„Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke.“
Joh. 7, 37
Ist Jemand unter euch, den da dürstet? Den da dürstet nach Genuß und der niemals Genüsse finden konnte, die ihn befriedigten; den da dürstet nach Licht, und dem es nie gelingen wollte, irgend Etwas bis auf den Grund zu erkennen; den da dürstet nach Liebe, und der doch nie sein ganzes Herz gegen das ganze Herz eines Andern austauschen konnte; den da dürstet nach Heiligkeit, und der sich doch nie ganz von den Verlockungen der Sünde freizumachen vermochte; kurz, ist Jemand unter euch, der sich bis zu dieser Stunde abmühte, ein Ziel zu verfolgen, welches er nicht erreichen konnte, und der daran verzweifelt, es jemals zu erreichen? Ihr Alle, die da dürstet, leihet euer Ohr Jesu Christo, eurem Bruder und eurem Gott, eurem Bruder, damit Er eure Noth mit euch empfinde, und eurem Gott, damit Er sie stille, diesem Gott, welcher euch ruft eben wegen dieses Durstes, der euch verzehrt, um euch mit sich selbst zu sättigen und euch um so völliger zu befriedigen, je unbefriedigter ihr zu Ihm gekommen seid. „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke.“
Es gibt Worte des Heiligen Geistes, die man zu entweihen fürchtet, wenn man sie berührt; und nur mit einem gewissen Widerstreben wage ich es, die liebevolle Einladung des Heilandes zu entwickeln. Am liebsten möchte ich dabei auf den unwillkürlichen Eindruck rechnen, mit dem Jeder von euch, wie das ausgedörrte Land einem durchdringenden Regen, sein Herz dieser Aufforderung öffnet; möchte selber keine menschliche Gründe hinzufügen, - muß man doch immer fürchten, daß sie in die himmlische Weihe etwas von der Schwere der Erde hineinmischen! Ich möchte meinem Text gegenüber gern ein Quäker sein und allein Reden eine halbe Stunde des Schweigens vorziehn, wenn ich voraussetzen dürfte, daß sie in jenem unaussprechlichen Seufzen verbracht würde, durch welche der Heilige Geist selbst für uns bittet. Aber dies Vertrauen setze ich in Wenige. So will ich denn selber thun, was die Meisten nicht allein thun würden, aber nicht für euch, sondern mit euch; und ich thue es mit dem besonders lebhaften Wunsche, euch nicht das Ergebniß menschlicher Weisheit zu bringen, sondern die Frucht des durch Gebet erflehten und durch Erfahrung erläuterten göttlichen Wortes.
Das Dürsten setzt zwei Dinge voraus: Der Mensch fühlt ein Bedürfniß im Innern, und: findet doch keinen Gegenstand in der Außenwelt, der dasselbe befriedigt. Fände dies Bedürfniß irgend etwas außer sich, wodurch es befriedigt werden könnte, so würde der Durst der Sättigung Platz machen und eine Quelle des Wohlseins werden; und wiederum, wenn jenes Bedürfniß sich nicht im Innern fühlbar machte, so würde das Dürsten der Gleichgültigkeit weichen, würde wenigstens aufhören, eine Quelle der Qual zu sein. Aber zu wünschen ohne zu erlangen, zu suchen ohne zu finden, zu wollen ohne zu können: - das ist der gegenwärtige Zustand des Menschen, unser Aller Zustand. In unserm Herzen ist eine unermeßliche Leere, im Leben nichts, was sie ausfüllen kann, höchstens eine armselige und trügerische Befriedigung, die nur in diese Leere fällt, um sich darin zu verlieren wie ein trocknes Blatt in den Niagara.
Gibt es etwas Unersättlicheres und etwas weniger Gesättigtes als unser Herz? Versucht es, mir irgend ein Verlangen zu nennen, das nicht durch die Täuschungen, die es erfährt, sich in Bitterkeit verkehrt. All die verschiedenen Arten des Durstes, die uns quälen und an die schon das Lesen meines Textes euch erinnert hat, sind eben so viele natürliche Anlagen, die um ihr Dasein ringen und doch nie zum Dasein gelangt sind. - Uns dürstet nach Genuß und unsre Genußfähigkeit verzweifelt an ihrer Befriedigung. Lassen wir einer Wissenschaft, die mit Unrecht diesen Namen trägt, ihre hochmüthige und oberflächliche Verachtung des physischen Menschen. Lernen wir von der Heiligen Schrift, diesem aus Erdenstaub gebildeten Körper, diesem Staube, den Gottes Hand gebildet und dem Gottes Geist Leben eingeflößt hat, gerecht zu werden, diesem Körper, dessen wunderbaren Bau der Psalmist nicht genug preisen kann und dessen dem mütterlichen Schoße anvertrautes Wachsthum Gott selber für werth gehalten hat in Sein Buch einzuschreiben bis zu dem Tage, wo das Geheimniß der Geburt das noch größere Geheimniß des Lebens offenbaren sollte. (Ps. 139, 13-16.) Nach dem Plan eines Schöpfers, der Seine Güte über alle Seine Werke ausdehnt, sollten die Organe dieses Körpers, dieser Wohnsitz und dies Werkzeug des Geistes, nur Mittel eines rechtmäßigen Genusses und einer ebenso glücklichen als heilsamen Thätigkeit sein. Aber was ist aus ihnen in der Wirklichkeit geworden? Angenommen, sie sollen auch nicht nach jener schönen Ordnung der Schöpfung, die entweder allmälig untergraben oder plötzlich zerstört wird, durch Krankheit oder Unfälle im Dienst der Schmerzen stehen, so werden sie doch nach der eigenthümlichen und regelmäßigen Entwicklung unsers Wesens durch das Alter abgestumpft und abgenutzt.
Wie seltsam und grausam! Die Entwicklung des Lebens allein schon raubt uns die Freuden, für welche uns das Leben geschenkt ist, und stößt uns zuletzt aus dem Leben selbst hinaus - mich dürstet! - Uns dürstet nach Licht, und wir zweifeln an der Fähigkeit, es zu erkennen. Dies seltsame Bedürfniß, welches wir von der Geburt an in uns tragen, die Welt und uns selbst und den unsichtbaren Gott, der Alles geschaffen hat, zu erforschen; dies Bedürfniß, welches sich gleich fühlbar macht in der einfachen Kindheit, wo es dem Unterricht einen natürlichen Anfangspunkt bietet, wie in dem reiferen, denkenden Mannesalter, wo es allen Nachforschungen als Sporn und allen Wissenschaften als Grundlage dient; dies Bedürfniß, das erst befriedigt sein würde, wenn es bis zu den fernsten Grunzen der Zeit und des Raumes vorgedrungen wäre und alle großen Räthsel des menschlichen Geistes gelöst hatte, - was sage ich? - das sich auch dann nicht befriedigt fühlen würde, da es nicht leben kann, wenn es nicht vorwärts schreitet, und welches sich lieber aufs Gerathewohl hin in das Leere stürzte, als sich verleugnete und sagte: Es ist genug, - wozu all diese ungeheuren Zurüstungen? Um damit zu enden, daß wir das Wenige wissen, was wir wissen, wir Alle, du und ich, wir armen Kreaturen, die wir schon in voraus durch die Schwäche und später durch die Ermüdung, einerseits durch die Kürze der Zeit und anderseits durch die Bedürfnisse des Lebens, allenthalben durch eine unüberwindliche Unwissenheit begränzt sind. Gelangen wir doch höchstens in seltenen, unerhörten Ausnahmen dahin, zu wissen, was ein Aristoteles, ein Hieronymus, ein Anselm, ein Descartes, ein Leibniz wissen, d. h. Menschen, die sich etwas mehr als die Andern von ihrer Unwissenheit unterrichtet und ihr Genie und ihre Arbeit verbraucht haben, um sich Rechenschaft zu geben, ich will nicht sagen, von dem Geheimniß der göttlichen Vollkommenheiten oder der Flecken, welche die Sonne verdunkeln, sondern nur von dem, was in uns selber denkt oder von dem Grashalm, der zu unsern Füßen sprießt - mich dürstet! - Uns dürstet nach Liebe, und wir verzweifeln an der Fähigkeit zu lieben. Gibt es irgend Etwas, das uns von den Kreaturen einer niedern Stufe unterscheidet, das in uns das Geschlecht des Gottes erkennen läßt, in welchem wir leben, weben und sind, kurz etwas, das uns das Gefühl, das Glück, die Herrlichkeit des Daseins kosten läßt, so ist es sicherlich dieser zarte, geheimnißvolle Trieb, den wir besitzen, das Leben zu verdoppeln, indem wir aus uns selbst herausgehn, um in einem Andern zu leben, so ist es die Liebe. Lieben, wenn man nicht mit jener eigennützigen, berechneten Liebe liebt, die nichts ist als versteckter Eigennutz, sondern mit der Liebe, die ihren Grund und ihr Vorbild in Gott hat, wirklich lieben heißt der Abglanz eines Gottes sein, der die Liebe ist, heißt den Himmel auf die Erde zurückführen. Aber wo ist dieser Himmel auf Erden? Wo wollen wir die Liebe, wie das Herz des Menschen sie nennt und ersehnt, die ihn entzückt ohne ihn zu verführen, die ihn überströmt ohne ihn zu berauschen, die ihn ganz einnimmt ohne ihn sich selber zu entreißen, wo wollen wir diese wahre, reine, heilige, göttliche Liebe finden, wo sie nur hier auf Erden suchen? Ach, sagt es mir, wenn ihr es wißt! Seid ihr so bevorzugt worden, einem Wesen zu begegnen, mit dem ihr Herz gegen Herz habt austauschen können und zwar ohne Rückhalt, ohne Zweifel, ohne Wanken und Schwanken, wie das Herz eines Menschen sich hingeben muß, um sagen zu können: Ich liebe und ich bin glücklich in meiner Liebe; einem Wesen zu begegnen, einem so liebenswürdigen und liebenden, und wäre es auch das liebenswürdigste und geliebteste, welches die Erde trägt, daß es eurer Kraft zu lieben, ohne irgend eine Leere zu lassen, völlig Genüge leistet und euer Herz, welches, jede halbe Hingabe ausgenommen, nichts mehr niederdrückt als das Verlassensein, völlig befriedigt, dies Herz befriedigt, das mit ebenso unermüdlicher als erfolgloser Ausdauer noch immer einen Platz sucht, den es, ohne auf seine Ansprüche zu verzichten, einnehmen kann? Mich dürstet! - Uns dürstet nach Heiligkeit, aber