Mayfart, Johann Matthäus - Himmlisches Jerusalem - X. Von der Größe des himmlischen Jerusalems.

Woher kommt es, dass der Satan bei der Versuchung die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit in einem Augenblick gezeigt hat? Das ist die Ursache, dass alle Ende der Welt in kurze Summen gebracht und auf einmal erzählt werden können.

Als die mächtige Königin von Saba gen Jerusalem gekommen war, setzte sie alles, was sie hörte und sah, in Erstaunen, die himmlische Weisheit, die Köstlichkeit und Schönheit des ganzen Palastes, die Herrlichkeit der Häuser, die weise Ordnung, die schöne Kleidung und geschickte Aufwartung der Diener, die wunderbare Verrichtung der Ämter, die vortrefflichen Speisen, welche täglich auf die Tafeln gebracht wurden. Ihre Verwunderung war so groß, dass sie bekennen musste: Es ist wahr, was ich in meinem Lande gehört habe von Deinem Wesen und Deiner Weisheit, und ich hab' es nicht glauben wollen, bis ich kommen bin und habs mit meinen Augen gesehen; und siehe es ist mir nicht die Hälfte gesagt; denn Du hast mehr Weisheit und Guts, denn das Gerücht ist, das ich gehört habe. Selig sind Deine Leute und Deine Knechte, die allezeit vor Dir stehen und Deine Weisheit hören (1 Kön. 10.).

Gleichermaßen muss die auserwählte Seele sich verwundern über die unaussprechliche Pracht des himmlischen Paradieses. Denn es ist ein Inbegriff aller Wunderwerke, ein Ozean aller Wollüste, ein Schatz aller Schätze. Es ist ein Palast der Gottheit, ein Tempel der Dreieinigkeit, ein Saal der Engel, ein Garten der Seligen, ein Aufenthalt der Auserwählten.

O des schönen Gastes im schönsten Hause! O des schönsten Hauses in der schönsten Stadt! O der schönsten Stadt in dem schönsten Lande! O des schönsten Landes in dem schönsten Reiche! O des schönsten Reiches, in welchem Gott selbst Herr und König ist! Da zieht die auserwählte Seele ein und muss sich vornehmlich über sechs Stücke des Paradieses gar höchlich verwundern, zuerst über seine unberechenbare Größe.

Die Weltweisen und Sternseher haben bemerkt, dass der kleinste Stern des Firmaments gar viel Mal größer sei, als die Erdkugel. Auch haben sie nachgerechnet, dass die drei Erdkreise, und über denselben die zehn Himmelskreise, einer immer zehn Mal größer sei als der andere. Darüber haben sie das Paradies gesetzt. Die Engel und Himmelsbürger wissen es freilich besser. Doch merken wir so viel daraus, dass das Paradies ein unermesslich Reich ist. Und das hat Gott bereitet denen, die Ihn lieb haben. Christus spricht: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.“ Ja, Herr Jesu! in Deines Vaters Hause sind viele Wohnungen, und sind von Anfang der Welt zubereitet und bedürfen nicht erst zugerüstet zu werden.

Kaiser Karl V. rühmte einst die Größe seines Reiches und sagte, die Sonne könne keine Viertelstunde um die Erdkugel laufen, ohne seine Länder zu berühren. Aber was ist selbst dieses große Reich gegen das Paradies? Ein Odemzug gegen den Sturmwind, ein Tröpflein gegen das hohe Meer, ein Körnlein gegen den ganzen Erdboden. Gleichwie nun ein weltlicher Herrscher, der ein Reich ererbt, mit wonniglichem Wohlgefallen in seine Länder schaut und mit immer höherer Freude, je weiter er hinein reist, die Größe derselben erkennt und betrachtet: also muss sich auch die auserwählte Seele mit Verwunderung erfreuen und mit Freuden sich verwundern über die Größe des Himmelreiches, in welches sie als eine großmächtige Fürstin geführt wird.

