MacDuff, John - Bethanien - VI. „Unser Freund schläft.“

Ich liege und schlafe ganz mit Frieden.
(Ps. 4,9.)

Nach den Tagen der Furcht und Hoffnung war ihre schlimmste Befürchtung eingetreten: der geliebte Bruder entschlafen. Fort und fort hatten sie sehnsüchtig der Ankunft des Herrn geharrt. Wie mochten sie die Stunden gezählt haben, wann der gesandte Bote ihn in Bethabara erreicht haben könnte. Dazwischen regte sich wohl die Hoffnung, dass ein von ihm aus der Ferne gesprochenes Wort ihrem kranken Bruder Heilung bringen würde. Vergebens! Vielleicht war Lazarus gerade in der Stunde verschieden, als der Herr zu seinen Jüngern sagte: „Lazarus, unser Freund, schläft.“

Der Tod ist ja auch ein Schlaf für Kinder Gottes. Für die Erlösten hat er seine Bitterkeit verloren: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ (1. Kor. 15,55.)

Den Freunden des Herrn ist der Tod nicht mehr der König der Schrecken, sondern der Eingang zur ewigen Ruhe. „Wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben,“ des Erlösers Sieg ist unser Sieg. Auch im dunkeln Todestal spricht er zu uns: „Fürchte dich nicht, ich bin mit dir!“ Hast du dich im Leben zu ihm gehalten, so wird er dich in der Todesstunde nicht versinken lassen: Er ist treu!

Der Regenbogen über dem dunkeln Todestal ist seine Bundestreue, die dich nicht verlässt.

„Der Tod seiner Heiligen ist wert gehalten vor dem Herrn“ (Ps. 116,15). Der Christ hat im Sterben nichts zu tun, als sich in die Hände des Herrn zu legen, dessen Wort er getraut, und dem er sich täglich betend im Leben übergeben hat. O, dass alle meine Brüder wüssten, welchem Herrn ich gedient habe, und welchen Frieden ich jetzt habe,“ sagte ein Gotteskind in der Stunde, wo es in seine himmlische Heimat hinüberging. Ja, so heimzugehen ist unaussprechliches Glück. Zuweilen bezeugt das himmlische Lächeln der sterbenden Lippen einen Vorschmack der Seligkeit. Wie die Bergesspitzen von der untergehenden Sonne vergoldet werden, so wird oft das Antlitz des sterbenden Gotteskindes durch die Strahlen der ewigen Gnadensonne verklärt.

Doch verlassen wir das Sterbezimmer und eilen zum Grabe! Auch dies ist ein Ort der Ruhe, des Schlafes, des Friedens, bis der Tag der Auferstehung kommt. Der Staub, welcher hier schläft, ist kostbar, denn er ist erlöst. Die Engel Gottes bewahren ihn, sie lagern sich um ihn, bis Gott ihnen gebietet: „Sammelt die Auserwählten von den vier Winden des Himmels, von einem Ende zum andern.“

O herrlicher Tag, wenn auch der Leib nun unsterblich auferstehen wird, nun ganz ein Werkzeug, dem Herrn zu Ehren. Siehe, was Paulus von dieser glorreichen Auferstehung sagt: „Die durch Jesum entschlafen sind, wird Gott mit ihm führen.“ (1. Thess. 4,14.) Der du klagst und weinst, Jesus trocknet deine Tränen: „Deine Toten werden leben!“ (Jes. 26, 19.)“Es kommt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, werden seine Stimme hören; und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens.“ (Joh. 5,28.29.) „Selig sind die Toten, welche in dem Herrn sterben!“ Sie ruhen, die Unruhe und Not ist vorüber, ihr Schifflein ist im sicheren Hafen des Friedens.

Wir wollen unsern Blick fest richten auf Jesum, er allein kann uns Frieden schenken in der Sterbestunde, er macht uns getrost, dass wir uns über alle Schrecken des Todes erheben können. Stephanus wurde gesteinigt, er musste sein Leben lassen unter Schmerzen, die ihm die Steinwürfe verursachten, und doch „entschlief“ er mit dem Gebet: „Herr Jesu, nimm meinen Geist auf!“

Was war das Geheimnis dieses Friedens, während die Feinde tobten und nach Blut dürsteten? Es war das Glaubensauge, welches auch diese dunkle Wolke durchdrang und die Herrlichkeit Gottes sah, und Jesum stehen zur Rechten Gottes. Mit Jesu, dem sein letzter Blick galt, konnte er ruhig und im Frieden entschlafen.

Lazarus, unser Freund, schläft. Dies sagt uns, dass Christus die Toten nicht vergisst. In der Welt werden die Toten, nachdem sie begraben, oft schnell vergessen, aber der Herr vergisst sie nicht.

Der Tod löst die innigsten Bande: den Bruder vom Bruder die Schwester von der Schwester, den Freund von dem Freunde, aber das Band, welches uns mit dem liebenden Vaterherzen und dem Thron der Gnade verbindet, kann er nicht lösen. Seine Liebe ist stärker, als der Tod und überdauert den Tod. „Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?“ Er gedenkt der Seinigen allezeit, ihre Namen sind im Buche des Lebens geschrieben, ja in Seine Hände gegraben.

Jesus hatte zunächst den Jüngern nichts vom „Tode“ des Lazarus gesagt, sondern nur bemerkt: „Unser Freund schläft“. Die Jünger verstanden hierunter den natürlichen Schlaf, die Krisis zur Besserung. Darum sagte er es ihnen hernach deutlich: „Lazarus ist gestorben.“ Mit welcher Rücksicht bringt er ihnen die traurige Nachricht allmählich bei. Noch jetzt ist es seine Art, die Seinigen langsam auf die Stunde der Prüfung vorzubereiten. Er legt ihnen niemals mehr auf, als sie tragen können. Er prüft ihre Lage, er erzieht sie auf seine Weise, langsam Schritt für Schritt. Wie ein guter Arzt, zählt er die Tropfen in dem bittern Kelch, wie ein guter Hirte führt er seine Schafe mit sanftem Stabe auf grüner Weide. Er ist ihr Führer, er geht vor ihnen her; er selbst ist ihr schützender Fels an dem dunkeln und wolkigen Tage. Die starken Schafe, welche schon den Stürmen getrotzt haben, lässt er zurück, um die jungen Lämmer, welche müde und schwach sind, in seinen Armen zu sammeln und an seinem Busen zu tragen. Der Herr gebraucht das Bild des ruhigen Schlafes, bevor er die traurige Wirklichkeit enthüllt „Lazarus ist gestorben.“ Erkennt, was für ein Gemächte wir sind, er gedenkt daran, dass wir Staub sind.“ „Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten.“

Nun unternimmt es der Herr, den starken Feind in seinem eigenen Lager zu besiegen. Er eilt nun zu den betrübten Schwestern, die sein Ausbleiben gar nicht fassen können. Immer wieder hatten sie gehofft, seine Schritte zu hören und seine süße Stimme zu vernehmen. Aber sie hatten sich geirrt: Der Herr zögert noch. Ihr Herz spricht mit David: „Gott, Du bist mein Gott, frühe mache ich zu Dir, es dürstet meine Seele nach Dir in einem trocknen und dürren Lande, da kein Wasser ist“ (Ps. 63,2).

Aber nur stille, ihr Betrübten, der Herr naht. Er lässt die Angst bis aufs höchste steigen, um seine Herrlichkeit zu offenbaren. Nie war der Himmel so dunkel, als der Friedensbogen erschien, und die Sonne durch die Wolken brach.