Murray, Andrew - Das vom Kämmerlein ausgehende Licht

Du aber, wenn du in dein Kämmerlein gehst, so schließe die Tür hinter dir zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen, und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird dirs vergelten öffentlich.
Mat. 6,6

Unser Herr und Heiland hatte von den Gebeten der Heuchler gesprochen, die sich gern von den Leuten sehen lassen mit ihrem Beten, und von den Gebeten der Heiden, die meinen sie müssten viele Worte machen, um erhört zu werden. Sie verstehen nicht, dass das Gebet nur Wert hat, wenn es an den persönlichen, allsehenden und allhörenden Gott gerichtet ist. In der oben angeführten Stelle gibt uns der Herr eine wunderbare Lektion in Bezug auf den unschätzbaren Segen, den ein Gotteskind im Kämmerlein haben kann. Soll uns diese Lektion wirklich von Nutzen sein, so müssen wir erkennen, welches Licht das Kämmerlein erstens auf die wunderbare Liebe Gottes wirft. Wenn du ins Kämmerlein gehst, so denke an Gott, an seine Größe, seine Heiligkeit, seine unaussprechliche Herrlichkeit und an das herrliche Vorrecht, zu dem er seine Kinder einlädt, dass sie, so wie sie sind, zu jeder Stunde des Tages zu ihm und mit ihm reden dürfen, solange sie wollen. Geht eins derselben ins Kämmerlein, so ist Gott bereit, ihm dort zu begegnen, Gemeinschaft mit ihm zu haben, ihm die Kraft und Freudigkeit zu geben, deren es bedarf, und zugleich die lebendige Zuversicht, dass er mit ihm sein und ihm in allen Stücken beistehen will. Überdies verheißt er ihm, dass er ihm sowohl für sein äußeres Leben wie für seine Arbeit geben will, was es sich im Verborgenen des Kämmerleins von ihm erfleht hat. Sollten wir da nicht vor Freude jubeln! Was für eine Ehre und was für ein Heil!

Man mag in der größten Not sein oder den tiefsten Fall getan haben - man mag leiblichen oder geistlichen Segen für das Alltagsleben wünschen, man mag für sich selbst, seine Angehörigen oder seine Gemeinde oder Gemeinschaft, ja, für die Welt im großen und ganzen beten - es ist alles eingeschlossen in die dem Gebet im Kämmerlein gegebene Verheißung: „Bete zu deinem Vater im Verborgenen, und er wird es dir vergelten öffentlich.“

Man könnte demnach denken, es gäbe keinen anziehenderen Ort für ein Gotteskind als das Kämmerlein, wo ihm die Gegenwart des Vaters verheißen ist, und wo es ungestört mit dem Vater verkehren kann. Weder die Wonne eines Kindes, wenn es so recht die Liebe seines irdischen Vaters genießen darf, noch die eines Freundes, wenn er mit einem geliebten Busenfreunde zusammentrifft - weder das Glück eines Untertanen, der freien Zutritt zu seinem König hat und so lange bei ihm bleiben darf, wie er will - kommen dieser göttlichen Verheißung gleich. O der wunderbaren Liebe Gottes, die uns ein durch solche Verheißung geheiligtes Kämmerlein gibt! Danken wir doch dem Herrn Tag für Tag für diese Liebesgabe! In dieser sündigen Welt hätte er sich nichts ausdenken können, was unseren Bedürfnissen besser entsprochen hätte, was uns eine solche Quelle unaussprechlichen Segens sein könnte.

Zweitens geht vom Kämmerlein Licht aus auf die tiefe Sündhaftigkeit des Menschen. Man könnte denken, jedes Gotteskind müsste mit Freuden einer solchen Aufforderung nachkommen. Anstatt dessen kommt aus allen Ländern die Klage, dass die sogenannten Gläubigen im allgemeinen das Gebet im Kämmerlein vernachlässigen. Viele benutzen das heilige Vorrecht überhaupt nicht. Sie gehen wohl in die Kirche oder Versammlung, bekennen Christus als ihren Heiland, aber von einem persönlichen Verkehr mit ihm wissen sie wenig oder nichts. Viele benützen es ein wenig, aber in aller Eile, und es ist entweder Gewohnheitssache bei ihnen, oder sie suchen ihr Gewissen damit zu beschwichtigen - aber Freude und Segen haben sie nicht davon. Und - was das Schlimmste ist - viele, die etwas von dem vom Kämmerlein ausgehenden Segen gespürt haben, bekennen, dass sie wenig von einem treuen, regelmäßigen, seligen Verkehrt mit dem Vater wissen als von etwas, was ihnen so nötig ist wie das tägliche Brot.

