Murray, Andrew - Wachset in der Gnade - 16. Freie Gnade.

Röm. 4,4-5 u. 16.
Dem, der mit Werken umgeht, wird der Lohn nicht aus Gnaden zugerechnet, sondern aus Pflicht. Dem aber, der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der die Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit. Derhalben muss die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen, auf dass sie sei aus Gnaden.
Röm. 11,6.
Ist es aber aus Gnaden, so ist es nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein.
Epheser 2,8-9.
Aus Gnaden seid ihr selig geworden, durch den Glauben; und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es, nicht aus den Werken, auf dass sich nicht jemand rühme.

Zwei Fragen gibt es, auf welche das Wort Gnade die Antwort gibt. Die eine Frage lautet: Was gibt Gott? Die andere: Warum und auf welche Weise gibt er? - Die Antwort auf die erste Frage enthält den ganzen Segensreichtum, welcher in der Fülle der Gnade liegt. Die Antwort auf die zweite verweist auf das Freie, völlig Unverdiente der Gabe. Ich denke, wir haben wohl alle mehr auf die zweite, als auf die erste Bedeutung des Wortes geachtet. So oft wir das Wort „Gnade“ in der Bibel fanden, glaubten wir es zu verstehen, wenn wir auch nur den Gedanken daran hatten, dass Gnade eine Gabe ist, welche uns frei und umsonst zu Teil wird.

Jetzt fangen wir an, einzusehen, dass Gnade unendlich viel mehr bedeutet. Gnade ist der Name, mit welchem Gott alles dasjenige bezeichnet, was er uns in Christo geschenkt hat. Je mehr wir nun in der Antwort auf die erste Frage diesen wunderbaren und allgenugsamen Schatz himmlischen Segens kennen lernen, desto herrlicher erhebt sich vor uns die zweite Vorstellung: Dieses Alles wird uns umsonst zu Teil. Alle Gnade aus Gnaden.

Wie einfach wird uns diese zweite Vorstellung in obenstehenden Texten deutlich gemacht. Wenn jemand arbeitet, so verlangt er auch Lohn, nicht als eine Gnade, sondern als eine Pflicht und Schuldigkeit, als etwas, worauf er ein Recht hat, was er verlangen kann; derjenige aber, welcher nicht arbeiten kann, muss auf Gnade hoffen. Wenn darum jemand zur Seligkeit aus Gnaden gelangen will, fragt Gott durchaus nicht nach seinen Werken. Und hätte er auch nicht ein einziges gutes Werk getan und fühlte sich sein Herz völlig sündig und tot, er könnte trotzdem die Seligkeit aus Gnaden empfangen. Deswegen steht ja geschrieben: „Ist es aus Gnaden, so ist es nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein.“ Welch' treffender Ausdruck, um den Sünder zu überzeugen, dass er nichts mitzubringen braucht. Wollte die Gnade etwas - und wäre es das Geringste - an Werken von uns fordern, so wäre sie nicht mehr einzig und allein Gnade. Gnade will Gnade sein: eine Gabe, welche vollkommen frei, umsonst, an völlig Unwürdige gespendet wird. Darum fährt der Apostel fort: „Dem, der nicht mit Werken umgeht, aber an den glaubt, welcher den Gottlosen gerecht macht!“ Welch trostreiches Wort: „dem, der an den glaubt, der den Gottlosen gerecht macht!“ Könnte Gott wohl einen stärkeren Ausdruck wählen, um uns zu vergewissern, dass hier nichts zu tun ist, als zu empfangen. Wie sündig oder gottlos auch ein Mensch sein mag, die Gnade bietet ihm an, ihn trotzdem gerecht zu machen: Sie sind allzumal Sünder und werden umsonst gerecht durch seine Gnade. und wie es mit der Rechtfertigung steht, so steht es auch mit der ganzen Seligkeit aus Gnaden. Ephes. 2,6-8. Das Wachsen in der Gnade hängt gar viel davon ab, dass das Gotteskind mehr und mehr von dem Gedanken durchdrungen wird, dass ihm die ganze Fülle der Gnade ohne jegliches Verdienst, als ein freies Geschenk nicht nur zugedacht ist, sondern auch zugeeignet wird. Lernt es das einsehen, so lernt es auch von sich selbst abzusehen, so lebt es kindlich-froh in der Gewissheit, dass seine Schwäche und Unwürdigkeit die Gnade durchaus nicht hindern, dieselbe vielmehr noch antreiben wird, sich in ihm zu verherrlichen. Diese Gewissheit ist der Glaube.

Wenn darum Gnade uns naht, ist dies das Einzige, was sie von uns verlangt, das Erste, was sie in uns hervorruft. Wie denn geschrieben steht: Die Gerechtigkeit muss durch den Glauben kommen, auf dass sie aus Gnaden sei. Wenn jemand zu dir kommt, während du in Not und völlig hilflos bist, was erwartet er dann von dir? Nichts als dies, dass du ihm in dem Vertrauen schenkst, was er dir verspricht. So kommt auch die himmlische Gnade mit allen ihren göttlichen Verheißungen zu uns und bittet uns mit Herzlichkeit: Ach, hör' doch auf mich! Hör doch auf das, was ich dir sage: Was Gott verheißen hat, kann Er auch tun. Röm. 4,21.

Gottes Gnade und unsere eigenen Werke sind in einem Kampf auf Leben und Tod. Sie können durchaus nicht neben einander bestehen. Gnade und Glaube aber gehen Hand in Hand. Die Gnade naht und erweckt in der Seele durch ihre Freundlichkeit Vertrauen. Sie naht in der Person des gekreuzigten Gottessohnes und sagt: Ich will alles, alles, alles für dich tun. Willst du dich nicht mir anvertrauen? Der Glaube antwortet: Werke, auf die ich mich berufen könnte, habe ich nicht; ich bin arm, ohnmächtig und sehr elend; die Gnadenverheißungen aber sind so lockend, so himmlisch, so ernst und gut gemeint. Sollte ich es nicht wagen, auf sie mein Vertrauen zu setzen? Ja, ich glaube es, himmlische Gnade, du wirst tun, was du sagst, ich vertraue mich dir an.

Je mehr nun die Seele auf das Wort der Gnade achtet und über die Wunder der Gnade nachdenkt, desto weiter öffnet sich vor ihr ein Himmel voll Seligkeit in der Gewissheit: die Gnade erhalte ich umsonst, ohne Verdienst. Was ich in mir selbst finde, ist darum kein Hindernis für mich, mich zu dem festen Vertrauen zu entschließen, dass die Gnade ihre ganze Fülle über mich ausgießen werde. Sie will mich ganz und gar haben: ganz und gar soll sie mich haben. Sie kennt ihre Arbeit; und meine Arbeit soll darin bestehen, stets ihr zu vertrauen und stets ihr zu danken.

„Gott kann machen, dass allerlei Gnade unter euch reichlich sei, dass ihr in allen Dingen volle Genüge habt und reich seid zu allerlei guten Werken.“