wir verzweifeln an der Fähigkeit, gut zu handeln. Wenn der Geist das Salz des Lebens ist und das Herz seinen Reiz ausmacht, so bestimmt das Gewissen seinen Werth. Der höchste Ehrgeiz, dem allheiligen Gott nachzuahmen, der feste Entschluß, um jeden Preis Alles Seinem Willen zu unterwerfen und Alles nach Seinem Gesetz zu ordnen, ist das tiefste, unbedingteste, vorherrschendste Bedürfniß der menschlichen Natur und darum auch - denkt ihr - das, welches der völligsten Befriedigung gewiß ist. Der völligsten Befriedigung. Ach, seht ihr nicht das bittre Lächeln, welches diese Hoffnung bei den Besten unter Allen, die auch zugleich mit sich selbst am meisten unzufrieden sind, hervorruft? Glaubt einem Manne, der an Heiligkeit wahrscheinlich nie durch einen andern übertroffen, vielleicht nie erreicht ist. Hört Paulus, wie er vor der Kirche seiner Zeit und vor den künftigen Geschlechtern das Zeugniß seiner Ohnmacht ablegt, einer allerdings überwundenen Ohnmacht, die er aber doch nie in diesen Worten ausgedrückt hätte, wenn nicht in ihm noch Etwas davon zurückgeblieben wäre, als er, vom Heiligen Geist getrieben, so schmerzlich darüber seufzte: „Das Gesetz ist geistlich, aber ich bin fleischlich, an die Sünde verkauft. Ich billige nicht, was ich thue; denn ich thue nicht, was ich will, sondern ich thue, was ich hasse… Ich weiß, daß in mir, das ist, in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt; denn das Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen des Guten fehlt mir. Ich thue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will. Ich finde also dies Gesetz in mir, daß, während ich das Gute thun will, das Böse mir anhaftet. Denn nach dem inwendigen Menschen habe ich Wohlgefallen an Gottes Gesetz; aber in meinen Gliedern sehe ich ein anderes Gesetz, welches gegen das Gesetz meiner Einsicht ankämpft und mich gefangen nimmt unter das Gesetz der Sünde, welches in meinen Gliedern herrscht.“ Wenn aber Paulus also redet, oder vielmehr also weint über die menschliche Natur, so würde es verlorene Mühe sein, die demüthigenden Bekenntnisse eines Sokrates oder Kant, eines Auqustin oder Luther zu sammeln. Ihr bedürft auch kein anderes Zeugniß als das eures eignen aufrichtig geprüften Gewissens. Wann habt ihr das Ideal der Heiligkeit, welches ihr in euch tragt, verwirklicht, wann nur jemals annähernd verwirklicht? Wann habt ihr eure Gedanken, eure Reden und Handlungen allein dem göttlichen Gesetz unterworfen gehalten? Wann habt ihr Alles thun können, was ihr wolltet, Alles, was ihr mußtet, ich möchte sagen, Alles, was ihr konntet? Ach, wer wüßte nicht, wenn er nur wenig aufrichtig gegen sich selbst ist, daß der Punkt, wo die Befriedigung unserer inneren Wünsche am nothwendigsten und dem Anschein nach auch an, sichersten ist, zugleich der Punkt ist, wo sie uns ganz unwandelbar verloren geht? Wer kann an das denken, was er in der Frömmigkeit, in der Liebe, in der Geduld sein sollte, ohne daß er aus der tiefsten Tiefe seines Herzens ausrufen müßte: Mich dürstet!
Mich dürstet - damit muß man immer enden, so oft man die Bedürfnisse des Herzens mit dem wirklichen Leben vergleicht. So groß ist das Mißverhältniß, ich möchte sagen der Contrast, zwischen den zwei Hälften unsers Daseins, daß man sich kaum überzeugen kann, beide seien für einander geschaffen. Gib mir das Herz des Menschen, dies so große, so ehrgeizige, so glühende Herz, und nie, niemals kann ich ihm das Leben, wie es vor unsern Augen sich darstellt, als seinen Schauplatz anbieten; gebt mir wiederum das Leben, wie es ist, dies so enge, so kalte, so schnell erschöpfte Leben, und nie, niemals kann ich ihm das Herz, wie wir es in uns schlagen fühlen, als seinen Träger bezeichnen. Man könnte dies eine übelgewählte Verbindung nennen, wo die erzwungene Annäherung nur dazu dient, die Unverträglichkeit Beider in ein recht grelles Licht zu stellen; man könnte, so lange man nicht von der Heiligen Schrift das Geheimniß dieser Zerrissenheit erfahren hat, sich versucht fühlen zu glauben, daß dies Herz für eine andere Welt geschaffen ist oder diese Welt für ein anderes Herz, und daß sie nur durch eine seltsame und blinde Verwirrung zusammengeworfen sind. Wie dem auch sei, das ist gewiß: Dieser Becher des Lebens, welcher demjenigen vielleicht süß ist, der nur von ihm nippt, enthält für Jeden, der ihn bis auf den Grund leert, eine bittere Hefe, welche die Unerfahrenheit Betrug und die Erfahrung selbst Unbefriedigtsein nennt. Dies Unbefriedigtsein ist nicht, wie die Meisten glauben, der nichtige Traum eines kranken Gehirns, sondern das aus einem nur zu wahren Zustande hervorquellende Bewußtsein; es existirt nicht in dem Kopfe eines überspannten Menschen, sondern in der sich selbst erkennenden Menschheit. Es ist, wenn auch ungleich empfunden und noch weniger gleich begriffen, in Allen gegenwärtig; in scheinbarer Ruhe wachsend, je nachdem der Mensch die Hoffnung, die ihm noch blieb, verliert, ist dies Unbefriedigtsein das letzte Wort des irdischen Daseins; und die Menschen, auf welche die Wucht dieses trostlosen Zustandes am schwersten drückt, sind die bevorrechteten Geister und Herzen, die sich mehr als die Andern mit dem wahren Ziel des Menschen beschäftigen und darum auch am besten die Unmöglichkeit, dies Ziel zu erreichen, darthun. Dies Unbefriedigtsein athmet in allen menschlichen Dingen, auch in den besten: in den Forschungen des Philosophen, in den Träumen des Dichters, in den Schöpfungen des Künstlers, in den Entwürfen des Staatsmannes; in den Entbehrungen der Einsamkeit und in den Täuschungen des gewöhnlichen Lebens; in der Ehe und in der Familie, in der Geburt und in der Erziehung; im Beginn und in dem Ende jeglicher Unternehmung; in unsern Sorgen und Freuden, namentlich in unsern Freuden, in der Entwicklung dieses stets dahinschwindenden Lebens, das sich wie eine Fackel nur unter der Bedingung, sich selbst zu verzehren, erhält; sie athmet selbst in der Natur, im Thiere, das ermattet ist, in der Blume, die verwelkt, in dem Blatte, das fällt, in dem Wasser, das dahinfließt, in dem Tage, der sich neigt, in der Jahreszeit, die sich erneuert, kurz, in diesem unaufhörlichen Wechsel, aus dem das rastlose Treiben der Wesen besteht, indem eins das andere verdrängt, eins dem andern nachfolgt, eins sich vom andern ernährt.
Nehmt diese Rede nicht für eine Elegie des Lebens, es ist nicht seine Elegie, sondern seine Geschichte. Die Phantasie des Dichters thut gerade das Entgegengesetzte; sie verschönert das Leben, ehe sie es kennt, und lächelt zu einem Gemälde, dem die wirkliche Welt ihre Farben nicht geliehen hat. Zeigt mir ein Herz, welches vom Leben noch seine volle Befriedigung erwartet: ich sage euch im voraus, dann ist's irgend ein Jüngling, der seine ersten Schritte im Erdenthale wandert und seine erste Blume pflückt, oder ein junger Künstler, der sein erstes Meisterwerk träumt; oder ein junger Dichter, der seine ersten Verse singt, oder vielleicht ein glückliches Paar, das seinen Wonnemond verlebt. Nun wohlan, o Jugend, die du selbst in deinen Täuschungen liebenswürdig bist, geh, mache deine Erfahrungen, so lange sie noch zu machen sind; versöhne, wenn du kannst, das Aeußere mit dem Innern; sättige dein Auge im Sehen, und dein Ohr im Hören; befriedige bis ans Ende diese Wißbegierde, die dich verzehrt; entdecke den einzigen Gegenstand, der in jeglicher Beziehung deinem Bedürfniß zu lieben entspricht; verwirkliche das sittliche Ideal, nach dem dein innerer Mensch strebt, kurz, finde das Gute, nach welchem dein Herz verlangt, und hast du es gefunden, so halte es fest, recht fest, und dann komm, um mich Lügen zu strafen; ich erwarte dich. Aber wir, wir reifen Menschen, wir haben unsere Erfahrungen gemacht. Wir finden nichts, was sie in dem so tief traurigen, aber nicht minder wahren Anfangsworte des Predigers übertrifft; wir sagen mit ihm: „Eitelkeit der Eitelkeiten, Alles ist eitel. Ich habe Alles geschaut, was unter der Sonne geschieht, und siehe, Alles ist Eitelkeit und Geistesqual. Ich habe alle Werke betrachtet, die meine Hände gemacht hatten, und alle Arbeit, mit der ich mich abmühte, indem ich sie schuf, und sieh, Alles ist Eitelkeit und Geistesqual. Darum habe ich dies Leben gehasst, ich bin aller Dinge, die unter der Sonne geschehen, überdrüssig geworden, denn Alles ist Eitelkeit und Geistesqual.“ Wir haben gebeten und nichts erreicht, wir haben geschrieen und man hat uns nicht geantwortet: - uns dürstet! Alles, was wir in die Leere unsers Herzens warfen, hat diese Leere nur vergrößert; Alles, was wir versuchten, um seine Wünsche zu befriedigen, hat nur dazu gedient, sie zu reizen, - uns dürstet! Das Leben hat uns nicht allein nicht gesättigt, wir rechnen auch nicht mehr darauf, daß es uns jemals sättigen werde; wir haben zu gut erkannt, daß es nicht besitzt, was wir verlangen; darum fordern wir nichts mehr von ihm, - uns dürstet. Als Lohn aller unserer Bemühungen und am Ende aller unserer Seufzer haben wir ein dürstendes und schmachtendes Herz einem Leben gegenüber, das erst aufgehört hat, uns Täuschungen zu bereiten, als es aufhörte uns zu befriedigen, - uns dürstet fortwährend und immermehr.
