Inhaltsverzeichnis

Palmer, Christian David Friedrich - Predigt am Sonntage Sexagesima,

Text Joh. 8, 21 - 29.
Da sprach Jesus zu ihnen: ich gehe hinweg, und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben; wo ich hingehe, da könnet ihr nicht hinkommen. Da sprachen die Juden: will Er sich denn selbst tödten, daß Er spricht: wo ich hingehe, da könnet ihr nicht hinkommen? Und Er sprach zu ihnen: Ihr seyd von unten her, ich bin von oben herab: ihr seyd von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt. So habe ich euch gesagt, daß ihr sterben werdet in euern Sünden; denn so ihr nicht glaubet, daß ich es sey, so werdet ihr sterben in euern Sünden. Da sprachen sie zu Ihm: wer bist Du denn? Und Jesus sprach zu ihnen: Erstlich der, der ich mit euch rede. Ich habe viel von euch zu reden und zu richten; aber der mich gesandt hat, ist wahrhaftig und was ich von Ihm gehöret habe, das rede ich vor der Welt. Sie vernahmen aber nicht, daß Er ihnen von dem Vater sagte. Da sprach Jesus zu ihnen: wenn ihr des Menschen Sohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, daß ich es nicht von mir selbst thue, sondern wie mich mein Vater gelehret hat, so rede ich. Und der mich gesandt hat, ist mit mir. Der Vater läßt mich nicht allein: denn ich thue allen zeit, was Ihm gefällt.

Es macht einen eigenthümlich ernsten Eindruck aus uns, wenn wir den Herrn, der sonst so oft die Verheißung gibt, daß, wie Er selbst zum Himmel erhöhet werden werde, so auch, gezogen von Ihm, die Seinigen zur Herrlichkeit eingehen sollen, auf daß sie seyen, wo Er ist, - nun im heutigen Evangelium das strenge Wort aussprechen hören: Wo ich hingehe, da könnet ihr nicht hinkommen! Das widerspricht sich ja geradezu; wie die Verheißung vor uns steht als ein freundlicher Himmelsbote, der vom Herrn uns entgegengesendet ist, um von ferne schon den ermattenden Pilgern im fremden Lande die selige Heimath als ihre Heimath zu zeigen, darin ihnen schon eine Stätte bereitet sey, um dann am Ende des Pilgerlaufes ihnen die Thüre aufzuthun, auf daß sie von nun an daheim seyen bei dem Herrn: so steht dagegen jenes drohende Wort im heutigen Textes-Abschnitt da, wie der Cherub vor Eden's Pforte, der mit dem bloßen hauenden Schwerte das Wiedereindringen der Ausgestoßenen abwehren sollte. Wohl hat Jesus auch dem Petrus einst gewehrt, da Er sprach: „wo ich hingehe, kannst du mir dießmal nicht folgen“ (Joh. 13, 36.); aber mit dem „dießmal“ war ja ein andermal nicht ausgeschlossen; wie er denn wirklich nicht säumte, ihm die Zusicherung zu geben, er werde Ihm hernachmals folgen, - folgen, zunächst freilich in's Leiden, durch's Leiden aber zur Herrlichkeit. In unsrem Text hingegen ist kein „dießmal“ und kein „hernachmals“ zu lesen; sondern kurz und für immer abschließend heißt es: ihr könnet nicht hinkommen; es ist gar keine Möglichkeit dazu vorhanden.

Wie reimen wir nun Beides zusammen? Gilt, weil der Herr das drohende Wort gesprochen, Sein verheißendes nichts mehr? Oder dürfen wir, weil uns höchst wahrscheinlich das letztere besser zusagt, als das erstere nach Gefallen zugreifen, das verheißende Wort uns zueignend, das drohende bei Seite stellend? Auf solche Art machen sich's freilich Viele gar leicht; aber es ist zu bedenken, daß die Hoffnung eines Menschen, wenn sie nicht soll zu Schanden werden, auch Grund haben muß (vgl. 1. Petr. 3, 15.). Nun, liebe Freunde, es ist leicht einzusehen, daß die beiden einander so widersprechend scheinenden Worte des Herrn gleich fest stehen, denn es sind Seine Worte; und ebenso leicht ist zu erkennen, daß das eine an ganz andere Leute gerichtet ist, als das andere. Um also weder leichtsinnig der Verheißung uns zu trösten, während wir möglicher Weise keinen Theil an ihr haben könnten, noch auch um des drohenden Wortes willen in der Hoffnung wankend zu werden, die einem Kinde Gottes doch fest stehen soll, wird es vonnöthen seyn, daß wir uns zuerst darüber verständigen, welcherlei Menschen es sind, denen der Herr die Aussicht benimmt, hinzukommen, wohin Er gegangen ist; und die Züge, welche unser Text enthält, reichen vollkommen hin, das Bild dieser Menschen zu zeichnen. Gleichwie aber das Evangelium sich selbst, seine evangelische Natur, niemals verläugnet, sondern indem es alle falschen, selbstgemachten Hoffnungen zerstört, immer zugleich demjenigen, der hiedurch zu heilsamer Traurigkeit gebracht ist, den Weg zu wahrer, unzerstörbarer Hoffnung weiset: so auch haben wir zweitens die Winke zu beherzigen, die uns unser Text darüber gibt, wie der Mensch ungeachtet jener strengen Abweisung, dennoch zu dem seligen Ziele gelangen könne, einst daheim zu seyn bei dem Herrn. Beide Betrachtungen mögen dazu dienen, uns das rechte Licht zu geben zum Verständnisse des Wortes: Wo ich hingehe, da könnet ihr nicht hinkommen.

