V. 30. Und Jakob hieß die Stätte Pniel: denn ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und mein Leben ist gerettet.
Als Jahrhunderte später jener große Mann Gottes, aus Jakob's Lenden hervorgegangen (1. Mos, 35,11.), Moses, in einer heiligen Stunde vertraulich mit dem Herrn sprach, hörete der treue Knecht (Hebr. 3,2. f.) die freundlichen Worte aus seines Gottes Munde: Was du jetzt geredet hast, will Ich auch thun; denn du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und Ich kenne dich mit Namen. - Da ward Mose warm um's Herz, und er sprach: So laß mich deine Herrlichkeit sehen.
Ein Freund freuet sich des Freundes Angesicht zu sehen; die Mutter eilet dem Kinde, das Kind der Mutter zu: der Bräutigam sehnet sich immer von Neuem das Auge der Braut zu schauen; aus ihren Blicken strahlet ihm sein schönstes Leben entgegen; - wer begehret die Gegenwart des heiligen Gottes, sein Antlitz zu schauen, die Herrlichkeit Deß, dessen Augen zu rein sind, daß sie Uebels sehen möchten (Hab. 1,13.); - jene Majestät, die da zu ihrem Volke sprach: Ihr sollt heilig sein, denn Ich bin heilig (1. Petr. 1,15. f.)? Kindliches Begehren, heilige Lust und Freude eines Gott zugewandten Gemüths! Glücklicher Moses, wie war dir dein Gott so nah, so groß und lieb! Darum aber bist du so groß geworden. Und das ist auch die Bestimmung seiner Kinder: sie werden Gott schauen; - das wird die Herrlichkeit seiner Knechte sein: sie werden Ihm gleich sein, denn sie werden Ihn sehen, wie Er ist. l. Joh. 3, 2. Matth. 5, 8.
Was erwiederte Gott seinem Knecht? Ich will vor deinem Angesicht vorüber alle meine Güte gehen lassen - helle, selige Strahlen von der Freundlichkeit Deß, der da barmherzig ist, und gnädig, und geduldig, und von großer Gnade, Wahrheit und Treue; die seligen Lichtzüge, die Schöne des allein Guten und allein Schönen. - Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch, der mich siehet, wird leben. 2. Mos. 33. 34.
Wir hören es hier aus Gottes Munde, was wir im Alten Bunde aus manchem theuern Munde vernehmen: O wehe, Herr, Herr, denn ich habe den Engel des Herrn von Angesicht gesehen (Richt. 6,22.)! - Wir müssen des Todes sterben, daß wir haben Gott gesehen (13,22.)!- und hier staunt der Erzvater und spricht: Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und mein Leben ist gerettet.
Als Adam, der erste Mensch, noch in der Unschuld des Herzens, und Lebens in Eden wandelte, waren solche Gedanken seinem Herzen fremd; er wußte noch von keinem Tod, denn er wußte von keiner Sünde; und er wußte von keiner Sünde, denn seine Seele war durch keine andere Lust, keine Neigung, keine Furcht noch Schrecken, von seinem Gott getrennt; er war überall mit seinem ganzen, fröhlichen Herzen bei Gott, vor seines Gottes Augen, in seiner Freude, seinem Frieden, in dem, das seines himmlischen Vaters war; und Gott war überall mit ihm, und seine freundlichen Engel; - und das war sein Leben. - Es war ein tiefes, richtiges Gefühl der Ohnmacht und Unwürdigkeit des sündigen Fleisches, das jenen Israeliten bange machte, wo sie spürten die Nähe des Herrn; denn wie kann der Mensch, Staub und Sünde, stehen vor Gottes Angesicht, wenn ihm der Allmächtige in seiner Allmacht erscheinet, oder sie frei walten läßt; wenn der Heilige und Gerechte läßt sein heiliges Wesen im Licht, seine Flammen frei leuchten und brennen? Denn unser Gott ist ein verzehrend Feuer. Hebr. 12,29. 5. Mos. 4,24. Freund, sage, was hat der Unreine von dieser Feuersglut, die Sünde mit ihrem Undank von diesem Gott zu erwarten? was hat die sterbliche Creatur, unheilig, ohnmächtig, von Ihm verdienet? - Als Mancher seiner Propheten, Jesajas, Hesekiel, Daniel, jenen Engel Gottes und des Angesichts den Mittler zwischen Gott und Menschen, selber Gott, schon nur in Gesicht, auf seinem Flammenthrone sah, und seine Cherubim, Licht und Feuer, um Ihn her, konnten sie den Glanz seiner unsichtbaren Gestalt nicht ertragen; und Johannes, der Jünger, den Jesus lieb hatte (Joh. 13,23.), fiel zu seinen Füßen als ein Todter; und Er legte seine rechte Hand auf mich, spricht der Freund des Herrn, und sprach zu mir: Fürchte dich nicht (Offenb. 1,17.). Nur Gott Selbst, und den Er gesandt hat, selber Versöhner und versöhnt, - kann ein solches Wort zu einem Menschenkinde sprechen: Fürchte dich nicht; und aus einem versöhnten, gereinigten Herzen alle Furcht vertreiben. - Herr, gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch (Luk. 3, 8.)! Also zitterte damals noch der redliche Mann, welchen doch jener Engel Gottes, Mensch geworden, zu seinem Apostel erwählet hatte; der Sanftmüthige und Demüthige hatte ihn lassen an einem stillen Wunder seine göttliche Kraft und Majestät spüren, und, es ist wahr, die ganze Fülle der Gottheit wohnete leibhaftig in Ihm (Col. 2, 9.).