Dieser beständige Widerspruch zwischen dem Herzen und dem Leben ist auf die Dauer unerträglich; sich dabei beruhigen, ist unmöglich, wir müssen uns um jeden Preis von ihm befreien. Um dies aber zu können, hat der Mensch nur die Wahl unter zwei Mitteln: entweder muß er ein Leben entdecken, welches sich über den Standpunkt des Herzens erhebt, oder wenn ein solches Leben nicht existirt, das Herz zum Standpunkt des Lebens erniedrigen.
Das Herz zum Standpunkt des Lebens erniedrigen ist das gewöhnliche Mittel, zu dem Neunzehntel des menschlichen Geschlechts ihre Zuflucht nehmen. Das Herz ist zu groß für das Leben? Nun gut, so muß man es so lange niederdrücken, bis es sich mit seinen Forderungen nach den Gaben des Lebens richtet, wie man die zu üppigen Zweige eines Baumes so lange beschneidet, bis sie mit den Baumgängen zu Versailles eine Linie bilden, oder wie der barbarische Prokustes die Glieder seiner Opfer so weit verkürzte, als sie über das Maß seines Bettes hinausgingen. - Unser physisches Wesen hat ein Empfindungsvermögen, welches eben so süßer als seiner Genüsse fähig ist, aber es findet in den irdischen Dingen keine seiner Würde genügende Befriedigung. Nun gut, so muß man sich mit Wenigerem zufrieden geben und den bewundernswerthen Leib des Menschen auf die Verhältnisse des Thieres zurückführen, das sich auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse und Begierden beschränkt. - Unser Geist hat eine Fähigkeit zu forschen und zu erkennen, die niemals müde wird zu suchen und nirgends die Stätte ihrer Ruhe zu entdecken vermag; nun gut, so muß man ihn von dieser lästigen Wißbegierde entwöhnen, den Durst nach Erkenntniß in den Eifer für Handelsspeculationen oder politische Verhandlungen verkehren und die getäuschte Denkkraft darin üben, sich ohne Ziel und Erfolg um sich selbst zu drehen, wie das unglückliehe Eichhörnchen dazu verurtheilt, sich durch die unbewegliche Bewegung des Rades, das ihn, als Käfig dient, selbst zu betäuben. - Unser Herz hat eine Fähigkeit zu lieben, welche dadurch, daß die besten unter den Kreaturen sie nicht befriedigen können, nur gereizt wird; nun gut, so muß man der Liebe Lebewohl sagen; man muß sich ein leichteres Herz erwerben, man muß mit dem erhaltenen Maß derselben ungefähr so zufrieden sein, wie, verzeiht mir meine etwas gewöhnlichen Vergleichungen, wie der Stier oder das Pferd an seiner Alltagskost sich genügen läßt. - Unser Gewissen hat eine Fähigkeit zu heiligem Gehorsam, die für ihren erhabenen Flug nichts als zu hoch erkennt, aber die es nie versuchen kann, sich aufzuschwingen, ohne bei jedem Schritt gegen die auf dem Grund der Seele verborgenen Fallstricke oder gegen die Eingebungen des Teufels oder gegen Grundsätze einer verderbten Gesellschaft anzustoßen; nun gut, so muß man ihm die Flügel beschneiden und eine eingebildete Vollkommenheit betrauern; so muß man sich damit begnügen zu leben, wie alle Andern leben und zufrieden sein, wenn man nur die Verirrungen einer groben Sinnlichkeit, eines schmutzigen Geizes, einer thörichten Verschwendung oder einer schamlosen Selbstsucht vermeidet.
Man sagt sich dies nicht Alles, aber man handelt in diesem Geiste; man setzt sich dies unedle Ziel nicht, aber man strebt dahin vermöge eines unbestimmten Instinktes; ach, und man kommt doch endlich dahin. So bilden sich, ich müßte eigentlich sagen, so mißbilden sich - Menschen, denen, um Menschen zu sein nichts mehr fehlt, als daß sie Menschen sind; Menschen, die sich unvermerkt des göttlichen Ebenbildes, das ihrem Innern als Stempel aufgedrückt ist, berauben, um dem Bilde des gefallenen Geschlechts zu gleichen, in dessen Mitte sie sich versetzt fühlen; Menschen, die, wie sie sagen, sich eine Vernunft zu bilden verstanden haben und die von Gefühl, Wißbegierde, Liebe und Heiligkeit sich nichts anders bewahrt haben, als was oben schwimmt, den bloßen Schaum. Ein einziger Mensch, der sich also hat entstellen lassen, ist schon ein gar trostloser Anblick; was sollen wir aber von einem ganzen Geschlechte sagen, wenn es so weit herabgesunken ist, daß es an sich selber diese schimpfliche Erniedrigung vollzogen hat? Und doch, welch anderes Bild stellt denn die Welt dar als die beständige und endlose Bewegung einer Menge, die, um sich mit dem Leben zu versöhnen, sich das Herz ausgerissen hat? Erheben sich auch aus dieser Menge einzelne auserwählte Geister, die lieber alle Qualen, die der Durst verursacht, leiden wollten, als daß sie sich durch Selbsterniedrigung von aller Pein befreien, können selbst diese Wenigen sich schmeicheln, daß sie diesen edlen Entschluß bis zu Ende ausführen? Gibt es nur Einen, der ganz und. gar vor diesem allgemeinen Falle gesichert ist, nur Einen, der sich nicht in gewisser Beziehung dadurch erniedrigt hat, daß er sich der Gewohnheit, dem Beispiel, der Meinung, der Nothwendigkeit, kurz dem, was ist, weil es ist, fügt?
Drücken wir jedoch die menschliche Natur nicht ganz zu Boden: sie ist hier mehr des Mitleids als des Unwillens werth. Noch einmal, die Macht der Dinge zieht das Herz fort und verurtheilt es, sich mit dem Leben zu versöhnen, und es bleibt uns kein anderes Hilfsmittel, als stufenweise unser Herz in der erstickenden Atmosphäre des Lebens zu dämpfen, es sei denn, daß wir ein Mittel fänden, das Leben an der milden Wärme des Herzens zu erneuern. Anstatt das Herz zum Standpunkte des Lebens zu erniedrigen, sollten wir das Leben zu dem Standpunkte des Herzens erhöhen, - das wäre die einzige unser selbst würdige Lösung dieses schrecklichen Räthsels, weil sie allein uns befriedigen kann, ohne uns zu erniedrigen. Aber ist diese Lösung möglich? Sie ist möglich, weil sie möglich sein muß. Sie ist möglich, denn irgend etwas in uns, das von Gott kommt, sagt es uns. Sie ist möglich, denn Gott versichert es uns durch Seinen Sohn, Sein zweites Selbst: „Wen da dürstet, - was soll der thun? seinen Durst zurückdrängen? nein, ihm freien Lauf lassen und ihn stillen in Jesus Christus, - wen da dürstet, der komme zu Mir und trinke.“ Gott sei Dank, es gibt also ein Leben, welches alle Bedürfnisse des seinem edelsten Verlangen wiedergegebenen menschlichen Herzens befriedigt; dies Leben aber ist in Jesus Christus, und in Ihm theilt es sich uns Allen durch den Glauben mit.
Wer hat unter allen Menschen, die unsere Erde betraten, in seiner Person das Beispiel, sagen wir lieber, das vollendete Vorbild des Friedens und der innern Harmonie gegeben? Ihr antwortet: „Der Mensch Jesus Christus.“ Das ist der Name, welchen Paulus dem Sohne Gottes gibt, wie er Ihn anschaut in der demüthigen Vollkommenheit seiner menschlichen Natur. Dieser Friede, diese Harmonie setzt voraus, daß das Herz des Menschen Jesus Christus, im Unterschiede von dem unsrigen, ein Leben gesunden hat, welches ihm in jeder Beziehung entsprach. Und welcher Art war dies Leben?