I.

„Ihr seyd von unten her, ich aber bin von oben herab; ihr seyd von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.“ Damit ist uns kurz und bündig die Antwort auf unsre erste Frage gegeben. Diejenigen können nicht hinkommen, wohin der Herr gegangen ist, welche von unten her sind, von dieser Welt; denn Er ist nicht von dieser Welt, sondern von oben her, und dieser Unterschied des Ursprungs, weil er ein Unterschied des Wesens ist, der allerdings eine Zeitlang äußerlich verschwinden kann - wie ja der Heiland, als Er jene Worte sprach, sich in Gestalt, Geberde und Gewand nicht von den Anderen unterschied - ist dennoch so durchgreifend, daß er jedenfalls am Ende in seiner ganzen Schärfe offenbar werden muß. Wie der Stein, du magst ihn mit der ganzen Kraft deines Armes in die Höhe werfen, so weit du willst, doch sicherlich wieder zur Erde niederfällt, denn er stammt von der Erde: so auch kann der, welcher von unten her ist, nicht zu bleibender, ewiger Gemeinschaft gelangen mir dem, der von oben ist.

Wer ist aber von unten her? Wie es scheint, entweder Alle, oder Keiner. Alle; denn unser Aller Mutter ist die Erde, und noch ruft ein jegliches frische Grab uns zu: „Du bist Erde und zur Erde sollst du wieder werden.“ Aber so gering denkt selten Einer von der menschlichen Natur, daß er Weiteres und Besseres nicht von ihr zu sagen wüßte. Der Mensch ist nicht Erde nur und Fleisch, er ist ein Geist, aller Geist aber hat Eine gemeinsame Urquelle, Gott, den ewigen, unendlichen Geist; jedes geistige Wesen ist ein Ausfluß aus Gott, ein Strahl aus dem ewigen Lichte. Solchen Ruhm, solchen Adel seiner Abkunft eignet sich freilich der Mensch nur allzu gerne selbst zu; indessen will auch die Schrift ihm diese Freude nicht verkümmern; vielmehr ist das gerade ihre Absicht, mit aller Macht dazu zu helfen, daß jener Adel nicht eine leere, bedeutungslose Ueberlieferung bleibe, sondern Wahrheit und Wirklichkeit werde. Denn so gut wir wissen, daß der Mensch dem ursprünglichen, wahren Wesen seines Geistes nach göttlichen Geschlechtes ist, eben so gut müssen wir anerkennen, daß er von diesem seinem rechten Grund und Stamm durch die Sünde, den Abfall, von Gott, sich losgerissen hat, daß er jetzt, so lange er nicht von neuem aus Gott geboren ist, in einem ganz andern, dem Göttlichen fremden Boden wurzelt, nämlich in der Welt: und so gilt nun jenes Wort: „ihr seyd von unten her“ allen denjenigen, deren Lebens - Element die Welt, das Irdische und Ungöttliche ist, die aus der Welt ihre Nahrung schöpfen, in ihr ihr Glück suchen und finden, in ihrem Dienste sich abarbeiten und zum Lohne dafür auf ihre Freuden und Genüsse in möglichster Ausdehnung Anspruch machen. Man kann somit auch hier aus der Frucht auf die Wurzel zurückschließen, wie denn auch der Herr in dem weiteren Verlaufe des Kapitels, dem unser Text angehört, den Juden sagt, daß sie, wenn sie wirklich Abrahams Kinder wären, auch Abrahams Werke thun würden;, ja noch stärkere Worte bekommen sie aus seinem Munde zu hören: „Ihr seyd vom Vater dem Teufel, und nach eures Vaters Lust wollt ihr thun.“ Deren nun, die so durch Wort und That zu erkennen geben, welche Heimath ihr Denken und Wollen, ihr Sinnen und Hoffen habe, die den Geist dermaßen dem Fleisch unterordnen - sey es in gröberer oder feinerer Weise, in rohem, liederlichen, Sinnengenusse oder in dem ehrbarer sich geberdenden Jagen nach Geld und Gut, nach Ehre und Macht - daß, wenn auch nur dann und wann der unsterbliche Geist sich regen und seufzend sein Verlangen nach edleren Gütern kund geben will, er alsbald übertäubt und in das sich unaufhörlich im Kreise drehende fleischliche Dichten und Trachten, wie in ein gewaltiges Räderwerk hineingerissen wird: deren, sage ich, sind nur allzu Viele; ja sie glauben sich so sehr auf dem rechten Wege, halten sich, begünstigt durch den Geist der Zeit, so sehr für die ächten Kinder des Lichts, daß sie mit einer Art von Bettelstolz auf diejenigen blicken, die ein höheres Gut kennen und lieben und darum gegen die sich so breit machenden irdischen Interessen sich gleichgültiger verhalten.

