Tut Ehre jedermann; habt die Brüder lieb, fürchtet Gotte, ehret den König.
1. Petri 2,17
In diesen wenigen Worten liegt ein kostbarer Schatz göttlicher Vorschriften. Wie an dem sternbesäten Firmamente die Himmelskörper in verschiedener Größe und Herrlichkeit glänzen, so ist auch in der Schrift das Wort Gottes in mannigfacher Herrlichkeit ausgesät. Der Psalmist z.B. führt im 19. Psalm die beiden Bücher an, die uns von Gott erzählen: Die Natur und die Bibel. Die Himmel, als das Meisterwerk der Schöpfung, „erzählen die Ehre Gottes“, und die Bibel spricht noch klarer und verständlicher von ihm. Der vorstehende Vers ist eine Zusammenstellung glänzender uns nahe gelegener Sterne; er enthält in wenig Worten den ganzen Inbegriff unserer Pflichten gegen Gott und die Menschen. „Tut Ehre jedermann“ dies gilt für den Verkehr mit den Menschen im allgemeinen. - „Liebet die Brüder“ gilt für unsere christlichen und religiösen Verbindungen, - endlich für unsere bürgerlichen Verpflichtungen: „Ehret den König“. Und gleichsam als Regulator sind unsere Pflichten gegen Gott in dem : „fürchtet Gott“ in die Mitte gestellt. Ohne mich in weitere Untersuchungen über diese Vorschriften einzulassen, die unsere Richtschnur für das Leben sein sollen, werde ich in ihrer Reihenfolge nur im allgemeinen zu zeigen versuchen, wie leicht, klar und bündig sie sind. Es sind das keine dunklen, geistanstrengenden Wortstellungen, keine langen, ermüdenden Reden. „Es ist nichts Verkehrtes darin“ (Spr. 8,8).
„Tut Ehre jedermann“. Ehre im engeren Sinne ist man nicht jedermann schuldig, sondern nur gewissen Personen, denen, wie Paulus (Röm. 13,7) sagt, „Ehre gebührt“, und dieses in verschiedenen Graden: den Eltern, den Vorgesetzten, den Lehrern usw., ganz besonders aber dem König. Es gibt jedoch ein Gefühl, das uns sagt, daß diese Vorschrift des Apostels sich im weiteren Sinn auf alle Menschen ohne Ausnahme anwenden läßt; es ist das Gefühl der Achtung, des Wohlwollens, der Teilnahme.
Wir können nicht alle Menschen gleich achten,. Es ist recht und natürlich, daß wir in unseren inneren und äußeren Achtungs- und Ehrenbezeugungen gegen andere einen Unterschied machen; es ist keine Sünde, die Fehler und Schwächen derer zu erkennen, mit denen wir leben, und diejenigen höher achten, welche mehr schätzenswerte Eigenschaften besitzen. Aber es gibt ein gewisses Maß der Achtung, welches wir jedem Menschen schuldig sind, und wäre es auch nur, weil es uns nicht erlaubt ist, einen auch noch so tief Gefallenen zu verachten. - Wie es unverständig ist, einen Menschen maßlos zu bewundern, so ist es im Gegenteil Mangel an Liebe, den Elendesten gänzlich zu verachten. Der Haß, den David gegen schlechte Menschen predigt (Ps. 15,4), gilt nur ihrer Sünde und nicht ihrer Person. Das mindeste Gute in einem Menschen sollen wir achten. Die Juden scheuten sich, über das kleinste Stückchen Papier zu schreiten, das auf ihrem Wege lag, weil möglicherweise der Name Jahwes darauf geschrieben stand. In dieser abergläubischen Ängstlichkeit liegt für uns eine herrliche Lehre, die wir auf alle Menschen anwenden sollen: Verachte keinen von ihnen, denn er trägt, obwohl entstellt oder verwischt, das Bild seines Schöpfers, und es kann in ihm das unsichtbare Werk der Gnade verborgen sein. Der Name Gottes ist vielleicht in diese Seele geschrieben, die ihr mit Verachtung behandelt. Immer aber ist es eine Seele, für die Christus gestorben ist; darum verachtet sie nicht, und noch weniger, wenn in ihr die kleinste Spur göttlicher Gnade gefunden wird; ehret den kleinsten Zug des göttlichen Bildes in jedem Menschen, in welcher Hülle es euch auch begegnen möge. Und könnt ihr keinen solchen Zug finden, so suchet die Gaben auf, die ihm gegeben wurden: sein Gedächtnis, sein Urteil, sein Geschick in seinem Beruf und welche anderen guten Eigenschaften er noch besitzen mag; denn solche Gaben sollen auch nach ihrem Wert geschätzt werden, und darum auch die Personen, denen sie eigen sind. Und wie es keinen Menschen gibt, der in allen Dingen vollkommen ist, so gibt es auch keinen, der nicht in irgend einer Sache selbst dem überlegen sein könnte, der in anderem Betracht große Vorzüge besitzt. Vorausgesetzt aber, es sei in einem Menschen wirklich gar nichts Gutes zu finden, so ist er ein Mensch und teilt eure Natur; achtet daher den Menschen in ihm, um so mehr, als er in Christo zu der Gnade erhoben wurde, eins werden zu können mit der Gottheit.