Es war nicht das irdische Leben. Wenn wir uns das irdische Leben betrachten, so war der Mensch Jesus Christus derjenige unter allen Menschen, in welchem der Bruch, den ich so eben zwischen Bedürfniß und Befriedigung geschildert habe, sowohl der vollständigste als auch der am tiefsten empfundene hat werden müssen. Denn Niemand hatte ein so großes Herz; für keinen Andern war das Leben so bitter. Jesus Christus, den Pilatus mit den Worten: „Welch ein Mensch!“ treuer geschildert hat, als er selbst dachte, Jesus Christus ist nicht nur ein Mensch, sondern der Mensch, der menschlichste der Menschen; der Mensch, in welchem die Menschheit sich ganz darstellt, der die unterscheidenden Eigentümlichkeiten derselben in ihrer höchsten Vollendung in sich trägt. Alle Theile Seines Wesens, das Gewissen, das Herz, der Geist, der Körper selbst, waren mit einer so auserlesenen Tüchtigkeit und Feinheit ausgestattet, daß Er, indem Er mehr als jeder Andere den der normalen Menschheit dargebotenen Annehmlichkeiten oder - darf ich sagen - Genüssen sich erschloß, auch mehr als jeder Andre dem Gefühl der Bitterkeiten und den der gefallenen Menschheit bestimmten Entbehrungen ausgesetzt war. Daher entschlüpfte auch diesem Menschensohn, als Er an das äußerste Ziel, wo Alles für Ihn und durch Ihn erfüllt wurde, angelangt war, dieser seit tausend Jahren durch die göttliche Schrift angekündigte Seufzer: „Mich dürstet!“ Muß ich es noch sagen: dieser Seufzer drückt mehr aus als ein materielles Bedürfniß, dem ein wenig auf unsrer armen Erde gesammeltes Wasser abgeholfen hätte, der physische Durst Jesu ist das Sinnbild eines Durstes, der verborgener und größer ist, eines Durstes, der Sein ganzes menschliches Sein durchdringt. Der Durst nach Glück, nach Licht, nach Liebe, nach Heiligkeit, kurz, alle Arten des Durstes, der uns verzehrt, finden in Ihm ihren Höhepunkt, und Keiner empfand jemals so wie Er das Bedürfniß, eines ungetrübten Daseins sich zu freuen, in das leuchtende Antlitz der Wahrheit zu schauen, ohne Rückhalt zu lieben und geliebt zu werden, und in der innigsten Gemeinschaft mit Gott Seine Beseligung zu finden.
Ist dieser Durst, dieses Verlangen aller Verlangen gestillt worden? Ach, ein in Essig getauchter Schwamm ist Alles, was der göttliche Gekreuzigte in Seinem Todeskampfe von Seinen Henkern erlangt! Die Schrift hat es vorausgesehen; an derselben Stelle heißt es: „Sie haben mir Galle gegeben zur Speise und in meinem Durste haben sie mich mit Essig getränkt.“ Diese Galle, dieser Essig, sie sind das Sinnbild der Antwort, welche die Erde dem Durste gibt, welcher den Menschensohn verzehrt. Seinem Durst nach Glück entspricht sie durch den Becher, den Er Seinen Lippen nicht kann nahe kommen sehen, ohne daß Er ausruft: „Vater ist's möglich, so laß diesen Kelch an mir vorübergehn!“ Dem Durste nach Licht entspricht sie durch die Finsterniß, welche das Antlitz der Sonne verschleiert, ein geheimnißvolles Unterpfand der Dunkelheit, welche in jener finstern Stunde die Pläne der göttlichen Gerechtigkeit verhüllt und in denen selbst der Sohn Gottes sich kaum zurechtfinden kann: „Wende Dein Angesicht nicht von Deinem Diener! Mein Herz ist unruhig, selbst das Licht meiner Augen verläßt mich.“ Dem Durst nach Liebe, die sich durch ihr Sühnopfer auf die verfluchte und verlorene Welt ein Anrecht erworben, entspricht diese undankbare Erde durch die Gleichartigkeit, die sich von dem Opfer abwendet, durch die Feigheit, die Ihn verläßt, durch die Treulosigkeit, die Ihn verräth, durch den Haß, der Ihn verdammt, durch die Wuth, die Ihn erwürgt: „Sie haben meine Hände und Füße durchbohrt… Selbst der, welcher mit mir Frieden hatte, hat seinen Fuß wider mich erhoben… Ich habe auf Jemand gewartet, der Mitleid mit mir hätte, aber es ist Keiner dagewesen; ich habe auf Tröster gehofft, aber ich habe keinen gefunden.“ Und wenn Er sich endlich in den Schoß Seines Gottes und Vaters flüchtet, um Seinen Durst nach heiliger Gemeinschaft mit Seinem Gott und Vater zu stillen, so wälzt die Erde zahllose und maßlose Sünden auf sein unschuldiges Haupt, Sünden, welche die volle Rache des Himmels auf Ihn herabrufen und mit unerträglicher Schwere selbst auf dem Gebete Seiner Seele lasten. „Meine Missethaten gehen über mein Haupt, sie sind zu schwer, als daß ich sie tragen könnte… Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen, warum lässest Du ab von meiner Befreiung und von den Worten meiner Klage.“
Wenn das irdische Leben aber den Durst des Menschen Jesus Christus nur reizt, ohne ihn zu stillen, welches ist denn endlich jenes andere Leben, das Seinen Durst löscht, Ihn tränkt, mit Frieden und Versöhnung Ihn überströmt? Dies andere Leben ist das, vom welchem der sechzehnte Psalm spricht: „Du wirst nicht zugeben, daß Dein Heiliger die Verwesung sehe, Du thust mir kund den Weg des Lebens, Freude die Fülle vor Deinem Angesicht und liebliches Wesen zu Deiner Rechten in ewigem Bestand;“ es ist das Leben, welches Ihm der Vater für das Opfer Seines irdischen Lebens im Jesaias verspricht: Nachdem er Sein Leben zum Opfer dargebracht hat, wird er Seine Tage verlängern;„ kurz, es ist das Leben, durch welches uns der Apostel das Geheimniss, wie er dem Leben und der Herrlichkeit der Welt entsagen konnte, kund thut: „Lasset uns aufsehen auf Jesum, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, welcher für die ihm vorgehaltene Freude erduldete das Kreuz und achtete der Schande nicht und ist gesessen zur Rechten auf dem Stuhl Gottes.“ (Hebr. 12, 2). Mitten im irdischen, durch den Glauben verklärten Leben entdeckt Jesus ein Leben höherer Ordnung, in welches die nächste Zukunft Ihn einführen wird, ein Leben, das für Sein Herz gemacht ist, wie Sein Herz für dies Leben, ein Leben, in welchem jeder Durst ganz nach Gefallen gestillt wird. Dürstet Ihn nach Glück, siehe, „in diesem neuen Leben ist Freude die Fülle vor Gottes Angesicht und liebliches Wesen zu Seiner Rechten in ewigem Bestand.“ Dürstet Ihn nach Licht, siehe, hier sind alle Schleier gefallen, und die Fülle der göttlichen Wahrheit leuchtet in Ihm und für Ihn. Dürstet Ihn nach Liebe, siehe, hier ist der Kreis Seiner Erkauften, die Ihm Liebe um Liebe vergelten und unter sich und mit den heiligen Engeln das Wort der Liebe, das sie von Ihm gelernt haben, verkünden. Dürstet Ihn nach der Gemeinschaft mit Gott, siehe, hier ist der Vater, der Seinen Sohn mit Seiner unauslöschlichen Liebe überschüttet, und der heilige Wille des Vaters, wie ihn der Sohn in der freigewordenen und erneuerten Schöpfung erfüllt. Mag dem Durste des gekreuzigten Menschensohnes die Erde nur Galle und Essig bieten, schaut ein wenig mehr in die Höhe, und ihr seht, wie der Himmel Segen herabschüttet die Fülle, wie er sich in vollen Strömen ausgießt in die göttliche Natur des Menschensohnes, den die Schmerzen des Fleisches und das Opfer des Kreuzes nur gemartert haben, um Ihn zu erhöhen.
Das ist Derjenige, der euch, die euch heute dürstet, wie Ihn gedürstet hat, sagt: „Wen da dürstet, der komme zu Mir und trinke.“ Dies ewige Leben, in welchem Er die Harmonie Seines Daseins, die das irdische Leben vernichtete, wiederfindet, dies Leben hat er nicht blos für sich errungen, sondern auch für die armen, verlorenen Kreaturen, die das Leben durch die Sünde verunstaltet und die Erde in Verwirrung gebracht haben! Wollten sie nur an Ihn glauben, wollten sie sich ohne Rückhalt in die Arme dieses Gottessohnes werfen, der Menschensohn geworden ist, um sie zu erkaufen; wollten sie nur nichts Anderes wissen als Jesum Christum, den Gekreuzigten, keine andere Gerechtigkeit als Seinen Gehorsam, keine andere Sühnung als Sein Opfer, kein anderes Heil als Seine Gnade, Seine freiwillig dargebotene Gnade! Mehr bedürfen sie nicht, als daß Er mit ihnen theilt, was Er vom Vater empfangen hat und was Er ihnen anstatt des Todes, den sie über Ihn verhängt haben, mittheilt, das ewige Leben, welches Er für sie erworben hat. Selbst in dem eben erwähnten Psalm, der alle prophetischen Psalmen an prophetischem Blick übertrifft, hat er kaum angefangen, sich des Sieges über alle Seine Schmerzen zu freuen, als er sofort von sich zu Seinen Brüdern übergeht, und sie des Lebens ihres Herzens in dem Leben Seines Herzens vergewissert. „Euer Herz soll ewig leben,“ ein Versprechen, das Er im Johannes nach Verlauf von elf Jahrhunderten wiederholt: „Weil Ich lebe, sollt ihr auch leben.“ (Ps. 22. 26; Joh. 14. 19.) „Wer den Sohn hat. der hat das Leben;“ das Leben des Sohnes ist das Leben, welches unserem Herzen entspricht, kurz das Leben, welches wirklich Leben ist. Damit dies heute mit Christus in Gott verborgene Leben offenbar werde, braucht ihr nur bis morgen zu warten. „Wenn Christus, euer Leben sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit Ihm in Seiner Herrlichkeit“ (Col. 3, 4). Da, und nur da, in dem zu eurem eigenen Leben gewordenen Leben Christi findet ihr das Leben, das euren verzehrenden Durst stillt.