Dieß Bild derjenigen, die von unten her sind, tritt nun in noch stärkeren Farben hervor, wenn wir demselben das Bild des Einen, der von oben her ist, gegenüber stellen. Denn Er, unser hochgelobter Erlöser, hat auch während Seines Erdenlebens Seine himmlische Abkunft, Sein himmlisches Wesen niemals verleugnet. Nicht so freilich, daß Ihm irgend etwas mit dem irdischen Daseyn Zusammenhängendes zu gering erschienen wäre, als daß Er Seine hülfreiche Aufmerksamkeit demselben hätte zuwenden mögen; vielmehr, da es an Wein gebrach bei dem Hochzeitmahle, da half Er dem störenden Mangel bereitwillig ab, sobald Seine Stunde gekommen war, und da Er auf dem Berge war und viel Volks um sich versammelt sah, so fragte Er: wo kaufen wir Brod, daß diese essen? und sorgte dafür, daß sie Alle satt wurden. Ja, während der Mensch, wenn ihn Geburt oder Glück auch nur um ein Geringes über die Masse der Menschen erhoben hat, sich in seiner Vornehmheit wiegt und hoch auf den gemeinen Haufen herabsieht; so hat dagegen der Herr, obgleich Er von oben war und höher denn Alles, was hienieden sich hoch dünkt, dennoch zur ganzen Niedrigkeit, zum ganzen Jammer dessen, was da unten ist, sich milde herabgelassen: aber in allem dem war es des Vaters Wille, dem Er gehorsam war, wie Er es am Schlusse unsers Evangeliums bezeugt; Er hat mit dem allem nur des Vaters Ehre und der Menschen Heil gesucht, daher auch der Vater, wie Er es rühmt, Ihn niemals Meine ließ, vielmehr stets Seine Nähe, Sein Wohlgefallen Ihm kund gab, ja durch große Thaten Ihn rechtfertigte vor allem Volk. So haben auch Seine Jünger aus der unscheinbaren Hülle hervor doch das Himmlische an Ihm erkannt, sie haben gesehen die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit. Ja, während die Menschen, je höher sie zu stehen wähnen, um so leichter durch Wort und Wandel verrathen, daß sie von unten, von dieser Welt sind, so hat dagegen Er, je mehr Er sich demüthigte, je gehorsamer Er dem Willen des Vaters war, um so mehr es bewährt, daß Er von oben und nicht von dieser Welt sey.