Unser äußeres Benehmen gegen die Menschen harmoniert mit unserer Seelenrichtung. Wer in seinem Herzen niemanden verachtet, sondern das Gute auch in dem Geringsten ehrt oder ihn wenigstens als Mensch liebt, der wird auch für keinen, nicht für seinen Diener, selbst nicht für seinen bittersten Feind ein verächtliches Lächeln, einen Spott, ein bitteres Wort haben; er wird ihm im Gegenteil wohlwollend begegnen und ihm gerne bei jeder Gelegenheit nach Kräften nützlich werden.
Aber anstatt diesem Grundsatz zu folgen, scheinen die meisten Menschen bemüht, sich gegenseitig herunterzusetzen, als wenn sie dadurch desto höher stünden. Die bittere Wurzel dieser Sünde ist der uns innewohnende unerträgliche Hochmut. Jeder ist sich selbst ein Abgott. Man will um jeden Preis anerkannt, geehrt, geschmeichelt sein; und um dieses vergötterte „Ich“ zu verherrlichen, opfert man Achtung und guten Namen seines Nebenmenschen. Selbstbetrug ist dabei unvermeidlich; denn mit scharfem Auge späht man dabei nach den Fehlern anderer, läßt aber ihren guten Eigenschaften keine Gerechtigkeit widerfahren, während man seine eigenen Vorzüge gründlich studiert und über seine größten Fehler leicht hinweggeht. Ist es denn zu verwundern, wenn die Menschen, in Selbsttäuschung befangen, in doppeltem Irrtum fortleben und keine Fortschritte im Guten machen? Der demütige Christ, der sich nach dieser göttlichen Vorschrift richtet, findet darin seinen Frieden; denn er ist in seinen eigenen Augen so niedrig, daß es schwer wäre, ihn noch tiefer zu stellen; und wenn er anderen die Ehre gibt, die ihnen gebührt, so verlangt er keine für sich selber. Er vermeidet Ehrenbezeugungen, die gewöhnlich aus gegenseitigen Ansprüchen hervorgehen: „Unter den Stolzen ist immer Hader,“ sagt Salomo (Spr. 13,10). Seid demütig von Grund des Herzens, und ihr werdet wissen „jedermann die Ehre zu geben.“
„Liebet die Brüder“. Es gibt, wie schon gesagt, eine Liebe, die man allen Menschen schuldig ist, die man mit dem Wort Achtung, Wertschätzung bezeichnet; aber es gibt noch eine besondere Liebe, die nur die Christen sich gegenseitig erweisen können. In ihrem neuen Leben, durch das sie erst wirkliche Brüder geworden sind, indem sie von dem Gottmenschen Jesu abstammen, sind alle mit ihm ein Leib; von ihm, „dem Erstgeborenen unter vielen Brüdern“, ihrem Haupte, empfangen sie das Leben. Und wie seine Liebe die Quelle dieses neuen Lebens ist, so bringt sie folgerichtig auch dieselbe Liebe zwischen denen hervor, die ihm angehören. Der Geist der Liebe und der Eintracht ist dieses „kostbare Öl, das von dem Haupte unseres Hohenpriesters niederträufelt“. Das Leben in Christo und diese Liebe sind unzertrennbar verbunden. Oder könnten Herzen, die sich in Jesu begegnen, gegeneinander feindlich gesinnt sein? „Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt“ (Joh. 13,35). Johannes, der Jünger der Liebe, der an des Herrn Brust ruhen durfte, ist mit seinen Lieblingsworten gestorben: „Kindlein, liebet euch untereinander!“
Ach, wenn unsere Liebe zu Jesus seiner Liebe zu uns gleichkäme und in unseren Herzen gewurzelt wäre: die Liebe zu unseren Brüdern würde uns leicht werden! Wenn wir an das, was er für uns getan und gelitten hat, wirklich glauben, sollten wir für ihn nicht alles tun können? Sollten wir Beleidigungen nicht verzeihen, Unrecht, welcher Art es auch sei, nicht in Liebe ertragen können, und das besonders von einem Glaubensgenossen?
