Murray, Andrew - Wachset in der Gnade - 20. Lebendigmachende Gnade.

Röm. 6,1-2.
Was sollen wir hierzu sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, auf dass die Gnade desto mächtiger werde? Das sei ferne; Wie sollten wir in der Sünde wollen leben, der wir abgestorben sind?

Der Apostel hatte in dem vorigen Kapitel Großes von der Fülle und der Herrschaft der Gnade gesagt. Vor allem hatte er das stolze Wort gesprochen, Röm. 5,20: „Das Gesetz ist neben eingekommen, auf dass die Sünde mächtiger würde. Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden.“ Hatte er durch dieses Wort nicht das Missverständnis veranlasst: Nun, wenn das wahr ist, dass die Gnade umso mächtiger wird, je größer die Sünde ist, müssen wir dann nicht in der Sünde beharren, auf dass die Gnade desto mächtiger werde? - Mit Entrüstung weist der Apostel diesen Gedanken durch sein entschiedenes: „Das sei ferne!“ von sich ab und geht dann Röm. 6,3-13 dazu über, zu zeigen, wie ungereimt dieser Gedanke ist, wie sehr er mit dem ganzen Werke der Gnade streitet, welches nichts anderes bezweckt, als gerade die Sünde auszurotten.

Wo die Gnade dem Gottlosen naht, heißt es: „Je mehr Sünde da gewesen, desto größere Ehre für die Gnade.“ Sobald sie ihn aber unter ihre Leitung nimmt, heißt es: „Je weniger Sünde, desto größere Ehre für die Gnade.“

Man sollte meinen, die Sache wäre so deutlich, dass die Gefahr verkehrter Folgerungen gar nicht bestehen könnte. Und doch bestand diese Gefahr. Es war für den Apostel eine Notwendigkeit, diese Einwürfe zu widerlegen, denn die erwähnte Beschuldigung ist tatsächlich in den Tagen des Apostels (Röm. 3,8) und auch in späteren Zeiten gegen die Lehre von der freien Gnade erhoben worden. Man sagte, es sei gefährlich, so freie überströmende Gnade für Gottlose zu predigen. Dann waren auch in den ersten Gemeinden einige, welche zwar mit dem Mund bekannten, durch ihren gottlosen Wandel aber diese Beschuldigung nahelegten. Gal. 5,13; 1. Petri 2,6; Jud. 4. Vor allem aber ist des Menschen Herz so töricht und blind und sind die Gnadengedanken Gottes für unsere Gedanken so unfassbar hoch, dass selbst gläubige Christen dieselben nicht so, wie es sich gehört, verstehen. Wo man z. B. meint, die Gnade bestehe allein oder doch hauptsächlich in der Vergebung der Sünden, da erhebt sich auch gar leicht der Gedanke: Wir müssen immer in der Sünde verharren, damit wir stets demütig und von der Gnade abhängig bleiben. So meint denn mancher Christ, er ehre die Gnade ganz besonders dadurch, dass er nichts von ihr so sehr erwarte, als die Vergebung seiner unzählbaren täglichen Sünden. Er denkt, dies sei ihre Hauptarbeit. Er weiß es nicht, dass es für die Gnade eine viel größere Ehre ist, in der Seele zu herrschen, die Macht der Sünde in der Seele wirklich zu unterdrücken und den Erlösten in einem neuen Leben der Gerechtigkeit und Heiligkeit Gott dienen zu lassen. Röm. 6,11 und 13,22-23.

Es ist vor allem um der in letztgenanntem Irrtum befangenen Gotteskinder willen, dass der Geist Gottes die Frage unseres Textes beantworten lässt. Und wie lautet die Antwort? Wie werde ich gänzlich aus diesem Irrtum und aus der Macht, welchen er der Sünde gibt, gerettet? Man findet die Antwort in dem sechsten Kapitel des Briefes an die Römer, vom 3. bis zum 13. Vers.

Da lesen wir tiefsinnige Worte, welche sich nicht so leicht begreifen lassen. Dem Christen aber, welcher entschieden danach Verlangen hat, nicht in der Sünde zu bleiben, weil er ja unter der Gnade steht, dem es entschieden darum zu tun ist, die von der Sünde befreiende Macht der Gnade reichlich kennen zu lernen, dem wird sie auch Gottes Geist deutlich machen. Nimmst du sie zu Herzen, denkst du über sie nach und setzt du dein Vertrauen auf sie auch dann, wenn du sie nicht völlig verstehst, dann bringen sie dir Licht, Leben und Kraft.