Was ist eigentlich schuld, dass so wenig Kraft vom Kämmerlein ausgeht? Ist nicht die tiefe Sündhaftigkeit des Menschen und die Abneigung seiner gefallenen Natur gegen Gott schuld daran, dass er lieber mit der Welt Gemeinschaft hat, als Auge in Auge mit seinem himmlischen Vater zu verkehren? Kommt es nicht etwa daher, dass die Christen dem Worte Gottes nicht glauben, wenn es sagt, dass das Fleisch, das in ihnen ist, Feindschaft gegen Gott ist, und dass sie zu sehr im Fleische wandeln, als dass der Geist sie zum Gebet stärken könnte? Ist es nicht, weil die Kinder Gottes sich vom Teufel die Waffe des Gebets entwinden lassen, so dass sie ihm machtlos gegenüberstanden? O der tiefen Sündhaftigkeit des Menschen. Es gibt keinen größeren Beweis für dieselbe als diese Geringschätzung der unaussprechlichen Liebe Gottes, die uns das Kämmerlein geschenkt hat.

Am allertraurigsten aber ist es, dass sogar Diener Jesu Christi sich der Gebetsversäumnis schuldig bekennen müssen. Die Heilige Schrift sagt ihnen in allen Tonarten, dass das Gebet ihre einzige Kraft ist und dass sie durch dasselbe mit Kraft aus der Höhe für ihre Arbeit ausgerüstet werden können. Dennoch scheint es, als habe die Macht der Welt und des Fleisches sie bezaubert. während sie ihrer Arbeit viel Zeit opfern und großen Eifer für dieselbe an den Tag legen, vernachlässigen sie die Hauptsache und haben weder Lust noch Kraft zu dem für Erlangung der Gabe des Heiligen Geistesunumgänglich nötigen Gebet. Ohne den Heiligen Geist aber kann ihre Arbeit unmöglich fruchtbringend sein. Gott schenke uns in Gnaden, dass wir im Licht des Kämmerleins unsere tiefe Sündhaftigkeit erkennen!

Drittens wirft das Kämmerlein Licht auf die herrliche Gnade Jesu Christi. Ist demnach keine Hoffnung, dass es anders werden wird? Muss es immer so bleiben? Oder gibt es ein Mittel zur Abhilfe? Ja, Gott sei Dank!

Der Mann, durch den Gott die Aufforderung ins Kämmerlein an uns ergehen ließ, ist kein anderer als unser Herr und Heiland, der uns von unseren Sünden erretten kann und will und uns auch von dieser Sünde erretten wird. Er hat nicht unternommen, uns von allen anderen Sünden zu erretten, und es uns überlassen, mit der Sünde der Gebetslosigkeit in eigener Kraft selig zu werden. Nein - auch mit dieser Sünde dürfen wir zu ihm kommen und zu ihm schreien: „Herr, so du willst, kannst du mich wohl reinigen.“ „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.“

Willst du wissen, wie du diese Errettung erfahren kannst? Auf keinem anderen Weg als dem, auf dem jeder Sünder zu Christus kommen muss. Fange damit an, dass du ihm kindlich und einfältig bekennst, wie sehr du das Kämmerlein vernachlässigt und entheiligt hast! Sinke in tiefer Scham und Reue vor ihm nieder! Sage ihm, dein Herz habe dich betrogen, indem es dich glauben machte, du könntest beten, wie sichs gebührt. Sage ihm, dass dich die Schwachheit des Fleisches, die Macht der Welt und das Selbstvertrauen irregeführt haben, und dass du nicht die Kraft hast, es in Zukunft besser zu machen. Tu das von ganzem Herzen. Du kannst die Sache nicht durch gute Vorsätze oder eigene Anstrengungen zurechtbringen.

Komm in deiner ganzen Sündhaftigkeit und Ohnmacht ins Kämmerlein und danke Gott in erster Linie, wie du ihm noch nie gedankt hast, dass die Gnade des Herrn Jesu es gewiss auch dir möglich machen wird, mit dem Vater so zu verkehren, wie es sich für ein Kind geziemt. Übergib dem Herrn Jesu aufs neue dein ganzes Sündenelend sowie dein ganzes Leben und deinen Willen, damit er dich reinige als sein teuer erkauftes Eigentum.

So kalt und tot dein Herz auch sein mag, übe dich beharrlich in dem Glauben, dass Christus ein allmächtiger treuer Erlöser ist - die Errettung wird dann sicherlich nicht ausbleiben. Erwarte sie mit Bestimmtheit, so wirst du sie allmählich verstehen lernen, dass das Kämmerlein die Offenbarungsstätte der wunderbaren Gnade Jesu Christi ist, die uns instand setzt, zu tun, was wir nicht aus uns selbst tun könnten - nämlich die Gemeinschaft mit Gott zu pflegen und Lust und Kraft zu einem Wandel mit ihm zu bekommen.