Und wo nun die Wege so durchaus andere, ja einander ganz entgegengesetzt sind, wie wäre es möglich, daß sie doch zum gleichen Ziele führten? Er, der Herr, ist zum Himmel erhöhet worden, nachdem Sein Werk aus Erden vollführt war; denn Er war von oben, und obwohl Er versucht war allenthalben, so hat doch weder die Lust noch die Last der Erde Ihm den Blick trüben können, der stets nach oben, auf den Willen des Vaters gerichtet war: und so war es denn auch, da die Zeit Seiner Verklärung gekommen war, nicht irgend eine äußere Macht oder Gewalt, die Ihn zur Rechten des Vaters emporhob, sondern Sein eigenes, himmlisches Wesen. Jene aber, die von unten her sind, was hätten sie denn in sich, das sie dereinst zur himmlischen Höhe erheben könnte? woher sollte ihrer armen Seele die Kraft kommen, einzudringen in eine Heimath, die niemals ihre Heimath war? Wie täuschen sich doch die Menschen über ihre eigene Seele, die sie ansehen wie ein leeres Gesäß, in das man jetzt dieses, jetzt etwas Anderes nach Belieben gießen könne, daher sie sie hinieden unbedenklich mit Erdenstoffen füllen bis an den Rand, ohne daran zu zweifeln, daß, wenn es je einmal seyn müßte, schnell eine Aenderung bewerkstelligt werden könne! Nein, so äußerlich verhält sich die menschliche Seele nicht zu dem, womit sie sich beschäftigt, wovon sie sich nährt; was sie liebt, in dem lebt sie, das wird Eins mit ihr, und so verschmilzt sich irdisches Sinnen und Genießen, Denken und Begehren dermaßen mit der geistigen Natur eines Weltmenschen, daß, auch wenn des Leibes Hülle abgestreift wird, die Seele dennoch eine irdische bleibt. So können die, die von unten her sind, nicht hinkommen, wohin der Herr, gegangen ist, und Sein abwehrendes Wort ist deßhalb auch nicht im Mindesten ein Wort der Willkühr, hervorgegangen aus augenblicklichem Unwillen, sondern Er spricht blos aus, was in der Natur der Sache selbst liegt; ob auch die Pforte des Himmelreichs geöffnet ist, sie können nicht hineinkommen, weil sie sich gefesselt haben an das Ungöttliche, es hängt ihnen die Erdschwere an, weil sie, mit den Worten der Schrift zu reden (Luc. 21, 34.), ihre Herzen beschweret haben mit Fressen und Saufen und Sorgen der Nahrung.

Sie können nicht, wenn sie auch wollten, aber sie wollen auch nicht, wie denn überhaupt in geistlichen Dingen mit dem Wollen das Können und mit dem Können das Wollen gegeben werden muß. Zwar der Herr sagt: „Ihr werdet mich suchen.“ Das wäre ja doch ein Wollen, obgleich ein vergebliches, Venn gerade an diese Worte knüpft der Herr die weiteren an: „und werdet in eurer Sünde sterben.“ So gibt es also auch ein Suchen, das mit keinem Finden belohnt wird; ein Fragen nach dem Herrn, dem der Herr nicht antwortet. So begehren die thörichten Jungfrauen im bekannten Gleichnisse auch noch Einlaß, aber die Thüre ist und bleibt verschlossen; so sucht der reiche Mann in der Qual der Hölle auch noch Hülfe, aber die Kluft zwischen ihn, und Abraham ist und bleibt befestigt. Ist das nicht eine harte, eine trostlose Rede? Hat nicht der Herr dem Schächer am Kreuze noch in den letzten Stunden das Paradies zugesagt? Und selbst nachdem Er weggegangen war, hat Er sich finden lassen von Allen, die Ihn suchten; Petrus, Sein Apostel, nachdem er den Männern von Israel (Ap.Gesch 3.) in's Angesicht gesagt hatte: Ihr verleugnetet den Heiligen und Gerechten und batet, daß man euch den Mörder schenkte, aber den Fürsten des Lebens habt ihr getödtet,„ setzt doch gleich hinzu: „Nun, lieben Brüder, ich weiß, daß ihr es durch Unwissenheit gethan habt, wie auch eure Obersten; so thut nun Buße, und bekehret euch, daß eure Sünden vertilget werden, auf daß da komme die Zeit der Erquickung vom Angesichte des Herrn.“ Gewiß, liebe Freunde, wem es um eitlen Erlöser, um Gnade und Vergebung von Herzen zu thun ist, dem will sich der Herr nicht entziehen; noch steht ja Sein theures Wort fest, daß Er gekommen ist, selig zu machen, was verloren ist. Aber es gibt ein falsches Suchen, ein Fragen nach dem Herrn, hinter welchem sich immer noch ein Herz verbirgt, das Ihn nicht sucht, das Ihm fremd und ferne ist. So war es leicht möglich, daß, als die Zeit der Schrecken und Drangsale über Israel kam, Mancher zurückdachte an den großen Propheten, mächtig von Thaten und Worten vor Gott und allem Volk; daß Mancher sich umsah, ob derselbe nicht in einer neuen Gestalt, unter einen neuen Namen wieder erscheine, um durch Seine Wunderkraft das Volk von der Uebermacht der Heiden zu erretten. Dieses Suchen aber war ein fruchtloses; sie suchten ja nicht Ihn, den Versöhner, den Heiland der Sünder, sondern nur einen Befreier nach ihrem eigenen, fleischlichen Sinne. Deßhalb macht auch die Drohung, daß sie nicht hinkommen können, wohin Er gehe, keinen Eindruck auf sie, sie wollten ja nicht hinkommen; bei Ihm zu seyn, das hatte in ihren Augen keinen Werth - was sie in der Frage kund geben, ob Er sich denn selber tödten wolle? Lag ihnen aber an Seiner Gemeinschaft Nichts, und suchten sie Ihn einmal dessenungeachtet, so ist ja nichts klarer, als daß sie nur Hülfe finden wollten in äußerer, augenblicklicher Noth. Ach! wie oft ist das Suchen, zu welchem ein Mensch durch äußere Noth oder durch die Angst des Todes sich treiben läßt, ein ganz ähnliches und darum auch gleich fruchtloses! Wie es nicht selten vorkommt, daß ein aufgeklärter Mann, der sein Lebenlang auf Wunderkuren und Zauberformeln Nichts gehalten hat, doch am Ende, wenn die Kunst des ordentlichen Arztes erschöpft ist, sich noch entschließt, zu derlei Mitteln seine Zuflucht zu nehmen, obgleich er sie im Herzen fortwährend verachtet: so sucht auch so mancher, auf das Sterbebette geworfene Weltmensch in Jesu Christo nur einen Wundermann, dem er zwar im Herzen fremd ist und fremd bleiben will, von dem er sich aber, weil eben leider alle sonstigen Hülfsquellen versiegen gegangen sind, schon einen Dienst erweisen zu lassen bereit ist, den Dienst nämlich, ihm über den tiefen Abgrund des Todes, über die Schauer des Sterbens hinüberzuhelfen. Weiter als dieß begehrt er nicht; an Versöhnung und Friede mit Gott, an dem Kommen zu Christo und dem Daheimseyn bei Ihm liegt solchem Menschen Nichts; wenn er Ihn also auch sucht, so ist er dennoch nicht Willens, dahin zukommen, wo der Herr ist; es wäre ihm auch nicht sonderlich wohl zu Muthe, wenn er sich in einen Kreis versetzt sähe, in welchem das allein geschieht und Geltung hat, was er verachtete - nämlich der Dienst des Herrn!