Das Erste, was du zu tun hast, ist dies, dass du den Hauptgedanken zu verstehen suchst: Sollen wir in der Sünde verharren, auf dass die Gnade desto größer werde? Das sei ferne! Und warum? Weil wir gerade durch die Gnade mit dem Jesus, dem zweiten Adam, vereinigt worden sind (Vers 15 und 18) und weil die Verbindung mit Ihm das Verharren in der Sünde unmöglich macht. Die Gnade hat ja tatsächlich uns ein neues Leben gebracht, ein Leben, welches aus dem Himmel stammt und heilig ist. Dieses himmlische Leben uns zu bringen, ist Jesus erschienen, 1. Joh. 1-3. Durch sein Sterben und Auferstehen sind wir dieses himmlischen heiligen Lebens teilhaftig. Wir sind ja mit Ihm verwachsen. Sein Tod ist unser Tod, denn wir sind mit Ihm gestorben. Vers 2, 3, 4, 5, 11. Sein Leben ist unser Leben, denn wir sind mit Ihm auferweckt. Vers 4, 5, 8, 11.

Nun ist der Herr Jesus in seinem Tod der Sünde gestorben, durch seine Auferstehung aber lebt er Gott. Vers 9, 10. Was aber der Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus für Ihn sind, das sind sie auch für uns. Darum müssen wir uns nach Vers 11 daran halten, dass wir ebenso, wie Christus, der Sünde gestorben sind und Gott leben. Auf Grund dieses Ausspruches muss der Christ es als eine erledigte und entschiedene Tatsache betrachten: „Unser alter Mensch ist mit Ihm gekreuzigt, wir sind der Sünde gestorben, wir leben Gott, wir müssen uns Gott hingeben, dieweil wir aus Toten Lebendige geworden sind.“ Der Glaube an diese Tatsache gibt dem Menschen Kraft, seine Glieder Gott zu Waffen der Gerechtigkeit zu ergeben, auf dass die Sünde nicht mehr in dem sterblichen Leibe herrsche. Vers 11, 12

Lieber Christ! Da hast du die Antwort auf die Frage: Soll ich unter der Gnade noch in der Sünde verharren? Und auf die andere Frage: Wie kann ich, der ich unter der Gnade stehe, dahin gelangen, dass ich nicht in der Sünde bleibe? Gottes Antwort ist deutlich: Merk es, glaub es, sprich es vor Gott aus, leb in der Gewissheit, dass du mit Christo ebenso wie Christus der Sünde gestorben bist und Gott lebst! Die Sünde hat dir nichts zu sagen. Du stehst nicht unter der Sünde, sondern unter der Gnade. Und was die Gnade für dich tun will, ist nichts weniger als dies: Sie will dich in der Kraft des Lebens Jesu dazu befähigen, die Sünde zu besiegen und Gott zu dienen. Dadurch, dass ihr aus dem Tode zum Leben gekommen seid, habt ihr die Kraft, eure Glieder Gott zu Waffen der Gerechtigkeit zu ergeben. Vers 13.

Die Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit, macht uns von Sünde frei und bringt uns zum Dienst der Gerechtigkeit zurück. Je besser wir die Gnade als das Leben Christi in uns kennen, desto weniger sündigen wir. Wenn wir uns ganz und gar der Gnade hingeben, damit sie uns mit sich selbst fülle, dann unterdrückt sie die Sünde in uns.

Darum lass dich durch die Gnade belehren, lieber Christ! Sie sagt dir, dass du in Christo so gewiss der Sünde gestorben bist, wie Christus selbst. Die Sünde ist nicht gestorben, sie findet sich noch in deinen Gliedern. In dem Glauben aber an Christus, als unser Leben, haben wir die Kraft sie zu hindern, in unseren Gliedern zu herrschen. O, lieber Christ, lebe in Ihm und mit Ihm! Lass Ihn in dir leben! Das ist der Weg, auf dem die Gnade ihr herrliches Werk in uns, die wir von der Sünde befreit sind, vollendet, damit wir (Luk. 1,74-75) aus der Hand unserer Feinde erlöst, Ihm alle Tage unseres Lebens ohne Furcht, in Heiligkeit und Gerechtigkeit dienen können.

„Gott kann machen, dass allerlei Gnade unter euch reichlich sei, dass ihr in allen Dingen volle Genüge habt und reich seid zu allerlei guten Werken.“