Afterredet und urteilt nicht!
Über Jak. 4,11.12.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesu Christo! Amen.
Jak. 4,11.12:
„**Afterredet nicht unter einander, liebe Brüder! Wer seinem Bruder afterredet, und urteilt seinen Bruder, der afterredet dem Gesetz, und urteilt das Gesetz. Urteilst du aber das Gesetz, so bist du nicht ein Täter des Gesetzes, sondern ein Richter. Es ist ein einiger Gesetzgeber, der kann selig machen, und verdammen. Wer bist du, der du einen Anderen urteilst?“
In dem Herrn Geliebte! Schon zu wiederholten Malen hatte Jakobus seine Leser vor dem Missbrauch der Zunge, vor Zungensünden, gewarnt; schon im ersten Kapitel, V. 19.26; dann vor Allem in den gewaltigen Worten des dritten Kapitels; er kommt heute noch einmal auf diese Warnung zurück. Er hatte seine Leser daran erinnert, dass Gott „den Hoffärtigen widersteht, aber den Demütigen Gnade gibt“. (V. 6.) Er hatte sie ermahnt: So seid nun Gott untertänig“! (V. 7.) Demütigt euch vor Gott, so wird er euch erhöhen“! (V. 10.) Wie kann aber, wer das tut, wer so demütig ist vor Gott, hochmütig sein gegen die Brüder, und sich in böser Nachrede oder Widerrede, in lieblosem Gericht an ihnen versündigen? „Afterredet nicht unter einander, liebe Brüder“! mahnt darum Jakobus in unserem heutigen Texte; afterredet und urteilt nicht! Seht denn da den Gegenstand unserer weiteren Betrachtung:
Denn: Afterredet und urteilt nicht!
Gott der Gnade segne diese Betrachtung an unseren Herzen! Amen.
„Afterredet nicht unter einander“! Wir kennen, meine Lieben! das Wort Afterreden aus unserem Katechismus, der Erklärung des achten Gebots. Wir denken dabei gemeinhin an die üble Nachrede, hinter dem Rücken des Nächsten, und allerdings meint Jakobus auch sie; aber nicht sie allein; er denkt auch an die böse Widerrede, dem Nächsten ins Angesicht. Er will uns nicht bloß davor warnen, den Nächsten zu verleumden, nein, auch den Nächsten zu schmähen, ihm eine Sünde, ein Unrecht zum Vorwurf zu machen. Es kann ja freilich nicht unbedingt und unter allen Umständen verboten sein, über die Sünde des Nächsten oder wider dieselbe ein Zeugnis abzulegen; es kann sogar deine Pflicht und dein Beruf sein, es zu tun, und du versündigtest dich, wenn du, etwa aus Menschenfurcht, oder um nicht in Schaden und Ungelegenheit zu geraten, dich davor scheutest, der Wahrheit die Ehre zu geben, und die Sünde bei ihrem rechten Namen zu nennen. Aber wie oft, dass ohne Pflicht und Beruf über die Sünden Anderer geredet wird, aus bloßer Schwatzhaftigkeit, lieblos, wider die Wahrheit, in leichtfertiger oder gar böswilliger Übertreibung! Wie oft, dass Jemand hinter dem Rücken des Nächsten das große Wort über ihn führt; aber es fehlt ihm der Mut oder die Aufrichtigkeit, es dem Anderen ins Gesicht zu sagen, was er gegen ihn hat, und es ihm dadurch möglich zu machen, entweder sein Unrecht offen zu bekennen, oder die Verleumdung aufzudecken! Und wiederum, wenn Einer es dem Nächsten ins Gesicht sagt, was er gegen ihn hat, oder was die Leute über ihn sagen, wie leicht und wie oft geschieht es dann zornmütig, in leidenschaftlicher Aufregung, ohne Liebe, nicht zur Besserung des Nächsten, oder in der Absicht, ihm zu dienen, und du musst dann beschämt verstummen, wenn er dich fragt: „Aber warum brauchtest du mir das zu sagen, und, wenn du es sagen. wolltest oder musstest, warum hast du es denn so rücksichtslos und so schonungslos getan?