MacDuff, John - Bethanien - VII. Licht und Schatten.

Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.

(Ps. 103, 8.)

Die Klagetöne erschallten nun vier Tage lang in dem trostbedürftigen Heim. Freunde und Verwandte des Entschlafenen kamen, ihre Teilnahme zu bezeugen. Sie bedurften so sehr des Trostes da sie so viel verloren hatten. Jetzt kam die Stille nach dem Sturme, wo sie erst die ganze Schwere des Verlustes erfassen konnten; und die Zukunft so dunkel vor ihnen lag. Sie fühlen die Lücke täglich mehr. Der stärkere Geist der Martha bekämpft mehr den übergroßen Schmerz, während das gefühlvollere Gemüt der Maria, gebeugt in tiefem Leid, keine Worte finden kann, um ihren Kummer auszusprechen. Nur stille Tränen zeigen die Tiefe ihrer Traurigkeit. Während beide Schwestern zusammen saßen, hörte Martha die frohe Kunde: „Der Herr ist gekommen!“

Bevor sie Maria etwas mitteilt, will sie sich von der Wahrheit überzeugen, und geht dem Herrn entgegen, um ihm ihr Herz auszuschütten und von ihm getröstet zu werden. In einem Augenblick wirft sie sich zu seinen Füßen. Zweifel, Glaube und Bitte lassen sie ausrufen: „Herr, wärst Du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben!“ Es kann nicht zweifelhaft sein, dass sie Glauben und festes Vertrauen auf die Liebe und Fürsorge des Herrn hatte, aber ein augenblickliches Gefühl des Unglaubens mischte sich darunter.

Barg sich nicht ein leiser Vorwurf in ihren Worten? „Warum, Herr, warst Du abwesend, das entspricht doch nicht Deiner Güte und Freundlichkeit, womit Du uns so oft erfreut hast woher nun Dein Ausbleiben in den Tagen der größten Angst? Der Tod hat uns einen geliebten Bruder entrissen dieser harte Schlag wäre uns erspart geblieben, unsere Herzen wären nicht gebrochen, wenn Du hier gewesen wärst.“

So mögen die Gedanken der trauernden Schwester gewesen sein, Gedanken eines kurzsichtigen Menschen! Hätte sie in das Herz des Herrn sehen können, wie ganz anders würde sie sich ihm genaht und gesprochen haben! Seinen Jüngern hatte er den Grund seiner Abwesenheit gesagt: „Ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dagewesen bin, auf dass ihr glaubt.“

Wie oft können wir Gottes Wege nicht verstehen und sprechen: „Wie ungerecht ist sein Handeln mit mir, ich kann es nicht begreifen, wo ist nun mein Gott?“ Warum währt diese Krankheit so lange? Warum schmerzt dieser Dorn im Fleisch so sehr? Warum sind diese Familienbande durch den Tod zerrissen? Bringe alle diese Fragen zum Schweigen. Jede Prüfung, wie immer geartet, muss im Lichte der Ewigkeit betrachtet werden; und selbst über der Grabespforte steht geschrieben: Zur Ehre Gottes, dass der Sohn Gottes dadurch geehrt werde.

Wenn wir trauern und von dunkeln Führungen sprechen, dann spricht Jesus: „Ich bin froh um euretwillen.“ Seine Abwesenheit, sein Ausbleiben, nachdem er die Botschaft empfing, anstatt sofort nach Bethanien zu eilen, war wohl und weislich geordnet. Obgleich der Herr Marthas Vorwurf stillschweigend hinnahm, sprach er doch später in einem ruhigen Augenblick: „Sagte ich dir nicht, so du glauben würdest, solltest du die Herrlichkeit Gottes sehen?“

In der Tat ist es in allen Prüfungen eine tröstliche Wahrheit, dass Gott seine heilige und weise Absicht hierbei hat und alles zu einem herrlichen Ende führen will. In wenigen Wochen, das wusste der Herr, würden sie auch um ihn trauern. Er, der ihr Freund, Vater und Bruder gewesen, würde ebenso, wie jetzt Lazarus, im Grabe ruhen, der Herr des Lebens ein Opfer des Todes werden. Er wusste, wie dies ihren Glauben erschüttern würde, und wie nötig es war, dass er ihnen nun vor Augen führte, dass er ein Herr war über Tod und Grab.

Nun war die passende Gelegenheit, ihnen den Grund zu sagen „ich bin froh um euretwillen, auf dass ihr glaubt.“ Könnten wir es doch festhalten, dass Gottes Wege mit uns nur zur Stärkung unseres Glaubens dienen sollen! Wo er uns etwas nimmt, will er uns nur um so mehr dafür schenken. Er nimmt nur, um zu geben. Sind seine Wege dunkel, so wollen wir es gläubig fassen: es ist um unsertwillen, dass an uns der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde. Marthas Worte sollen uns lehren, nicht so schnell in unserem Urteil über Gottes Wege zu sein.

„Herr, wärst Du hier gewesen!“ Wie konnte sie daran zweifeln, dass das Auge der Allwissenheit allezeit liebend auf dem Kranken ruhte - er kennt jedes Klopfen in der fiebernden Stirne, er zählt jede Träne. „Herr, wärst Du hier gewesen!“ Wie konnte sie an seiner Allmacht zweifeln? Wäre es sein Wille gewesen, er hätte dem Tode Halt gebieten können.

Gläubiger Jünger, warum zweifeltest du? Doch du musst anfangen, zu lernen, dass alles zur Ehre des Herrn dienen soll, auf dass die überschwängliche Gnade Gottes in uns mächtig werde. Die Wolke zieht vorüber, der Glaube bricht durch, die Zweifel sind besiegt. Er, der ein geängstetes Herz versteht, hat Mitleiden mit unserer Schwachheit. Sein gnadenreiches Auge ruht auf Martha, und ihr Unglaube muss weichen.

Sie glaubt und vertraut ohne Zögern und spricht: „Aber ich weiß auch noch, was du bittest von Gott, wird Dir Gott geben.“

Jeder gläubige Christ sollte in der Stunde der Angst und Not den Glaubensanker in die stürmende See werfen in dem festen Vertrauen, dass der Herr uns retten kann und will. Der Freund in Bethanien ist auch unser Freund im Himmel; alle Macht ist ihm übergeben. Wie selig ist es, in der Stunde der Trübsal die feste Überzeugung zu haben, dass der ewige Hohepriester uns in der Herrlichkeit beim Vater vertritt! Wenn selbst die Art schon dem Baum an die Wurzel gelegt ist, ihn zu fällen, so wird auf seine Bitte ihm noch eine neue Gnadenfrist geschenkt, und der Todesengel muss vorüberziehen. Der Gottmensch Christus, unser Fürsprecher, hat die Macht und den Willen, uns zu helfen ihn erhört der Vater allezeit.

Wie sollten wir daher unser Krankenlager und Sterbebette heiligen im Gebet! Jeden neuen Kummer sollen wir vor Gott bringen, unsere Last, wie sie auch immer heißen mag, vor seinen Gnadenthron niederlegen. Er wird sie uns abnehmen, wenn es ohne Schaden für unsere Seele ist. Christus hört all unser Flehen, seine Hand ist nicht zu kurz, seine aufgehobenen Arme niemals zu schwach. Niemals sind wir ihm lästig, er ist stets bereit, unsere Bitte gnädig aufzunehmen. Wenn immer wir unsere Kniee beugen und ihn anrufen, so wird Gott sich zu uns neigen und uns in Christo gnädig ansehen.

„In allen Stürmen, in aller Not
Wird er dich beschirmen, der treue Gott.“