V. 9. Weiter sprach Jakob: Gott meines Vaters Abraham, und Gott meines Vaters Isaaks, Herr, der du zu mir gesagt hast: Ziehe wieder in dein Land, und zu deiner Verwandtschaft; Ich will dir wohlthun; -
V. 10 Ich bin viel zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du an deinem Knechte gethan hast. Denn mit meinem Stab ging ich über diesen Jordan, und nun bin ich zwei Heere geworden.
V. 11. Ich bitte, errette mich von der Hand meines Bruders Esau, denn ich fürchte mich vor ihm, daß er komme, und erschlage mich, die Mutter sammt den Kindern.
V. 12. Du hast gesagt: Ich will dir Wohl thun, und will deinen Samen machen wie den Sand am Meer, den man nicht zählen kann vor Menge.
Als der bedrängte Jakob also zu seinem Gott schrie, ahnete er nicht, er habe damit einem bedeutenden Theile der künftigen Kirche Gottes auf Erden ein Mustergebet geliefert, und daß besonders die Schaaren der Anbeter Gottes im Geiste und in der Wahrheit bis in die späteren und spätesten Zeiten es ihm nachsprechen würden: Ich bin viel zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du an deinem Knechte gethan hast. - Dies ist auch, lieber Freund, in den schwersten Stunden und Tagen meines alten Lebens, mein Erkennen und Bekennen aller Tage und Stunden; und je älter dieses Leben wird, je mehr die schwachen Glieder, die müden Stützen, mich daran erinnern, daß es zum Ende hin wanket, um so heller breitet sich Licht von oben herab über die zurückgelegten Wege, was ich gethan, was ich hatte, was ich war, was ich bin; und ich erkenne es immer tiefer und durchdringender an diesen ernsten Strahlen, aber mit einem wunderbaren Scham- und Seligkeitsgefühl: Ich bin viel zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die Er an mir, armen Menschen, gethan.
Jakob hatte sonst von vielen Sachen wenig gelernet; er war ein Hirte, und verstand's, seine vielen verschiedenen Heerden zu leiten, sie zu weiden und zu mehren; er wußte auch, was nicht immer ein Leichtes ist, über seine vielen Mägde und Knechte das Regiment zu führen: aber ohne besondere Erzieher und Lehrer, ohne Kirchen, und alle unsere schönen Gottesdienste, Kinderlehren, Predigten, ohne Bibel, - auf den Weiden und Fluren Canaans und Mesopotamiens erwachsen, wußte er nicht so viel als auch die Unwissenden unter uns Alle erfahren. Er war in Canaan, dem gelobten Lande geboren; er hatte in den Zelten Abraham und Isaak gelebet von Anfang; er hatte seine Väter in ihrer kindlichen Gemeinschaft mit Jehova gesehen, Männer, denen sich Gott auf mannichfache Weise offenbarte, mit welchen Er als mit seinen Freunden sprach. Der Herr wohnete mit seinem Namen mitten unter ihnen; Er hatte unter ihnen sein Andenken, seine Altäre, seine Gottesdienste, lebendig und wahr; Er war kein Fremder, sondern ein lebendiger Gott unter ihnen, Er mit ihnen, sie mit Ihm und vor Ihm; und Jakob, der milde und stillt, der so gerne in den Hütten wie bei den Heerden blieb, hatte sich frühe an den Gott Abraham und Isaak gewöhnet; er hörte sie gerne von Jehova's Macht und Treue erzählen; er half ihnen, darbringen dem Herrn allerlei Opfer auf seinem Altar; er sah, er lernete bei den Vätern ein kindliches Vertrauen, einen kindlichen Dank; er fühlte sich gerne unter dem Schirm und dem Schatten des Herrn geborgen; er hielt über Alles hoch und groß eine Offenbarung dieses Gottes und seinen Segen; so hatte Jakob einen Gott; er konnte und mochte nicht ohne Ihn leben; er wußte, er begriff nichts von einem Leben, einem Herzen, ohne Gott; darum und auf allen seinen Wanderungen, in allen seinen Verlegenheiten und Schwachheiten, wandelte er doch, als Jüngling und als Mann, in seines Gottes Gemeinschaft und vor Seinem Angesicht; das war ein Glaubens Leben, d. i. ein wahrhaftiges Leben.
Dieses Glaubens-Leben, diese Gottes-Gemeinschaft ist etwas so Seltenes hienieden, ja auch oft unter Christen so selten, daß ich dich bald gefragt hätte: mein Freund, weißt du was davon? Wandelst du vor Gottes Augen? Hast du an Ihm einen Gott, den Gott deines Herzens und deines Lebens, den Gott, der dich überall begleitet. Er immer bei dir, und du immer bei Ihm; der Gott, dem du Alles sagest, von dem du Alles empfangest, dem du für Alles dankest, dem du gerne Gehorsam gibst in allen Dingen, mit dem du Alles anfängst und Alles ausführest; vor dem du deine Thränen weinest, dein schuldiges Herz beugest, dein Gericht vernimmst, deine Züchtigung annimmst, und dann auch Vergebung wieder und Frieden empfängst? - Hohe, heilige Schule der Menschenkinder, da sie lernen, Gotteskinder werden, lernen, in ihr Herz und in Gottes Herz schauen, und bei Gottes Herzen wieder das eigene Herz tiefer und immer gründlicher erkennen: ein armes Sünderherz, trotzig und verzagt, unstet und störrig, verwegen und schwach, stolz und arm, voll Ungehorsams, Vergessenheit und Undanks; - und Gott, der reiche Geber aller guten und vollkommenen Gabe (Jak. 1, 17.), immerdar, immer neu derselbe, gestern und heute und in Ewigkeit so wahr, so geduldig, so treu, so heilig, so groß, ohne Wechsel von Licht und Finsterniß; bei Ihm, von Ihm und in Ihm allein Wahrheit und Weisheit, und Trost, und Friede, und Leben. - Da gehet's von Lernen zum Lernen, von Glauben zum Glauben, von Erkennen zum Erkennen, von Danken zum Danken; - und zu jeder Zeit, aber zu gewissen Zeiten besonders, auf der Pilgerreise, wenn man nach so manchem Wechsel, mancher Sorge, mancher Reue, mancher Angst, davon man weiß in seinem Herzen,-an einen Fluß, und über den Fluß hinüber gelangt, oder auf einem Hügel stehet, einen Berg erstiegen, und sich umstehet, und schauet zurück, und schauet vorwärts, und stehet den Ort seiner Ruh, sein Haus gebaut, die Saaten blühen, und Frieden und Freude, und auch manch theures Haupt um sich her, - da schmilzt Einem das arme Herz zusammen, und es wallet auf, und sinket wieder nieder, und weiß nicht, wo Worte finden, und birget sich in den Staub vor Ihm, und spricht mit Jakob: Ich bin viel zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du an deinem Knechte gethan hast. Denn mit diesem Stab ging ich über diesen Jordan, und nun bin ich zwei Heere geworden.