Und so muß es sich denn zuletzt auch erfüllen, was der Herr solchen Menschen voraussagt: „Ihr werdet sterben in euren Sünden.“ Welch' ein schweres Wort! Damit gibt der Herr zu erkennen, daß, wie der 'Anfang, der Ursprung eines solchen fleischlichen Lebens von unten sey, so auch der Ausgang, die Mündung desselben in's Meer der Ewigkeit eine ganz andere sey, als die, welche zum Himmel sichten könne. Es liegt in jenem Worte vorerst dieß, daß es für jene Leute bis an ihr Ende keinen Retter gebe, und sie so ohne versöhnt zu seyn, in ihren Sünden wie in wilden Meeresfluthen umkommen müssen; und, merket es wohl, dieß ist keineswegs von jenen groben Bösewichtern allein gesagt, welche, verhärtet gegen jeden Eindruck göttlicher Wahrheit, selbst das Blutgerüste besteigen, ohne Gott zu fürchten, sondern auch aus dem Sterbelager in stiller Kammer hat schon so Mancher gelegen, den man sterben lassen mußte in seinen Sünden, weil seine Seele viel zu tief versunken, viel zu fest verstrickt war in das, was von unten ist, als daß sie, selbst in solchen Stunden, nur noch das Bedürfniß der Vergebung, der Gnade Gottes hätte fühlen können. Wenn ein ganzes Leben hindurch der Geist eines Menschen in das Ungöttliche hineingewachsen ist, da ist es nicht die Sache eines Augenblicks, um geschwind noch ihn aus Allem herauszureißen; jeder Seelsorger bekommt das zu erfahren, wie weit, wie unbegreiflich weit zurück auch nur in der einfachsten christlichen Erkenntniß Diejenigen oft sind, die nun zum Ende bereit seyn sollen! Ach wie oft steht Einem dann das Wort so schwer, so beengend vor der Seele: Ihr werdet in euren Sünden sterben! Freilich, wer möchte dem Sterbenden selbst dieß Wort noch in's Ohr rufen? Wer möchte dem unglücklichen Geschöpfe dieß scharfe Messer noch in die Brust stoßen? Aber den Lebenden, bei denen es noch heute heißt, muß es gesagt werden, daß ein Augenblick kommen kann, wo es zu spät ist, wo zwar der göttliche Gnadenreichthum nicht hinweggethan, dagegen des Menschen Seele nicht mehr im Stande ist, denselben zu empfangen. - Aber noch ein anderer Wahn ist es, mit dem sich die Kinder dieser Welt tragen, der durch jene Worte unsers Textes zerstört wird. Gar gerne nämlich glauben sie, der Tod, wenn er einmal eintrete und überhaupt hinter seinem Vorhange noch ein anderes Leben ihrer warte, werde schon von selbst Alles abstreifen, was etwa abgestreift werden müsse, wenn man drüben eines leidlichen Zustandes gewärtig seyn wolle; und so sey es denn ein Leichtes, nachdem man hienieden mit der Welt weltlich gelebt habe, drüben im Himmel himmlisch zu leben. Aber sagt doch, wo steht denn geschrieben, daß Gott dem Tode die Macht gegeben habe, Sünden zu vergeben und aus dem unheiligen Menschen einen heiligen zu machen? Der Tod ist der Sünde Sold; wie kann der Sold der Sünde die Sünde selbst tilgen? Ja, ich weiß es wohl, er hat eine verklärende, eine, wenn man will, heiligende Kraft, aber nur vor den Augen derer, die auf Erden zurückbleiben: schon darum, weil uns der Tod einen Menschen in eine gewisse Ferne rückt, treten manche Züge seines Bildes zurück, die, in der Nähe betrachtet, es entstellen, gerade wie auch zum Beispiel ein schlechter Gesang sich, in der Ferne gehört, weniger übel ausnimmt, weil die einzelnen, unreinen Töne unterwegs verloren gehen. Ueberdieß wirkt auch das Gefühl, daß wir das Gute, das wirklich an einem Menschen war wie ja bekanntlich ein Jeder auch eine gute Seite aufzuweisen hat - in's Künftige missen sollen, so stark, so überwiegend, daß wir das Mangelnde und Tadelnswerthe leicht vergessen, um so leichter als es uns jetzt nicht mehr unbequem ist. Dieß ist menschlich und wir lassen es gerne gewähren; allein den Menschen selbst, der vor den Stuhl des Richters treten muß, macht der Tod nicht anders, den Unheiligen macht er nicht heilig; wie er ist, so nimmt er ihn, - „wenn der Baum fällt“ sagt der Prediger (11, 3.) „er falle gegen Mittag oder Mitternacht, auf welchen Ort er fällt, da wird er liegen.“

