Neff, Felix - Predigtauszug

Auszug einer im November 1826 bei der Einweihung der Kirche zu Mens gehaltenen Rede über die Worte: Ihr als die lebendigen Steine bauet Euch u. s. f.

Der Tempel zu Jerusalem war ein Ort, den der Herr durch seine Gegenwart besonders ehrte. In denselben durfte nichts Unreines hineingehen. Man beschäftigte sich in ihm ausschließend mit dem Dienste Gottes; hier wurde er gelobt, angebetet, gepiesen; hier verkündigte er seinen Willen, und hier spendete er seine Segnungen aus.

Die Kirche, welche ein heiliger Tempel, ein geistiges Tabernakel genannt wird, muß, wie der Tempel vorbildlich und figürlich, alle diese Eigenschaften vollkommen undwirklich darstellen. Welche Kirche nun, wenn man dieses Wort i nder gewöhnlichen Bedeutung nimmt, welcher Verein von sündigen Menschen wird uns jenes hohe Bild verwirklichen und von uns das geistige Haus Gottes, das Tabernakel des lebendigen Gottes genannt werden können? Wo werden wir dieses göttliche Heiligthum finden? In der Versammlung der Erstgebornen und der Taufensden von Engeln in dem himmlischen Jerusalem. Dort dient, lobt und preist man Gott tausend Male besser als in Zion. Dieses himmlische und geistige Heiligthum bilden alle reinen Wesen, welche ihr Glück in Gott finden. Der Ruhm Jehovas erfüllt und erleuchtet dasselbe, und spiegelt sich auf jedem der lebendigen Steine, woraus es gebildet ist, ab. Seine Liebe vereint und entflammt sie. Der König des Ruhmes wohnt mitten unter ihnen, er freut sich ihrer Seligkeit, und hört gerne ihren ewigen Lob- und Dankgesang an. Dieß ist der Tempel, worin Gott wohnt, und der einzige, der seiner würdig ist. Was sollen also die verschiedenen Kirchen seyn, in denen das Evangelium auf Erden gepredigt wird? Als man den prächtigen Tempel Salomon's erbaute, sagt der heilige Geschichtschreiber, waren die Steine zuvor ganz zugerichtet, daß man keinen Hammer noch Beil, noch irgend ein Eisenzeug im Bauen hörete. (1. Buch d. Kön. 6,7.) Ganz gewiß war es aber weder so in den Marmorsteinbrüchen, noch auf dem Libanon, wo man die Cedern abhieb, noch in den brennenden Oefen zwischen Succoth und Isereda, wo das Erz für die heiligen Gefäße gegossen wurde. Auf ähnliche Weise erhebt sich in dem Himmel das majestätische Heiligthum ohne Geräusch, ohne Anstrengung; Alles geschieht daselbst rein und vollkommen. Die Braut des Lammes hat weder Flecken noch Runzeln, oder deß etwas; allein was finden wir in dieser unreinen und verfinsterten Welt, in dieser dunkeln Steingrube, woraus der große Baumeister wohl einige Steine zu seinem Gebäude nehmen will, als für Einen Tag zurecht gemachte Bauhöfe, wo Alles in Bewegung und in Unordnung zu seyn scheint? Wie viele ungestaltete Steine, wie viele Ausschüsse, wie viele unnütze Trümmer, wie viele Gegenstände von vorübergehendem Gebrauch! Wie viel rein provisorische Anordnungen! Wie viel Lohnarbeiter und Fremde sind nicht in diesen Steinbrüchen beschäftigt, wie die Arbeiter des Hiram, und die, wie sie, niemals in das Heiligthum eingehen werden! Welche Uneinigkeiten giebt es nicht selbst unter den treuesten Arbeitern, welche Muthmaßungen, eitle Erörterungen über den endlichen Zweck und Plan des großen Baumeisters, den er allein kennt! Sollen wir in diesem Chaos die wahre Kirche, den geistigen Tempel suchen?

Wollen wir ihn aus allen diesen ungeformten, aus dem Groben gearbeiteten Blöcken zusammen oder nur aus denjenigen, welche uns schon durch den Meister bereitet scheinen, erbauen? Sollen wir etwa versuchen alle, die wir in jeder der verschiedenen an tausend Orten der Welt geöffneten Steingruben vorfinden, in eine gemeinschaftliche Ordnung zu bringen, oder wenn das unmöglich ist, uns wenigstens bestreben, sie wie jene zugehauenen Steine in verschiedene Haufen zu sammeln, die man aufschichtet, um sie vor dem Gebrauche noch auszumessen?

O! wie viel weiser ist der Herr! Während wir uns über den Vorzug dieses oder jenes Bauhofes streiten und Andere sich damit abmühen, eine vollkommene Ordnung darinnen einzuführen, durchschreitet stillschweigend der göttliche Salomon dieses weite Bergwerk, wählt, bezeichnet, nimmt weg und stellt in seinem Gebäude die Materialien hin, die mitten unter diesen Reibungen gesammelt wurden, indem er jedem Stück den ihm eigenthümlichen und für dasselbe bestimmten Ort anweist. Dieß, meine innigstgeliebten Brüder, ist die große Idee, die wir uns von dem himmlischen Tabernakel, von dem geistigen Gotteshause, von der allgemeinen, sowohl der streitenden als der herrschenden Kirche, deren Daseyn wir in dem apostolischen Glaubensbekenntniß aussprechen, machen sollen. O wie kläglich müssen uns jetzt die anmaßenden Forderungen dieser oder jener Kirche an die Gesammtheit, sowie die unentscheidbaren Streitigkeiten über die Nachfolge, die Hierarchie und die Kirchenzucht erscheinen, die zu allen Zeiten (wie noch heut zu Tage) die Gläubigen getheilt und beunruhigt haben. Laßt uns vielmehr ein Jeder auf dem Felde, auf das der Herr uns gestellt hat, soviel als möglich Materialien zubereiten, und vor Allem ihn bitten, daß er aus uns Allen lebendige Steine für sein Gebäude mache. Amen!

Quelle: Züge aus dem Leben des Felix Neff