“ Das ist die Sünde, vor welcher Jakobus seine Leser warnen will mit dem Worte: „Afterredet nicht unter einander, liebe Brüder!“
Afterredet und urteilt nicht! - Urteilt nicht! Mit dem Worte kann uns ja wieder unmöglich verboten werden sollen, ein Urteil darüber zu haben oder auszusprechen, ob etwas recht oder unrecht, gut oder böse sei. Es ist dasselbe Wort, welches der Herr Jesus in seiner Bergpredigt (Matth. 7,1.) gebraucht, und welches Luther dort durch: „Richtet nicht!“ übersetzt hat. Da hat der Herr uns ja auch nimmermehr wehren wollen, Recht Recht und Unrecht Unrecht zu nennen, noch will er der Obrigkeit in den Arm fallen, und ihr verbieten, ihres Richteramts zu warten, und das Schwert zu gebrauchen zu Lobe den Frommen und zur Rache über die Übeltäter. „Wehe denen“, warnt vielmehr das Wort Gottes schon in den Tagen des alten Bundes, die Böses gut und Gutes böse heißen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus Sauer Süß und aus Süß Sauer machen!“ (Jes. 5,20.) Wie könnten wir, was recht und gut ist, tun, und, was unrecht und böse ist, meiden, wenn wir nicht darüber urteilen dürften, was recht und gut, und was böse und unrecht ist? Wie Manchem möchte man gerade mehr Urteil über Recht und Unrecht, Gut und Böse wünschen, damit er nicht so widerstandslos der Stimme der Verführung Gehör gäbe! Nicht vor dem Urteil über den Nächsten, sondern vor der Lieblosigkeit im Urteilen warnt Jakobus.
Gibt es doch auch ohne Liebe keine Wahrheit im Urteil über den Nächsten. Ohne Liebe siehst du in dem Bilde des Nächsten Alles Schwarz in Schwarz. Du hast ein scharfes Auge für seine Fehler; aber du siehst das nicht, was seine Fehler aufwiegt, oder doch dazu dienen kann, sie zu entschuldigen und in ein milderes Licht zu stellen. „Aber die Liebe deckt auch der Sünden Menge“. (1 Petri 4,8.) Sie sieht zwar die Sünden des Bruders; aber sie möchte sie lieber nicht gesehen haben. Sie bemäntelt und beschönigt sie nicht auf Kosten der Wahrheit; aber sie deckt sie auch nicht schadenfroh auf; sie redet nicht ohne Not von ihnen, sondern schweigt vielmehr, wo es irgend mit der Wahrheit verträglich ist, und empfindet es schmerzlich, wenn es, ohne wider die Wahrheit zu sündigen, nicht möglich ist, zu schweigen. Sie ist erfinderisch darin, Alles hervorzusuchen, und an das Licht zu ziehen, was dazu dienen kann, den Nächsten zu entschuldigen, und das Urteil über ihn zu mildern. Gegen diese Lieblosigkeit in der Rede wider den Bruder, wie im Urteile über ihn wendet sich das warnende Wort des Jakobus: „Afterredet nicht unter einander, liebe Brüder! Wer seinem Bruder afterredet, und urteilt seinen Bruder, der afterredet dem Gesetz, und urteilt das Gesetz“.