Da habt Ihr das Bild der Menschen, die nicht hinkommen können, wohin der Herr gegangen ist; von unten sind sie her, ihr Element ist die Welt; darum können und wollen sie nicht himmlisch werden, und so schließt sich ihre Lebensbahn damit ab, daß sie sterben in ihren Sünden. So euch nun grauet vor solch einem hoffnungslosen, jammervollen Ende, so lasset euch nun auch

II.

den Weg weisen, der uns aus dem Bereich jener zurückweisenden Worte „wo ich hingehe, da könnet ihr nicht hinkommen“ heraus-, und in den der Verheißung hineinführt, daß wir einst daheim seyn sollen bei dem Herrn.

Indem Er sagt: Ich bin von oben her, Ich bin nicht von dieser Welt, stellt sich Jesus zunächst nicht denen nur, die dort vor Ihm standen, sondern der gesammten Menschheit gegenüber. Nicht nur stammen wir ja alle, wie wir schon oben bekannten, von der Erde, dahingegen Er vom Himmel gekommen ist, und schon in sofern scheint Alles, was Mensch heißt, von der Theilnahme am Himmelreich ausgeschlossen zu seyn; „es fähret Niemand gen Himmel, denn der vom Himmel hernieder gekommen ist,“ heißt es Joh. 3, 13., und das bewährt sich augenscheinlich; denn während der Heilige Gottes die Verwesung nicht sehen durfte, gilt es von uns: „Was geboren ist aus Erden, muß zu Staub und Asche werden.“ Aber nicht dieses nur ist es, was von Ihm uns scheidet, sondern zwischen Ihm und uns steht unsre Sünde als Scheidewand, und unser Gewissen sagt uns, daß mit dem Heiligen der Sünder keine Gemeinschaft haben könne. Doch dazu ist der Mittler zwischen Gott und Menschen in diese Welt gekommen, daß gleichwie Er, obwohl in dieser Welt, doch nicht von dieser Welt war, also auch wir von den Fesseln derselben, von ihrem Reize wie von ihrem Fluche erlöst würden, daß auch in uns, obwohl wir unsrer Natur nach von unten her waren, doch ein neuer Boden gelegt würde, das Alte verginge und ein neues Leben und Wesen entstünde. Ihr kennet jenes Wort des Herrn zu Nikodemus: „Es sey denn, daß Jemand von Neuem geboren werde, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“ Dieses „von Neuem“ ist, wie auch das Wort im Grundtexte Beides in sich faßt, zugleich ein Geborenwerden von Oben; wie also der Herr von oben ist, so muß auch in uns jenes Von - unten - Seyn aushören, und ein neuer Mensch, ein neues, von oben stammendes, seinem innersten Wesen und Ursprunge nach himmlisches Leben in uns geboren werden. Das ist die Wiedergeburt; in ihr ist Alles eingeschlossen, was uns zu Reben am rechten Weinstocke macht; sie ist also auch die Grundbedingung, unter der allein der Mensch hingelangen kann, wohin der Herr gegangen ist.