Mancher König dieser Erde rühmt mit besonderem Wohlgefallen die Größe und Menge seiner Länder; und ist doch noch keiner gewesen, der über den ganzen Erdboden geherrscht hätte. Denn ein wie großer Teil desselben ist von den Wellen des Meeres bedeckt! Wie weite Strecken sind von unwirtbaren Sandwüsten und unwegsamen Wildnissen, von unersteiglichen Bergen und undurchdringlichen Wäldern eingenommen, und werden nicht von Menschen, sondern nur von grimmigen Tieren, schrecklichen Schlangen, giftigem Gewürm und dergleichen Ungeziefer bewohnt! Und in wie viele Reiche ist der übrige Teil zerstückelt! Sollte aber ein König auch aller Reiche des Erdkreises ein Herr werden, was hätte er dann? In Betracht des endlichen Ausganges nur einen Schatten; in Betracht des Himmels aber gar nichts. Der Himmel allein ist das rechte große Königreich, von keinem Meere umflossen, von keiner Wüste umschlossen, von keiner Wildnis umgrenzt, von keinem Gebirge umzäunt. Und dieses soll die auserwählte Seele ererben. Darum freut euch, ihr armen Menschen, die ihr mit den Füchsen keine Gruben, mit den Vögeln keine Nester und mit Christo nicht so viel habt, dahin ihr das Haupt legt! Dort werdet ihr überaus reiche und gewaltige Fürsten sein. Ihr werdet Ursache haben mit der Witwe zu Zarpath zu Elia zu sprechen: Prophet, wie hat mich die Armut verlassen und Reichtum überschüttet! Dort wohnten wir in einem Bauernhüttlein; jetzt sind wir in einem königlichen Schlosse. Dort lagen wir in einem engen Winkel; hier sind wir in einem weiten Saale. Dort hatte ich nicht soviel, dahin ich mein Haupt legen konnte; hier steht mir offen die unendliche Ewigkeit.

Ach dass ich Engelszungen hätte, zu preisen alle diese Herrlichkeit! Aber wie auf dem Spiegel eines Gewässers, in welches junge Knaben Steinlein werfen, ein Kreis auf den andern folgt, die sich immer weiter ausdehnen, bis sie das Ufer erreichen und sich verlieren: so kommen mir, nachdem ich einmal von dem himmlischen Jerusalem zu schreiben angefangen, Gedanken auf Gedanken und immer neue Gedankenkreise, wollen sich aber an keinem Ufer dieses Buches, noch weniger am Ende eines Kapitels enden. So müssen wir denn gar köstliche Dinge unberührt lassen und ich will nur noch ein geringes Gleichnis hinzufügen. Wenn ein armer Mensch seit seiner Kindheit an einem finstern Ort gesessen und weder der Sonnen Licht bei Tage noch des Mondes Schein bei Nacht geschaut, statt der Menschen nur Ungeziefer zur Gesellschaft gehabt, zur Speise kaum das Brot, zum Trank faules Wasser, zum Bettgewande Stroh, zu Teppichen Spinngewebe, zur Kleidung zerrissene Lumpen erhalten, und also von dieser Welt Pracht und Herrlichkeit gar nichts gesehen und erfahren hätte; wenn solch ein armer Mensch nun plötzlich herausgeführt, in Purpur gekleidet, mit goldenen Ketten geziert, mit Ringen geschmückt, mit stattlichen Dienern umgeben; in einen königlichen Lustgarten zu einem mehr als fürstlichen Mahle gebracht würde, wo er in der Nähe schaute die schönsten in die Wolken ragenden Türme, die prachtvollsten sich weit ausdehnenden Paläste und um sich die edelsten Gewächse, die lieblichsten Blumen, die lustigsten Bäume, die kunstreichsten Brunnen, die köstlichsten Altane; wo er genösse die schmackhaftesten Speisen, die annehmlichsten Getränke in dem kostbarsten Geschirre, unter der freundlichsten Gesellschaft, bei der geschäftigsten Aufwartung; wo er hörte den Gesang der vorzüglichsten Vögel, den Klang der ausgezeichnetsten Instrumente, die Stimmen der geübtesten Sänger, den hellen Ton der Trompeten, das gewaltige Brausen der Pauken; wenn, sage ich, dies geschehen könnte: wie groß müsste die Verwunderung eines Menschen sein, der plötzlich zu solch ungewohnter Herrlichkeit erhoben würde! Wäre aber auch seine Verwunderung so groß, dass er sie nicht beschreiben könnte; ich würde ihm doch noch Größeres entgegenhalten. Sagte er, es wäre unbegreiflich; so könnte ich sagen, die Verwunderung der auserwählten Seele wäre noch viel weniger zu begreifen. Sagte er, es wäre über die Maßen groß; so könnte ich doch sagen, die Verwunderung der auserwählten Seele wäre noch viel tausend Mal größer. Und dieses mögen fromme Christen wohl merken, nicht allein zum Verständnis dieses, sondern auch der folgenden Kapitel.

O Herr Jesu! der Du Moses auf den Berg Nebo und auf die Spitzen des Gebirges Pisga geführt und ihm daselbst die Weite und Breite des gelobten Landes gezeigt hast: verleihe mir in diesem Leben nur den geringsten Blick in das schöne Paradies, nicht die Augen des Leibes, sondern des Gemütes darin zu weiden und dermaleinst bei Dir und allen Auserwählten zu wohnen. Amen.