Gott hat es wohl gewusst, in dem Herrn Geliebte! was für ein köstliches, unentbehrliches Gut des Menschen sein guter Name ist, und wie schwer der Mensch durch die Welt kommt, wenn er dies köstliche Gut verloren hat, und nun sein böser Ruf vor ihm hergeht, und ihm die Türen der Leute verschließt. Darum hat er nicht bloß im siebenten Gebote unser Hab und Gut unter den Schutz seines Gesetzes gestellt, sondern zum siebenten Gebote noch das achte hinzugefügt als eine Schutzwehr für das Gut des Menschen, welches wichtiger und köstlicher ist, als Geld und Gut, und seinen guten Namen gegen alles lieblose Reden und Richten, gegen Schmähungen und Verleumdungen sicher gestellt. Wie darfst du es denn wagen, diesen schützenden Zaun, mit welchem Gott selbst den guten Namen deines Bruders gegen Afterreden und Urteilen über denselben sicher gestellt hat, leichtsinnig oder vermessen niederzureißen, und widerredest damit dem Gesetz, und verurteilst es, als ob es überflüssig wäre, und wirfst dich zum Richter darüber auf, ob ein Gebot des Gesetzes es wert sei, oder nicht, dass du es haltest? Wie darf das vollends unter Christen geschehen, die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen“, (Kap. 2,12.) und für die alle Gebote Gottes in das „königliche Gesetz“ der Liebe beschlossen sind: „Liebe deinen Nächsten, als dich selbst!“ (Kap. 2,8.) „Liebe Brüder!“ redet darum auch Jakobus seine Leser hier wieder an, und sagt nicht: „Wer seinem Nächsten“, sondern: „Wer seinem Bruder afterredet, und urteilt seinen Bruder“; seinen Bruder, der mit ihm einer Gnade in Christo teilhaftig geworden ist; seinen Bruder, an welchem er das königliche Gesetz nach dem Worte des Meisters zu erfüllen berufen ist: „Ein neu Gebot gebe ich euch, dass ihr euch unter einander liebt, wie ich euch geliebt habe!“ (Joh. 13, Durch solchen heiligen Beruf der Liebe berufen, ein Täter des Gesetzes zu sein, wie magst du es wagen, dem Gesetz zu afterreden, und das Gesetz zu urteilen, und dich zum Richter des Gesetzes zu machen, dessen Täter zu sein du berufen bist?
Aber nicht nur zum Richter des Gesetzes machst du dich; du setzt dich selbst auf den Richterstuhl Gottes, und maßest dir an, was allein ihm zusteht. „Urteilst du aber das Gesetz“, schreibt Jakobus, „so bist du nicht ein Täter des Gesetzes, sondern ein Richter. „Es ist ein einiger Gesetzgeber“ („Gesetzgeber und Richter“, schreibt Jakobus eigentlich), „der kann selig machen und verdammen“. Wer bist denn du, ohnmächtige Kreatur! dass du dich auf den Thron der höchsten Majestät Gottes setzt, und tust, als hätte er dich berufen, sein Statthalter auf Erden zu sein, und an seiner Stelle über die Brüder zu Gericht zu sitzen! Gottlob, dass er sich durch die Bannflüche, mit welchen Menschen ihre Brüder verdammen, nicht vorgreifen lässt, noch sich dazu hergibt, der Büttel ihres Zorns und ihrer ungerechten Gerichte über die Brüder zu werden, sondern beides, das Urteil über sie, wie die Vollstreckung desselben, sich vorbehalten hat! Denn nicht nur ohnmächtig, auch kurzsichtig und fehlsam ist der Mensch in seinem Urteil und in seinen Gerichten. Wir sehen die Taten Anderer; aber die Triebfedern ihres Tuns erkennen wir oft nicht. Wir sehen, was endlich aus einem Menschen geworden, und wohin es mit ihm gekommen ist; aber wie er das ward, und wie es bis dahin mit ihm kam, vermögen wir oft nicht zu erkennen. „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr sieht das Herz an“. (1 Sam. 16,7.) Er allein kann über den Wert oder Unwert eines Menschen urteilen, über das Maß seiner Schuld richten. Er sieht seine verborgensten Gedanken, alle geheimen, von keinem menschlichen Auge 'gesehenen Kämpfe der Seele gegen die angeborenen, oder durch frühe Gewöhnung und böse Beispiele genährten und großgezogenen sündlichen Begierden. Er kennt die ganze Verkettung schwerer Geschicke, übermächtiger Versuchungen, denen der Mensch nach vielleicht langem Kampfe erlag, und durch die er in die Bande der Sünde geriet, um welche er nun von Menschen verurteilt und verdammt wird. Wie anders vielleicht, als hier das vorschnelle Urteil der Menschen, wird einst das Urteil des einigen Gesetzgebers und Richters lauten, welcher selig machen und verdammen kann; und wie gut, dass nicht jedes Urteil, mit welchem hier der Bruder den Bruder richtet, auch ausgeführt wird, weil der Arm zur Vollstreckung desselben zu kurz ist! Aber dennoch, wie oft geschieht es, dass wir durch unser kurzsichtiges, vorschnelles Urteil dem Bruder Schaden zufügen? Und was machst du, wenn du oft kaum den Augenblick abwarten kannst, da Gott, der Herr, den Arm zu seinem Gericht über deinen Bruder aufhebt?