Da die Juden an unsern Herrn die Frage richten, wer Er denn sey, daß Er verlange, sie sollen glauben, daß Er es sey, so läßt Er sich nicht in weitläufige Erörterungen ein, sondern deutet darauf, daß sie vor allen Dingen sich müßten von Ihm zur Erkenntniß ihrer Sünde bringen lassen, ehe Er ihnen sagen könne und ehe sie es erkennen mögen, wer Er sey; „ich habe viel von euch zu reden und zu richten,“ sagt Er, „aber der mich gesandt hat, der ist wahrhaftig, und was ich von Ihm gehöret habe, das rede ich vor der Welt.“ Das also ist das Erste, dem wir uns unterziehen müssen, so wir nicht wollen verloren gehen, nicht wollen sterben in unsern Sünden, daß wir von Ihm und Seinem Wort uns richten lassen; daß wir erkennen, wieviel Er auch von uns zu reden und zu richten hätte, wenn wir Ihn nur in unserm eignen Innern zum Worte kommen ließen. Aber weil wir hiezu so ungern uns bequemen, und meinen, wer uns für so tief gefallen achte, daß er eine völlige Umkehr, eine neue Geburt von uns fordere, der gehe zu weit und spreche Unwahrheit, so beruft sich Jesus ausdrücklich auf Seinen Vater: Er rede nur, was dieser Ihn heiße, und da der Vater wahrhaftig sey und recht richte, so sey auch Sein richtendes Wort ein wahrhaftiges, und habe volle Gültigkeit vor dem Vater. Es ist deßhalb nicht wohlgethan, sich vor dem Ernste des Sohnes zur vermeintlichen Milde und Nachsicht des Vaters zu flüchten, sondern der erwählt das gute Theil, der sich richten läßt, sich hineinführen läßt in das Feuer der Selbsterkenntniß und Buße, sich kreuzigen läßt mit Christo und begraben mit Ihm, auf daß er, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit lebe.

Denn dieses ist das Andere, woran sich die Geburt von oben bewährt, das neue Leben, der Wandel im Lichte, da nicht Fleisch und Blut Meister ist im Menschen, da er auch nicht der Welt dient und durch ihre sündlichen Gewohnheiten sich bestimmen läßt, sondern da sein einziges Augenmerk der Wille Gottes, sein einziges Trachten das ist, wie er möge Gott wohlgefällig wandeln und etwas seyn zum Lobe Seiner herrlichen Gnade. Wie schön hat der Herr das Bild eines solchen Wandels gezeichnet in dem Zeugniß von sich selbst, das Er am Ende unsers Textes ausspricht: „Der Vater lässet mich nicht allein, denn ich thue allezeit, was Ihm gefällt.“ O selig, wer das Ihm nachsprechen könnte! Selig, wen der heilige Geist Gottes also erfüllte und triebe, daß nicht dann und wann nur, zu glücklicher Stunde, aus guter Laune ein Gott wohlgefälliges Werk zu Stande käme, wie etwa auch in der weiten Wüste sich da und dort ein Paar grüne Bäume um eine einsame Quelle her finden; sondern daß allezeit, unter allen Umständen, in jungen wie in alten Jahren, in gesunden wie in kranken Tagen, in der Stille des Hauses wie auf dem Markte des Lebens, die innere Kraft des Geistes sich durch Früchte in Worten und Werken bethätigte, daß an allem Thun wie in allem Leiden zu sehen wäre, weß Geistes Kind einer ist, daß er, wie sein Meister, nicht von dieser Welt, sondern von oben ist! Will denn auch die Welt nicht mehr nach ihm fragen, er ist darum nicht allein, nicht verlassen; weil auch er nicht mehr von unten ist, so ist derjenige bei ihm, der in der Höhe und im Heiligthum wohnet.