Glaubest du nicht, mein Freund, wäre mehr Furcht - ich meine mehr heilige Furcht - Gottes in uns von Anfang, wir würden etwas mehr von seinem heiligen, schrecklichen Wesen, vor seinen Himmeln, vor seinem Worte, bei diesen heiligen Geschichten, spüren; wären unsere Sinne, unsere Seelen, von so vielen Bildern dieser Zeitlichkeit bewegt, - der Macht seiner verborgenen und geoffenbarten Majestät mehr offen, wir würden reiner und mächtiger die himmlischen Kräfte spüren; unser innigstes Wesen würde mit einem ganz anderen Gefühle der Sünde und der Schuld, aber auch mit ganz andern Seligkeits-Gefühlen zittern und beben, so oft wir jene Worte vernehmen: Fürchte dich nicht.
Das ist der Fluch der Sünde, daß wir Ihn, den Heiligen und Gerechten, so lange nicht fühlen, - ein Panzer um Brust und Lenden, ein dreifaches Erz um unsere Herzen: seine Werke, so groß und viel, und seiner ewigen Kraft und Gottheit voll (Röm. 1,20.), wir sehen sie nur als von Ihm getrennt, als von den Strahlen aus seinem Heiligthum entblößt; seine Stimme erreichet uns nicht; sein lebendiges und kräftiges Wort ist uns oft ohne Kraft und Leben; schärfer denn kein zweischneidiges Schwert, dringet es doch nicht durch; der Hammer schlägt nicht, und das Feuer brennet nicht (Hebr. 4,12. Jer. 23,29). Wir wissen's wohl, und läugnen es nicht: sein Auge siehet uns und durchschauet uns überall, immerdar; der Herr ist in seinem heiligen Tempel; des Herrn Stuhl ist in den Himmeln; seine Augen sehen, seine Augenlieder prüfen die Menschenkinder (Ps. 11,4.); sie stehen offen über alle Wege der Menschenkinder, daß Er einem Jeden gebe nach seinem Wandel und nach der Frucht seines Wesens (Jer. 32,19.) - und wir wandeln so oft und so lange vor Ihm in der Blöße unserer Herzen, unseres Lebens, unsere Wege, als wüßten wir es nicht; als wäre Er nur ein Mensch oder weniger denn ein Mensch; oder als fürchteten wir uns vor des Menschen Auge, vor Gottes Auge aber nicht. Wir wandeln im Glanz seiner Sonnen, und preisen Ihn nicht; wir stehen in der Fülle seiner Gaben, und danken Ihm nicht; das Leben zeiget uns in tausend Gestalten des Lebens und des Todes die Schmerzen der Sünde, ihren Sold, ihren Fluch; wir bleiben ungerühret, und die Sünde schrecket uns nicht; wir sehen zur Rechten, zur Linken, Leichen stehen und Leichen fallen, und es beweget uns nicht; wir geben ihnen das Geleite bis ins Grab; das Grab thut sich auf und schließt sich wieder, und wir vernehmen seine Stimme nicht; wir sehen unser Haar grau werden, die Jahre ihre Furchen über unser Angesicht ziehen, und unsere matten Glieder erstarren, - und lassen einen Tag wie den anderen sein; sind klug, und lernen es nicht; sind weise, und verstehen es nicht; sind fröhlich, und fürchten uns nicht; lachen, und zittern nicht.
Mein Freund, was ist das?