Euch dürstet nach Heiligkeit, - hier könnt ihr euch sättigen. Oder was könnte noch euren Gehorsam zurückhalten? Das Schauspiel, das ihr vor Augen habt? Ihr habt einen neuen Himmel und eine neue Erde geerbt, wo die Gerechtigkeit unter Jesu Regiment wohnt. Der Versucher? Er kann euch nicht folgen, wohin ihr geht, und hat keinen Theil mehr an euch, weil er keinen Theil mehr hat an Jesu. Eure eigene Sündhaftigkeit? Sie ist dem Geiste Gottes gewichen und erfüllt euch mit dem Maß ohne Maß, welches das Erbe Jesu ist. Eure Umgebung? Ihr seid in der Gesellschaft der Auserwählten der Erde, die von der Sünde frei geworden sind, der Engel des Himmels, welche sie nie gekannt haben, vor allen in der Gesellschaft Jesu selbst, den Alle anbeten und dem ihr gleichen werdet, weil ihr Ihn sehen werdet, wie Er ist. Rein wie Er, eins mit Ihm wie Er eins ist mit dem Vater, dürstet und hungert Euch nach der Gerechtigkeit nur noch, auf daß ihr gesättigt und „erfüllt werdet mit aller Gottesfülle“ (Eph. 3, 19). Euch dürstet nach Liebe, - hier ist genug, um euch zu sättigen. Hier auf Erden konntet ihr kein Wesen finden, das so liebenswürdig war und so liebte, um der Liebesfähigkeit eures Herzens zu entsprechen; aber diesem Menschensohn gegenüber, der im Himmel thront, der so liebenswerth ist, daß er die Wonne der ewigen Liebe ausmacht, der bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze liebt, Ihm gegenüber ist die Schwierigkeit gerade entgegengesetzt. Ihr sucht vergebens ein Herz in euch, das alle Liebe fassen kann, die Er euch einflößt und die nach allen Seiten überströmt, ohne von der Liebe zu reden, die künftighin nach Ihm und in Ihm auch die geheiligten und nach Seinem Bilde umgewandelten Kreaturen in euch erwecken werden. Im Schoß dieser himmlischen Familie, von der keine Familie auf Erden eine Vorstellung zu geben vermag, lebt ihr in der Liebe, lebt ihr von der Liebe, werdet ihr Liebe sein wie Gott selbst. Euch dürstet nach Licht, - hier könnt ihr euch sättigen. Wenn ihr diesen Jesus, in welchem alle Schätze der Weisheit und der Erkenntniß verborgen sind, Tag für Tag fragen könntet, was würde dann noch eurem Verlangen nach Erkenntniß fehlen! Denn so wie es sich fühlbar macht, ist es auch schon befriedigt. Nun könnt ihr euch täglich mit Ihm unterreden, Ihn täglich nach Gefallen fragen, Ihn, den Verherrlichten, der nicht mehr ist, was Er in den Tagen Seines Fleisches war, als Seine Jünger Ihn fragten und dies sterbliche Fleisch sich zwischen sie und Ihn stellte; ihr verherrlicht mit Ihm, frei von den Banden eures irdischen Leibes, der - so groß ist seine Unzulänglichkeit - oft mehr Hindernisse als Hilfe darzubieten und die Wahrheit oft mehr zu verhehlen als zu entdecken scheint. Ja, Christus verspricht euch noch mehr: „Dann werdet ihr Mich nichts mehr fragen,“ so sehr ist es wahr, daß sich dann nichts mehr euren Nachforschungen oder, richtiger gesagt, eurem von dem lebendigen Lichte Gottes erfüllten Schauen wird entziehen können. Euch dürstet endlich nach Glück, und zwar nach einem Glück, welches den ganzen Menschen befriedigt, - hier könnt ihr euch sättigen. Das Glück, welches Jesus euch an der Stätte aufbehalten hat, wohin Er gegangen ist, um es euch zu bereiten, ist für den ganzen Menschen, sowohl für seinen wiedererstandenen Leib als für Seinen verklärten Geist. Die Philosophie konnte euch nur - wenn sie anders etwas zu versprechen wußte - eine kalte Unsterblichkeit verheißen, wo die von dem Körper getrennte Seele höchstens ein unvollständiges und unbegreifliches Dasein zu erwarten hatte, ein Dasein, in welchem sie sich bei dem Ringen nach diesem zweiten verlorenen Selbst zu verzehren scheint; das Evangelium Jesu aber ruft euch zu einer vollständigen Auferstehung in einem Körper, den der Apostel einen himmlischen, glorreichen, unverweslichen, kurz einen geistigen Leib nennt, gleichsam als ob er daran verzweifelte, ihn anders als durch einen unerklärlichen Widerspruch erklären zu können; in einem Körper, dessen erhöhte und verklärte Kräfte mit gleicher Fähigkeit der Ehre Gottes und eurer eigenen Wohlfahrt dienen; kurz, in einem Körper, den ihr nährt mit einer neuen Speise im Himmelreich, sitzend an einem Tisch mit Abraham, Isaak und Jakob, und von Angesicht zu Angesicht schauend den Anfänger und Vollender eures und ihres Glaubens, Was soll ich noch mehr sagen? Zu dieser unerschöpflichen Quelle von Heiligkeit, Liebe, Licht und Freude in Jesus Christus euch neigend, braucht ihr euch nur zu bücken, um mit vollen Zügen Alles zu trinken, wonach euch dürstet. Alles, wonach euch künftighin wird dürsten können.
Jedoch, warum suche ich Dinge zu schildern, die kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und die in keines Menschen Sinn gekommen sind? Halten wir uns an das Wort unseres Heilandes. „Er weiß, woraus wir geschaffen sind,“ Er kennt diesen Durst, den Er mit uns zu theilen auf die Erde kam; Er verspricht uns, daß wir gesättigt werden sollen, - das möge uns genügen. Und das verspricht Er uns nicht erst heute. Er versprach es gestern in der herrlichen Sprache der ersten Propheten, als Er Sein erstes Kommen auf Erden ankündigte: „die Elenden und Armen suchen Wasser, und ist keins da; ihre Zunge vertrocknet vor Durst, Aber Ich, der Herr, will sie erhören; Ich, der Gott Israels, will sie nicht verlassen. Ich will Ströme aufthun auf kahlen Höhen und Brunnen mitten in den Thälern; Ich will die Wüste zum Wassersee machen und das dürre Land zu Wasserquellen (Jes. 41, 17. 18). Er wird es euch morgen versprechen in den lieblichen Einladungen des Apostel-Propheten, in welchen Er Sein zweites Kommen auf Erden verheißt. „Ich will dem Durstigen geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst. Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es höret, der spreche: Komm! Und wen da dürstet, der komme, und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst. Es wird sie weder hungern noch dürsten; denn das Lamm, das in der Mitte des Thrones ist, wird sie weiden und sie leiten zu lebendigen Wasserbrunnen“ (Offenb. 21, 6; 22, 17; 7, 16. 17). Was bedürfen wir mehr? Versuchen wir es mit den unvollkommenen Mitteln, über die wir heute verfügen, um uns Alles vorzustellen, was die ganze Leere unseres Herzens ausfüllen kann; aber sprechen wir, wenn wir es gethan haben: „Gott kann überschwänglich thun über Alles, was wir bitten oder verstehen.“ Denn so viel der Himmel höher ist denn die Erde, so viel höher ist auch im Vergleich zu unsern glühendsten Wünschen und kühnsten Hoffnungen die glorreiche Wirklichkeit, die wir in und bei Jesus an dem Tage finden werden, wo diese fleischliche Hülle, die uns von ihm trennt, in Staub zerfällt. Gib dich darum, o Seele, ohne Furcht dem Verlangen hin, der dich durchglüht; breite aus deine Schwingen in dem endlosen Raum, öffne weit Herz und Mund! Wünsche, bitte, rufe, und verzweifle nicht mehr, daß du in der Unendlichkeit die Sättigung wirst erlangen können, welche dem zukünftigen Leben verheißen und von Gott Seinem Christus und von Seinem Christus dir vorgehalten worden ist. „Wen da dürstet, der komme zu Mir und trinke!“ -
Ja, morgen, aber heute? Warum zwischen unserm Herzen und diesem himmlischen Dasein, in welchem es gesättigt werden soll, die Scheidewand dieses irdischen Lebens, welches so grausam die ersehnte Sättigung verhindert, welches wohl kurz ist im Verhältniss zur Ewigkeit, aber so lang in der Zeitlichkeit, besonders wenn man leidet; dieses Lebens, welches leichter zu ertragen ist wegen der Schmerzen, von denen es überströmt, als wegen der Leere und Unvollkommenheit, die es einem Wesen darbietet, das nur in der Fülle und Vollkommenheit Ruhe finden kann? Auf diese Frage könnte ich entgegnen, daß die Sünde das Werk des Schöpfers getrübt hat, und daß sie erkannt werden muß, wenn sie wieder gut gemacht werden soll; aber halten wir uns hier an eine glücklichere und dem Geiste meines Textes angemessenere Antwort, Das irdische Leben verschiebt das himmlische Leben nur, um es vorzubereiten, es ist nicht seine Scheidewand, sondern seine Lehr- und Vorbereitungszeit.