Das wäre ja nicht möglich, wenn dir die Frage des Jakobus allezeit recht durch das Herz ginge: „Wer bist du, der du einen Anderen urteilst?“ - Wer bist du? Ein ohnmächtiger Wurm nicht nur, ein kurzsichtiger Tor; nein, selbst ein armer der Gnade bedürftiger Sünder und Übertreter des Gesetzes! Gibt, doch gerade dein Afterreden und Urteilen über den Bruder Zeugnis dafür, wie viel dir an der Liebe fehlt, welche Gott von dir fordert, und die des Gesetzes Erfüllung ist. Du hast so viel Auge für die Fehler des Bruders, und machst dir in trügerischer Scheinliebe und Fürsorge für das Beste des Bruders so viel mit denselben zu schaffen, dass du darüber wenig Zeit und Auge behältst, deine eigenen Fehler zu sehen. Du willst den Splitter aus dem Auge des Bruders ziehen, und wirst den Balken in deinem eigenen nicht gewahr. „Du Heuchler, ziehe zuvor den Balken aus deinem Auge, und besiehe dann, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!“ (Luk. 6,42.) Hör' auf, deinen Bruder zu urteilen, und gedenke, dass du selbst dein Urteil aus dem Munde des einigen Gesetzgebers und Richters, welcher selig machen und verdammen kann, empfangen wirst! Er kommt, der Tag, und du brauchst ihm durch dein liebloses Gericht nicht vorzugreifen, da Gott deinen Bruder vor sein Gericht ziehen wird; aber dieser Tag des Gerichts, es ist der Tag, an welchem auch du vor dem Richterstuhl des einigen Richters offenbar werden musst; und wie du dann mit den geheimsten Gedanken und Begierden deiner Seele vor aller Welt Augen offenbar werden wirst, so bist du es schon heute vor deines Gottes heiligem, unbestechlichem Auge! Freunde, liebe Brüder! Wären wir des allezeit, wie wir es sollten, recht eingedenk, wir könnten nicht so geschäftig sein, den Brüdern zu afterreden, die Brüder zu urteilen, und würden über ihre Sünden auch nicht ein unnützes Wort verlieren.
So lasst uns den Herrn aus inbrünstigem Herzen bitten, dass er uns das Gedächtnis schärfe für unsere eigenen Sünden, und wie sehr wir selbst seiner Gnade bedürftig sind, damit wir nicht dem Gericht jenes hartherzigen Knechtes verfallen, welcher nicht Barmherzigkeit tat an seinem Mitknechte! Gib ihn aus, o Herr! den Geist der Liebe in unsere Herzen, dass wir in seiner Kraft das Gesetz der Freiheit halten, welches zu erfüllen wir berufen sind, und nach welchem wir sollen gerichtet werden! Und wenn der Adamssinn in uns sich immer wieder auflehnt gegen das königliche Gesetz der Liebe, und uns verführen will zu hoffärtigem Gerichte über unsere Brüder; dann öffne uns auch immer wieder das Auge für die wahre, hässliche Gestalt unseres eigenen argen, sündigen Herzens und Lebens, in welcher wir einst vor aller Welt müssen offenbar werden, in welcher Dein heiliges Auge schon hier uns sieht; damit wir vor uns selbst erschrecken, und die warnende, strafende Frage uns immer aufs Neue durch das Herz gehe: „Wer bist du?“ Wer bist du, dass du einen Anderen urteilst?“ Amen.