sein Leben in den Tod gegeben hat für Alle, die um ihrer Sünden willen den ewigen Tod verdient haben. Man soll ihnen sagen, daß unser Gott uns nur darum durch seine Heiligkeit in den Staub beugt, um uns durch seine Gnade zu erheben, nur darum uns durch das Gesetz der zehn Worte das Wasser in die Augen treibt, um uns durch seine linde Barmherzigkeit in Christo Jesu alle Thränen vom Angesicht zu wischen. Und das soll man heutzutage um so mehr thun, als die ewige Erlösung längst erfunden, der große Retter längst gekommen ist. Als es Weihnacht geworden war und der Gesang der himmlischen Heerschaaren auf den Fluren Bethlehems ertönte, da ging das wahre, rechte leise Säuseln des Allbarmherzigen über diese arme Erde und weht und säuselt seitdem fort und fort in der Kirche Jesu Christi und ihren Gnadenmitteln. Wohl ist auch in der Kirche des neuen Bundes das Gesetz vom Sinai nicht abgeschafft, aber heller als das Gesetz, leuchtet in ihr die erquickende Gnade Jesu Christi, auf die das Donnern vom Sinai nur vorbereiten soll, die sich im Säuseln vom Sinai vorbildete und in der Erscheinung des Sohnes Gottes auf Erden und in der Sendung seines heiligen Geistes vollendete.
Im Gedächtniß des Eliassäuselns ist dann also der Sinai dennoch einer von den Bergen, von dannen uns die Hülfe kommt, und der Blick auf ihn macht das Herz wacker und fröhlich. So sah der Sänger auf ihn, da er sang:
Und die Sterne Gottes mild und klar
Erscheinen am himmlischen Bogen,
Und über die Berge kommt’s wunderbar
Wie Harfenspiel geflogen;
Im sanften Säuseln, im Abendwind
Erscheinet der Herr barmherzig und lind,
Da neigt sich Elias, ein seliges Kind,
Und verhüllt sich, dem himmlischen Rauschen zu lauschen.
Nachdem wir den Sinai angeschaut haben als Stätte doppelter Offenbarung des Herrn, der Offenbarung seiner Heiligkeit und der Offenbarung seiner Barmherzigkeit, blicken wir noch einmal zu ihm auf, um wahrzunehmen, wie er auch eine Stätte ist, an der erkenntliche Menschen Gott den Dank opfern, der ihm gebührt für das, was er auf dem Sinai an der Menschheit gethan. Frühe haben fromme Einsiedler den heiligen Berg aufgesucht, um ferne von dem lauten Markt der Welt hier dem Gottes ihres Heils und den großen Erinnerungen zu leben, die sich an den Sinai knüpfen. Eine wahre Völkerwanderung von Einsiedlern strömte den Felsen des Sinai seit dem dritten und vierten Jahrhundert nach Christo zu. Damit sich die Einzelnen nicht gegenseitig in der Andacht störten, waren ihre Zellen von einander entfernt; in diesen lebten sie einsam die ganze Woche hindurch, nur am Sonntag Morgen sammelten sie sich in einer gemeinsamen Wüstenkirche, nahmen das heilige Abendmahl und gingen dann gestärkt heim, ein jeder in seine Klause. Als die Macht der Saracenen aufzublühn begann, wurde die heilige Stätte am Sinai oft durch Mord und Brand entweiht, und mancher wehrlose Einsiedler fiel durch das Schwert der Ungläubigen. Darum gründete der Kaiser Justinian in der Sinaiwüste ein Kloster mit einer starken Festung und schenkte demselben zweihundert Sclaven mit Weibern und Kindern zum Schutz und Dienst. Jetzt wuchs die Zahl der Einsiedler wie Gras nach dem Regen; siebentausend bildeten fortan die Durchschnittszahl, und die Wallfahrten zu den heiligen Männern und den heiligen Stätten wollten nicht aufhören. Die Türkenherrschaft hat die Zahl der Sinaibewohner und der Sinaipilger gemindert; aber nie ist das Kloster ganz von den Muhamedanern zerstört worden, vielmehr bilden jetzt die benachbarten Beduinen selbst die Wächter des Sinai und empfangen dafür kleine Abgaben. Etwa zwanzig Mönche leben jetzt in jenem Kloster am Sinai ihren Pflichten und der Aufnahme der Pilger und Reisenden, deren etwa 100 das Jahr hindurch die heilige Bergstätte aufsuchen. In der weiten, wilden Wüste rufen wundersam ergreifende Glockentöne zu tiefer Andacht vor dem Herrn, der weiland hier offenbarete beides, seine Heiligkeit vor Mose und seine Gnade vor Elias.
Nur im Geiste bauen auch wir uns eine Zelle am Sinai, dem Herrn zu dienen und zu danken; aber der Herr will auch haben, die ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Das aber heißt, Gott im Geist und in der Wahrheit Dank sagen für seine Offenbarungen auf dem Sinai, wenn wir in der Kraft des heiligen Geistes, dessen Säuseln uns umweht, das Gesetz der zehn Worte unseres Fußes Leuchte und das Licht auf unserm Wege sein lassen. Was dem Sünder aus eigner Vernunft und Kraft unmöglich ist, zu wandeln in den Geboten und Satzungen Gottes, das wird ihm durch den heiligen Geist je länger, je besser ermöglicht; der heilige Geist macht den Gang eines gerechtfertigten Sünders gewiß in Gottes Wort und läßt das Unrecht nicht über ihn herrschen; der Glaube hebt das Gesetz nicht auf, sondern richtet es erst recht auf. Das Gesetz der zehn Worte sollte darum allewege recht fleißig gepredigt werden als Regel für die Dankbarkeit der Gläubigen. Im Glauben an Jesum Christum vor aller Befleckung des Fleisches und Geistes sich hüten und fortfahren mit der Heiligung in der Furcht Gottes, das ist die rechte tägliche Wallfahrt zum Sinai.
Nicht als ob wir mit unsrer Heiligung, mit unserm Wandel nach dem Gesetz in der Kraft des heiligen Geistes unsre Seligkeit verdienen oder die freigeschenkte auch nur fester und gewisser machen könnten. Nein, unsre Seligkeit liegt nie und in keiner Weise an unserm Wollen oder Laufen, sondern allein an Gottes Erbarmen; sie steht ganz allein auf Gnade. Darum ist das Säuseln der Gnade, das Elias auf Sinai verspürt, köstlicher als der rollende Donner des Gesetzes, der Mose und das Volk auf dem Sinai umrauschte. Denn jenes Säuseln weist über den Sinai hinaus auf einen andern Berg, wo die Gnade am vollkommensten sich offenbarte, auf Golgatha. Für den wahren Christen ist es unmöglich, in der Sinaiwüste sein Leben zu beschließen; sein Weg geht über den Berg des Gesetzes zum Hügel der Gnade, über Sinai nach Golgatha. Es schrieb einmal ein berühmter Naturforscher in das Fremdenbuch des Klosters am Sinai: „Wem kein Tempel weihevoll genug erscheint, um beten zu können, der besteige den Sinai, und in diesem Tempel wird er beten können.“ Der wahre Christ hält das für eine Uebertreibung und unterschreibt das nicht; ihm gefällt besser, was der Dichter sagt:
Und hast du deine Knie
Am Sinai gebeugt,
Dann nimm den Stab und ziehe,
Wohin der Engel zeigt;
Zeuch auf der Sehnsucht Flügel
Weit über Thal und Höhn,
Bis du den Gnadenhügel
Von Golgatha gesehn. Amen.