Wiederum ist es der Mensch Jesus Christus, in welchem man diesen eben so lehrreichen als tröstenden Glaubenssatz erforschen muß. Wie schlecht hätte der das Evangelium begriffen, welcher in dem irdischen Leben Christi nichts als ein Hinderniß oder eine Verzögerung der Entwicklung Seines göttlichen Lebens zu finden wüßte! Das Evangelium läßt uns in dem einen das Vorspiel oder vielmehr die Bedingung des andern erblicken. Wegen des Todes, den Er erduldete, ist Christus mit Ruhm und Ehre gekrönt worden; weil Er sich erniedrigt hat bis zum Kreuze, ist er so hoch erhoben worden, hat Er einen Namen erlangt, der über alle Namen ist; und die Frucht der Arbeit Seiner Seele auf Erden ist es, die Ihn sättigen wird bis in alle Ewigkeit, Er weiß dies sehr wohl, und dieser Gedanke versüßt Ihm die Qualen Seines irdischen Daseins, oder richtiger gesagt, dieser Gedanke flößt ihm eine himmlische Ungeduld ein, die lange Reihe der Schmerzen, durch die Er hindurchgehen muß um in Seine Herrlichkeit einzugehen, zu durcheilen und zu erschöpfen, indem er so die Freude über die Vollendung Seines Werkes nur verschiebt, um sie zu reifen und zu erhöhen. Seinem Naturtriebe nach stößt Er den Kelch zurück, aber zu gleicher Zeit dürstet Ihn nach demselben, um Seine Sendung auf Erden zu erfüllen; und wenn Er ruft: „Vater, laß diese Stunde an mir vorübergehen,“ so fügt Er alsbald nach einem entgegengesetzten Gefühl hinzu: „Muß ich nicht solches Alles leiden? Vater, verherrliche Deinen Namen!“ Ihn dürstet nach dieser Schmerzenstaufe, mit der Er getauft werden muß: „Ich muß mich taufen lassen mit einer Taufe, und wie drängt es mich, bis sie vollendet ist“ (Luc. 12, 50). Ihn dürstet nach dem letzten Ostermahl, das eine bildliche Darstellung Seines Opfers sein und demselben einige Stunden vorangehen muß: „Mich hat herzlich verlangt, dies Osterlamm mit euch zu essen, ehe ich leide.“ Ihn dürstet nach der schnellen Ausführung der Verschwörung, die Ihn in die Hände der Missethäter überliefern soll. „Was du thust,“ sagt er zu den, Verräther Judas, „das thue bald!“ Kurz. Ihn durstet nach dem Willen Gottes, der in dem Opfertode am Kreuze seine Erfüllung erreicht: „Meine Speise ist die, daß ich thue den Willen Deß, der mich gesandt hat, und Sein Werk vollende;“ und dies ist ein Durst, den Er schon lange durch die Weissagung kundgethan hatte: „Siehe, ich komme; Deinen Willen, mein Gott, thue ich gern, und Dein Gesetz ist in meinem Herzen.“ (Ps. 40,8.9.) Während Christus also erwartet, Seinen Durst in der zukünftigen Freude stillen zu können, stillt Er ihn zuvor in dem Leiden, welches der Preis dieser Freude ist.
Dieser Gesichtspunkt ist noch zu oberflächlich. Dringen wir tiefer ein in die Weisheit des göttlichen Rathschlusses, dessen Theile sämmtlich so wunderbar mit einander verbunden sind. Die himmlische Freude des Menschen Jesus Christus ist nicht blos der Preis Seines irdischen bittern Leidens, sondern sie ist auch die Frucht desselben; die Freude hängt mit dem Leiden nicht blos zusammen, wie etwa der Lohn mit der Arbeit, sondern wie die Entwicklung mit dem Keime. Die Schrift erkennt zwischen der Gegenwart und der Zukunft einen natürlichen, einen nothwendigen Zusammenhang an. „Was der Mensch gesäet hat, das wird er ernten.“ Betrachtet man das himmlische Leben des Gottmenschen Jesus Christus und Sein irdisches Leben in ihrer tiefsten Wesenheit, so verbinden sie sich mit einander, so gehen sie in einander über; denn Sein himmlisches Leben ist nur die freie Entfaltung des Geistes Gottes, der Ihn schon ohne Maß in Seinem irdischen Leben erfüllt, jedoch im Fleische noch gehemmt ist. Dieser Geist, welcher allein den Durst des inneren Menschen löscht, ist in der Schrift unter dem Sinnbilde des Wassers, welches den Durst des physischen Menschen stillt, dargestellt, und zwar hauptsächlich im Evangelium Johannes, welches sich darüber besonders in Worten, die unserm Text folgen, also ausdrückt: „Er sagt dies von dem Geiste, den die empfangen sollten, die an Ihn glauben würden.“ Voll dieses Geistes ist Jesus, der zuerst in Seiner menschlichen Natur Alles, was Er in der Menschheit erfüllen wollte, verwirklicht hat, so sehr mit Seinem Vater eins, und in so sichern, Besitz des Himmelreichs, daß Er den Himmel auf die Erde bringt und mitten in der Zeitlichkeit schon in der Ewigkeit lebt. Aus diesem Grunde findet Er bereits hier auf Erden das Mittel, die Bedürfnisse Seines Herzens in allen Schicksalen Seines irdischen Lebens zu befriedigen. Er schaut sie in Gott an, der sie alle nach einander angeordnet hat; und weil nichts mehr geeignet ist, in Ihm das Leben Gottes zu entwickeln, als die Ereignisse, die das Fleisch tödten, um dem Geiste gleichsam einen freien Durchgang zu öffnen, so gibt es auch nichts, wodurch Er den Durst, der Ihn quält, besser löschen könnte. Der Geist, der diesen Durst gar bald in der friedlichen Glorie dort oben stillen wird, stillt ihn schon heute in dem schrecklichen, aber siegreichen Kampfe, den er mit dem Fleische kämpft. Wie der Meister, so die Schüler. Auch für uns ist der gegenwärtige Durst die nothwendige Vorbereitung, die väterliche Erziehung, die in dem künftig gestillten Durste ihr Ziel erreichen soll. Auch für uns sind die Prüfungen, durch welche wir eine kleine Zeit traurig sein müssen, damit unser bewährter Glaube köstlich befunden werde zu Lob, Preis und Ehre in der Offenbarung Jesu Christi, auch für uns sind diese Prüfungen vermischt mit einer unaussprechlichen und ruhmreichen Freude. Auch für uns beginnt das himmlische Leben schon hier auf Erden, unter dem Namen des geistlichen Lebens, durch jenen Geist, mit dem Christus unser Herz überströmt, wie das dürre Erdreich mit den Fluten lebendigen Wassers. Das geistliche Leben ist schon das himmlische, aber noch durch die sichtbaren Dinge verhüllte Leben, und das himmlische Leben ist nichts anderes als das geistliche von dieser Hülle befreite Leben. Dies ist so wahr, daß das Evangelium denselben Namen für dies zwiefache Leben hat, nämlich das ewige Leben, das auf der Erde beginnt, um im Himmel fortgesetzt zu werden, und durch welches derjenige, welcher in Jesus Christus lebt und glaubt, nimmermehr sterben wird. Daher ist auch für uns durch die Prüfungen des Lebens nichts verloren, nichts aufgeschoben; in Thränen wird der köstliche Keim gesäet, dessen Frucht dereinst mit Triumphgesang geerndtet werden soll; das Kreuz allein ist der Weg zur Herrlichkeit, und das schwerste Kreuz ist der kürzeste Weg dahin. Ist eine christliche Seele einmal von dieser Lehre des Evangeliums durchdrungen, einmal beseelt von dem Geiste Christi, so empfindet dieselbe eine Art Freude in den Täuschungen, Entbehrungen und Schmerzen des Lebens, weil sie einen tiefen Durst, einen tiefen Drang in sich fühlt, den diese Täuschungen, Entbehrungen und Schmerzen auf ihre Art befriedigen. Sie lernt mit dem unüberwindlichen Paulus sagen: „Ich bin guten Muthes in Schwachheiten, in Schmach, in Nöthen, in Verfolgungen, in Aengsten, um Christi willen;“ und mit dem sanften Ezechiel: „Herr, durch diese Dinge lebt man, und in Allem, was in diesen Dingen ist, besteht das Leben meines Geistes.“
O welch ein Licht, welch eine Herrlichkeit, welch ein Glück fließt von diesen geistlichen Höhen in das irdische Leben! Wenn man sagt, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, so heißt das sicherlich viel sagen, aber doch nicht Alles, was uns offenbart wird. Es sind nicht allein die Leiden des Lebens, die in heilsame Prüfungen verkehrt sind, der Charakter des ganzen Lebens selbst ist verwandelt, ja, wenn ihr mir den Ausdruck erlaubt, ist verklärt. Das irdische Leben erscheint uns nun nicht mehr also, als wäre es kaum in Erwartung eines besseren zu ertragen; von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, sehen wir es für eben so vollkommen an, wie das himmlische in seiner Art; als Vorbereitung und Erziehung für das himmlische Leben können wir nichts Tauglicheres ausdenken; und würde man ihm nehmen, was heute unsern Durst reizt, so entbehrt es das, was der Zukunft am sichersten eine völlige Befriedigung verbürgt. Das irdische Leben steht zu dem himmlischen Leben ungefähr in demselben Verhältniß wie das Alte Testament zu dem Neuen: Das Alte Testament erscheint seltsam, ohne Zusammenhang, zuweilen hart, bis das Neue kommt, nicht um aufzulösen, sondern zu erfüllen; so bringt auch das himmlische Leben, indem es das irdische erläutert und fortsetzt, Ordnung, Harmonie und Frieden in das Erdenleben.