Beides aber, jener Sinn bußfertiger Demuth, der sich gerne richten lasset von dem Munde der Wahrheit, und dieser neue freudige Gehorsam, Beides ist nur da möglich, wo Glauben ist, jener Glaube, der in Christo Jesu das dargebotene Heil erkennt und ergreift. Eine Buße, in welcher nicht bereits der Glaube eingeschlossen ist, ist eine Judasbuße, die sich entweder, wie bei dem unglücklichen Jünger, in ein unchristliches Verzweifeln umwendet, oder, was freilich viel öfter der Fall ist, mit der Zeit sich in ein stumpfes, geistig todtes Wesen verliert, wie ein Bach in den Sand der Steppe. Wiederum eine Gerechtigkeit, die nicht im Glauben wurzelt, ist eine Pharisäergerechtigkeit; sie ist gerichtet durch das apostolische Wort: „Was nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde“ (Röm. 14, 23.). Deßhalb macht der Herr auch in unserm Text Alles vom Glauben abhängig; „so ihr nicht glaubet, daß Ich es sey,“ spricht Er, „so werdet ihr sterben in euren Sünden.“ An demjenigen also bleibt seine Sünde haften, ohne daß er ihrer los würde, derjenige muß mit dieser Last hintreten vor den ewigen Richter, der nicht Glauben hat an den Heiland der Welt. Denn durch den Glauben allein wird ja Sein Verdienst, Sein Friede, Seine Gerechtigkeit unser Eigenthum; durch den Glauben wird Er selbst der Unsrige; indem wir im Glauben uns Ihm hingeben und Ihn in uns aufnehmen, stiftet Er einen Bund, eine Gemeinschaft mit uns, die, weil sie besiegelt ist mit dem Blute des heiligen Opferlammes, auch der Tod nicht stören, noch weniger zerstören kann, die vielmehr, wie sie hienieden verborgen ist und nur dem Geiste kund wird, so drüben sich in ein Schauen von Angesicht zu Angesicht verwandelt, in ein Daheimseyn bei dem Herrn. Die Stiftung dieser Gemeinschaft knüpft Jesus in unsrem Text an Seine Erhöhung an; „wenn ihr des Menschen Sohn erhöhen werdet,“ sagt Er: „dann werdet ihr erkennen, daß ich es sey, und Nichts von mir selber thue, sondern wie mich mein Vater gelehret hat, so rede ich.“ Es liegt ein schöner, bedeutungsvoller Doppelsinn in dem Wort „Erhöhung“; denn es mag ebensosehr auf die Erhöhung des Lammes Gottes an das Kreuz, als auf Seine hernach folgende Verklärung, und zwar, da Er sagt: „wenn Ihr des Menschen Sohn erhöhen werdet,“ auf Seine Verklärung in den Herzen der Menschen bezogen werden; Beides ist gleichermaßen in jenem Wort enthalten.

Ja, da der Herr verschieden war am Holze des Fluches, da schlug Mancher an seine Brust, wenn auch nicht klar erkennend, doch ahnend, was der römische Hauptmann aussprach: „Wahrlich, dieser ist ein frommer Mensch und Sohn Gottes gewesen.“ Was dem lebenden Heiland in so vielen harten Herzen hervorzubringen nicht gelungen war, das vermochte das bleiche Marterbild des Gekreuzigten. Ist es nicht heute noch die gekreuzigte Liebe, deren Anblick manches Herz erweicht und gewinnt? Hat nicht sie schon manchen hohen Geist geniedrigt, manchen eitlen Sinn zum Ernste umgewendet? Dem äußeren, fleischlichen Sinne freilich ist dort vor Golgatha die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes am allertiefsten verhüllt und verborgen, wie sich das Tageslicht über Seinem Haupte verbarg; aber wer irgend mit hellerem Auge zu dem sterbenden Erlöser aufblickt, der geht nicht hinweg ohne den Eindruck, daß das göttliche Liebe sey, welche im Bunde mit göttlicher Heiligkeit das Werk der Erlösung vollbringe. Und so wirft sich der Mensch alsdann nieder vor dem, der die Sünder, der auch Ihn also geliebt hat; und erhöhet Ihn nun im eigenen Herzen, läßt Ihn da Sein Reich aufrichten und König sein; da gilt es auch wieder, was Johannes der Täufer sprach: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen.“ Ist aber Christus verklärt im innern und äußern Leben eines Menschen, hat so ein himmlisches Wesen Raum in demselben gewonnen, dann ist ihm auch der Eingang zur seligen Gemeinschaft mit dem Herrn gewiß; ist Christus sein Leben, so ist Sterben sein Gewinn; denn er stirbt nicht in seinen Sünden, sie sind von ihm genommen; er stirbt in dem Herrn, und selig sind ja die Todten, die in dem Herrn sterben!

Solche Seelen erschreckt das Wort: „Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen“ nicht mehr, sie sind der Furcht enthoben; denn Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibet alle Furcht aus; sie wissen vielmehr, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstenthum noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftigen, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Creatur sie scheiden kann von der Liebe Gottes, die da ist in Christo Jesu, ihrem Herrn.