Und ihr, die ihr dürstet mit einem glühenderen Durste und einem weniger befriedigten, heißerem Verlangen als eure Brüder, ergreift in diesem Allen dargebotenen Troste die reichere Fülle, die euch verheißen ist! Haltet euch nicht ferner mehr für die enterbten Kinder des himmlischen Vaters; an Ihm liegt es nicht, wenn ihr nicht Seine bevorzugten Kinder seid, die am meisten dem Bilde Seines Sohnes gleichen; mit mehr Glauben und Liebe werdet ihr unter euren Schicksalen keins finden, das euch nicht in voraus reiche Tröstung verspricht. Hier sehen wir einen armen Diener Jesu Christi seit Jahren auf ein Schmerzenslager ausgestreckt, dessen Leidenstage endigen, um schlaflosen Nächten Platz zu machen. Nun wohl! Dies ist das Mittel, welches Gott auserwählt hat, um besser seinen Durst zu stillen. Mit einem gesunden Körper und in angenehmerem Leben würde er vielen Schmerzen entgangen sein; aber er würde köstliche Augenblicke verloren haben, um durch Prüfung, Geduld und Gebet sich vorzubereiten, ich sollte sagen, um vorbereitet zu werden zu einem lebendigeren Gefühl einer höheren Glückseligkeit. Siehe, wir halten die für glückselig, welche geduldet haben; aber die, welche heute dulden, werden morgen die sein, welche ausgeduldet haben. Ach, mein Bruder, willst du heute über das murren, was morgen dein Lobgesang sein wird? Und du, meine Schwester, du hast dich innerlich verzehrt durch dies süße und schreckliche Bedürfniß zu lieben und geliebt zu werden; keiner hätte mehr als du die Segnungen des häuslichen Heerdes gepriesen; und diese Freuden sind dir versagt, du bist allein und betrübt. Versagt? aber durch wen? durch ein blindes Geschick? nein, durch eine göttliche Vorsehung, und warum? um dich dessen zu berauben, was Andern in Fülle gegeben ist? nein, um dich vor Allen reich zu machen. Glaube es nur, Gott hat dir etwas besseres vorbehalten, indem Er dich dahin führt, dein Genüge in Seiner Liebe zu suchen und auf Ihn allein deine gerechtesten, edelsten, tiefsten Wünsche zu beschränken. Besäßest du dies Familienleben, das du so sehr dir wünschest, um das du vielleicht Andere so sehr beneidest, so würdest du, das ist wahr, Freuden genießen, die dir jetzt fehlen, Freuden, denen selbst die Mühsal, die mit ihnen verbunden ist, nichts von ihrer tiefen Innigkeit nimmt; aber du würdest auch einer gnädigen Leitung entbehren, die dich durch Entsagung ohne Rückhalt in einer Liebe ohne Schranken üben will. Ihr Alle, ihr armen, kranken, trübsinnigen, erschöpften Kreaturen, ihr beklagt euch - worüber? darüber, daß ihr in den Reihen jener Glückseligen steht, die da weinen, und jener Armen, welche die Reichsten sind, und jener Schwachen, welche die Stärksten sind. Hört mich, oder vielmehr hört euch selbst: möchtet ihr auf der Stelle mit den Günstlingen des Gebens tauschen? Versucht es, Gott von ganzem Herzen zu bitten, wie Jaebez, Er möge euch vor allem Uebel bewahren, daß ihr ohne Sorgen seid (l Chron. 4, 10). Wer weiß, vielleicht wird euer Gebet, wenn ihr mit Bitten anhaltet, erhört werden wie das seinige. Doch nein, ihr unterfangt euch nicht zu bitten wie Jaebez, der, nicht wie ihr, das Evangelium kannte, noch wie ihr, den Heiligen Geist empfangen hatte. Im Grunde des Herzens seid ihr mit mir, oder vielmehr mit Jesus Christus so sehr einverstanden, daß ihr bei dem Gedanken zittert, der Prüfungen enthoben zu sein, die euch ein Vater auferlegt hat, der Seine Menschenkinder nicht gern betrübt.
Muth darum, ihr geliebten, ihr bevorzugten Kinder, die ihr durch den Durst, der euch verzehrt, als solche gezeichnet seid! Im Glauben an Jesus Christus, den Blick fest gerichtet auf die Freude, die euch vorbehalten ist, segnet im Geiste Jesu alle Schmerzen, die euch den Weg zu Ihm bahnen; pflückt mit Bereitwilligkeit, mit Liebe, mit Wonne die kleinste Blume, und wäre es auch die einzige und eine ganz geringe, die Gott unter euren Schritten im Thale der Thränen hat wachsen lassen. Dann werdet ihr durch jene wunderbaren Erfahrungen hindurchgehn, welche David in der Wüste Judas über die Wüste seines Herzens machte. Nachdem ihr angefangen habt mit ihm zu rufen: Meine Seele dürstet nach dir, mein Fleisch verlangt nach dir in einem dürren, kraftlosen, wasserleeren Lande,“ werdet ihr in dem göttlichen Leben etwas über alle Güter des menschlichen Lebens Erhabenes finden: „Deine Gnade ist besser als das Leben;“ und endlich werdet ihr, euch selbst und Allen, was euch umgibt zum Trotz, in den Triumphgesang ausbrechen: „Meine Seele ist gesättigt und mein Mund rühmt dich mit fröhlichen Lippen“ (Ps. 63, 1-6). Also werdet ihr in der sichern Erwartung des Tages, wo der Engel der Offenbarung euch einladen wird, aus der Hand Jesu den Kelch seiner himmlischen Freude zu nehmen, auch gern aus der Hand desselben Jesus den Becher Seiner irdischen Trübsal empfangen. „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“
Könnt ihr einen noch erhabeneren Trost in euch aufnehmen, einen Trost der reinsten Liebe, der nicht aus der Sättigung eures eigenen Durstes, sondern aus der Sättigung des Durstes Anderer geschöpft ist? Uebrigens ist hier das Wort Trost zu schwach, der Ausdruck Herrlichkeit würde besser passen. Denn was gäbe es Herrlicheres, als nicht blos in den Geist Christi, sondern auch in Sein Werk selbst einzugehn und gewissermaßen für eures Gleichen gekreuzigt zu werden. Beeilen wir uns, dies zu erläutern.
Die Frucht, welche Jesu für sich selbst aus Seiner Erniedrigung und aus Seinem Opfer werden sollte, war nicht der einzige Grund Seiner Freudigkeit in Seinen Schmerzen, es war nicht einmal das vorherrschende Gefühl in Ihm. Jesus läßt der Liebe immer den ersten Platz. Nächst der Herrlichkeit Seines Vaters, dessen Namen Er den Menschen offenbaren sollte, beschäftigte Ihn nichts mehr als das Heil derer, die der Vater Ihm gegeben hatte und ohne die weder Seine eigne Ehre noch Seine Glückseligkeit Ihm vollständig zu sein schienen.
„Vater, ich will, daß. wo ich bin, auch die bei mir seien, die Du mir gegeben hast, daß sie die Herrlichkeit schauen, die Du mir gegeben hast“ (Joh. 17, 24). Dieser geheimnißvolle Durst nach seiner Leidenstaufe, nach Seinem letzten Osterlamm, nach dein Leidenskelch zu Gethsemane und nach dem Opfer in Golgatha loste sich - zweifelt nicht daran - in den Durst nach der Sättigung der Seinen aus. Wer kann wissen, welchen Antheil wir noch an Seinem letzten Schmerzensruf hatten: „Mich dürstet!“ dem bald Sein letztes Friedenswort folgt: „Es ist vollbracht!“ Es wird ein Tag kommen, wo Alles mit Herrlichkeit erfüllt sein wird, wie damals Alles von Schmerz erfüllt war, und wo der erste Gebrauch, den Christus von dieser neuen Herrlichkeit macht, der sein wird, daß Er dem Durst der Seinen eine ewige Sättigung darbietet. „Es ist vollbracht. Ich bin das Alpha und Omega, der Anfang und das Ende. Ich will dem Dürstenden geben von dem Brunnen des lebendigen Wassers umsonst“ (Offenb. 21. 6). Uns soll es nichts kosten, aber Ihm, was hat es Ihm gekostet? Gleichviel! Ein Herz wie das Seinige kostet am Kreuze - ich weiß nicht welche bittere Wonne, und zwar in dem Gefühl, nichts zu leiden, was uns nicht Heil bringt, und keine Qual zu dulden, als die, welche Er dadurch Seinen Erkauften erspart!
Fern, fern sei uns jeder Gedanke, an dem Versöhnungswerke Jesu Theil zu nehmen! Welcher Mensch, welcher Engel, welche Kreatur könnte sich ohne Thorheit und Frevel auf diesen dem Sohne Gottes allein vorbehaltenen Boden wagen? Können wir aber nicht leiden, um die Menschen selig zu machen, so können wir wenigstens leiden, um sie zum Heiland zu führen; und für unwürdige Sünder, wie wir sind, ist es glorreich genug, für unsre Brüder gekreuzigt zu werden. Das hat selbst Paulus nicht zu gering geachtet, was sage ich? er ist davon entzückt, wie außer sich; indem er in diesem Geiste sein Leiden mit dem seines Herrn zusammenstellt, spricht er jene merkwürdigen, ich möchte sagen, jene unverständigen Worte: „Nun freue ich mich in meinen Leiden, die ich für euch leide, und erstatte an meinem Fleische, was noch mangelt an den Trübsalen Christi, für Seinen Leib, welcher ist die Gemeine“ (Col. 1, 24). Als wahrer Diener Christi, als wahrer Diener der Kirche, fühlt er sich, indem er vollends erschöpft, was sein Meister und Herr auf dem Gebiete menschlicher Leiden noch konnte unerfüllt gelassen haben, reichlich getröstet, um nicht zu sagen, überreich erfreut, wenn er denkt, daß er nichts erduldet, was nicht zur Vollendung der Heiligen und zur Erbauung des Leibes Christi beiträgt. Diesen Trost aber, diese Freude des Schmerzes, und der Liebe zeigt euch Christus in meinem Text. Kaum hat Er euch im Vertrauen auf eure Liebe versprochen, daß Er in sich euren Durst löschen will: „So Jemand dürstet, der komme zu mir und trinke,“ so verspricht Er euch zugleich, daß ihr selbst den Durst Anderer löschen sollt: „Wer an mich glaubt, von dessen Leibe sollen Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Schon einmal hatte Er dasselbe Versprechen gegeben: „Wer von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten; sondern das Wasser, daß ich ihm geben werde, das wird in ihm ein Brunnen Wassers werden, das in das ewige Leben quillet!“ Rührende Worte, die unser zu einem Propheten gewordener Evangelist uns später in der ergreifenden Scene, welche die Offenbarung schließt, verwirklicht zeigen wird. Wer die Einladung des Geistes und der Braut angenommen hat: „Komm!“ der wird dies „Komm“ auch denen zurufen, die noch nicht gekommen sind, und Niemand wird zu dieser Quelle des Lebens emporsteigen, der nicht seine Hand denen reicht, die ihm folgen, damit auch sie emporsteigen. Ist es nicht unter andern Beziehungen dasselbe Gefühl, welches den heiligen Paulus beseelt, wenn er denjenigen, welcher früherhin gestohlen hat, ermahnt, er möge nun mit seinen Händen arbeiten und schaffen, auf daß er habe zu geben den Durstigen? (Ephes. 4, 28). Im Reiche der Natur wie im Reiche der Gnade ist Geben seliger denn Nehmen, Und die evangelische Liebe hat das Eigenthümliche, daß sie in der Freude des Empfangen nichts so sehr genießt als das Vermögen zu geben.
Der Durst des gesättigten Jesus hat euch gelehrt, in Ihm das geistliche Leben zu suchen, welches das eurige sättigen soll. Nun gut, so gebe euer eigner gesättigter Durst Andern dieselbe Lehre, nicht um sie zu euch zu führen, sondern zu Dem, der euch gesättigt hat und der sie, wenn sie im Glauben zu Ihm kommen, gleichfalls sättigen wird. Diese Lehre aber, und das beachtet wohl, wird um so überzeugender sein, je glühender euer Durst und je mühsamer eure Sättigung gewesen ist. Gehört ihr zu denen, die Gott auserwählt zu haben scheint, um Beispiele eines Durstes zu geben, den nichts zu löschen vermag; habt ihr Schlag auf Schlag rings um euch Alles fallen sehen, was die Wonne eurer Augen ausmachte, um am Ende allein zu stehen auf Erden; bemächtigte sich eurer schon im Beginn der Laufbahn eine düstere Schwermuth, nagt sie an eurem Herzen, lähmt sie eure Kraft, zerstört sie eure Pläne und bringt sie euer Leben in Verwirrung, kurz, ist euer Schmerz ohne Aufhören und eure Wunde ohne Heilung, so wird euer unter solchen Verhältnissen gestillter Durst, gestillt, wie er es sein kann, wie er es sein muß, wenn ihr treu seid, deutlich erkennen lassen, daß man mit Jesus Christus in keiner Sache verzweifeln darf. Und zeigt sich dann auf dem Schauplatz des Lebens irgend Jemand, den da dürstet, der Wasser sucht, aber nicht findet, und der nach langen und vergeblichen Anstrengungen nahe daran ist, in Muthlosigkeit zu erliegen, so wird sich, da er den Namen des Herrn noch nicht kennen gelernt hat, ein anderer Name zwischen ihn und die Verzweiflung stellen, und dieser Name ist der deinige. Wenn er dich anschaut, so wird er sagen: diesen Menschen hat gedürstet wie mich, welches Unglück von Außen, welche Niedergeschlagenheit im Innern hat ihn nicht gedrückt; wie viele Thränen hat er nicht vergossen; wie viele Kämpfe hatte er nicht zu bestehen; wie oft ist er in Versuchung gewesen zu glauben, Alles sei verloren - und doch, - er ist erlöst, zufrieden, heiter! Warum sollte ich das nicht auch erreichen, wenn ich denselben Weg gehe! Sagt er sich dies und thut er, wie er sagt, seid ihr dann nicht in gewisser Beziehung diesem Unglücklichen dasselbe, was Jesus Christus für euch gewesen ist, habt ihr dann nicht für ihn gelitten?
Ich weiß nicht, welchen Eindruck diese Voraussetzung auf euer Herz macht; das meinige erzittert bei diesem Gedanken vor Freude. Stellt an meine Stelle auf diese Kanzel und vor diesen Text einen Schmerzgebeugten, in welchem eine tiefe Betrübniß mehr als gewöhnlich das Bedürfniß erweckt hat. Jesum Christum zu ergreifen, und der mächtiger als gewöhnlich die Leere des menschlichen Herzens empfindet; einen Mann, den eine lange Schmerzenslaufbahn zwiefach vorbereitet hat, um zu euch von Hunger und Sättigung zu sprechen, dessen Reden eindringlicher werden, wenn er seinen Hunger beschreibt, und dessen Beispiel überzeugender, wenn er die Sättigung kostet; einen Mann, der von Gott auserwählt ist, um gleich Ezechiel durch die Wunden seiner Seele und durch die Kämpfe seines Lebens seinen Brüdern als Zeichen zu dienen, - mit welch rührender Weihe wird ein solcher Mann zu eurem Herzen sprechen, und hat er Jemand von euch für Jesum Christum gewonnen, wie viel leichter wird ihm dann sein eigenes Kreuz erscheinen, da er entdeckt, daß Gott es ihm auferlegt hat, um es für euch zu tragen!
Darum, ihr dürstenden Seelen, stillt vollends den Durst, der euch verzehrt, in der Hoffnung, den Durst Anderer zu löschen! Man lerne von euch, daß es keinen Menschen gibt, dessen Durst Jesus nicht stillen kann, da er sogar den eurigen gestillt hat! Möchten alle eure Schmerzen, die ihr erduldet, aber nur beschwichtigt habt, eure Umgebung sowohl über die Bedürfnisse des Menschen als über die Reichthümer in Gott belehren! Und hat euch Gott in die Reihe der Gekreuzigten gestellt, die Er zu sichtbaren Vorbildern des Durstes und der Sättigung erwählt hat, so laßt euch kreuzigen mit Gelassenheit, mit Freude, mit Liebe! Gesättigt und sättigend, umsonst nehmend, um umsonst zu geben, stillt in dem Kelch der Liebe Christi den Rest des Durstes, den der Kelch Seines Lebens und der Kelch eurer Trübsal euch nachgelassen hatte! „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke.“
Ach, wann thäte diese Liebe mehr noth als jetzt? Wann hat man die Einladung meines Textes mehr verkannt? Wann hat je die Welt mehr gedürstet, und wann ist sie zugleich weniger geneigt gewesen, ihren Durst in Jesu Christo zu stillen? Unsere Zeit kennt besser als jede andere den Durst, der sie verzehrt; sie empfindet ihn, sie leidet an ihn, sie bejammert ihn; aber um ihn zu befriedigen, kennt sie nichts Höheres als dieses Leben, welches sie doch nur täuscht und reizt. Sie scheint sich zu schmeicheln, sie würde, wenn sie nur tiefer grübe, im Schooß der Erde die verlorene Quelle Edens wiederfinden. Was sie heute nicht gibt, das verlangt sie morgen von ihr, - als wenn sie nicht Zeit gehabt hätte, die Erfahrungen ihrer Täuschungen innerhalb sechs Jahrtausende zu machen! Was sie dem Einzelnen nicht gibt, das fordert sie von ihr für das ganze Geschlecht, - als wenn das ganze Geschlecht etwas anderes wäre als die Vereinigung der Einzelnen, oder als wenn das persönliche Leben, wenn es nur der Philosophie des Tages folge, in dem Gesammtleben aufgehn könnte! Ach, anstatt Jesu zu folgen in das himmlische Leben, wo Er unsern Durst zu löschen verspricht, schafft man sich einen falschen Jesus, einen irdischen, weltlichen und fleischlichen, um nach Gefallen Seinen verehrten Namen anrufen zu können, ohne Seinen Geboten zu gehorchen. Dies Alles ist ebenso verkehrt als strafbar; vergebens kehrt man die Erde in jeglichem Sinne des Wortes um, sie wird immer nur das geben, was sie hat, und ich versichere euch, sie hat Nichts - Nichts - womit sie den Durst eurer Seele löschen kann. Selbst Eden, wenn wir anders dahin zurückkehren könnten, vermöchte dies nicht; sein kindlich-natürliches Leben würde dem menschlichen Herzen, das der furchtbaren Erkenntniß des Guten und Bösen offensteht, nicht mehr genügen. Es bedarf eines reiferen, männlicheren, ernsteren Lebens, das mehr mit Wasser, und Blut getauft ist, und Jesus allein kann ihm das geben, gestern, heute, ewiglich.
Fasset es wohl: Was Jesus dem Einzelnen sagt, das sagt Er auch den Jahrhunderten: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke.“ Gibt es deshalb ein Jahrhundert, das da dürstet, ein Jahrhundert, das die Wunden der Menschheit ergründet hat. ein Jahrhundert, welches das soziale Problem zu lösen vermeint, ein Jahrhundert, das dazu berufen ist, die Lehren einer reichen Vergangenheit zu sammeln, um eine an Segnungen reiche Zukunft vorzubereiten, ein bewegtes, athemloses, überarbeitetes und ermattetes Jahrhundert, das dennoch groß ist in seiner Mission, glühend in seinen Hoffnungen, unermüdlich in seinen Unternehmungen, kurz ein neunzehntes Jahrhundert, so möge es davon ablassen, seinen Durst in allen Himmelsgegenden und unter allen Zonen zu verkünden; es möge an seinen Theorieen verzweifeln, es möge schweigen, sein Haupt beugen, zu Jesu kommen und trinken! Amen.
Quelle: Sechs Reden von Adolf Monod
mit einem biographischen Vorwort.
Aus dem Französischen
Bielefeld.
Verlag von Velhagen und Klasing.
1860