Diese brüderliche Liebe verlangt mancherlei Pflichten. Die Christen sollen sich gegenseitig unterstützen, ermahnen, strafen, trösten, mit einem Wort sich gegenseitig alle die Liebesdienste erweisen, die gegenwärtig nicht nur unter den Namenschristen, sondern auch unter denen, die es wirklich sind, so sehr vernachlässigt werden. Bitten wir von Herzen den, der die Liebe ist, daß er uns von diesem Übel der Lieblosigkeit heilen möge.
Der Apostel fügt unmittelbar hinzu: „Fürchtet Gott!“ Er will damit zeigen, daß alle diese Vorschriften der Achtung und Liebe gegen die Menschen aus Liebe und Gehorsam gegen Gott geübt werden sollen. Ein Mensch kann, wir geben es zu, aus moralischem Grundsatze vor der Welt einen guten Wandel führen und gegen alle seine Nebenmenschen im allgemeinen recht handeln, wenn aber der Hauptbeweggrund seiner Handlungen nicht die „Furcht Gottes“ ist, so sind selbst seine besten Werke nicht das, was und wie es das Gesetz verlangt. Nur diese „Furcht Gottes“ gibt ihnen wirklichen moralischen und religiösen Wert. Hiob suchte „nach Weisheit, wie die Menschen nach Gold und Silber graben,“ und konnte sie nicht finden; endlich aber erkannte er: „Die Furcht des Herrn, das ist Weisheit, und meiden das Böse, das ist Verstand!“ (Hiob 28,28) Betrachtet daher diesen Gegenstand nicht als unwichtig, weil er euch ein wohlbekannter ist, von dem ihr oft sprechen hört, sondern vielmehr als eine hochwichtige Angelegenheit unseres ganzen Lebens. Selbst die am weitesten vorangeschrittenen Christen haben in der Schule der Furcht Gottes noch viel zu lernen; sie erfordert ein fortwährendes Studium und Aufmerken auf uns selbst, worüber wir Kap. 1,17 schon gesprochen haben.
Ich möchte nun noch einiges über das Wesen dieser Gottesfurcht beifügen. Sie besteht, wie wir wissen, in einer tiefen Verehrung Gottes, im festen Glauben an seine Heiligkeit, seine Gerechtigkeit, seinem Haß gegen die Sünde, die er nie ungestraft läßt, dann in unserem Schmerz, wenn er uns zürnt, und in dem seligen Gefühl, wenn er uns verzeiht. Das nennt man Gottesfurcht; es ist die kindliche Furcht, die sich scheut, den lieben Vater zu beleidigen und ihm zu mißfallen. Deshalb wacht sie beständig gegen jede Versuchung und wird schmerzlich betrübt, wenn sie einer solchen unterlegen ist. Weil aber die Christen von dem Wesen Gottes klare und richtige Begriffe haben und seine Heiligkeit, seine Gerechtigkeit und seinen Abscheu vor dem Bösen kennen und daran glauben, so zittern sie auch vor seinen Drohungen und bei dem Anblick seiner Gerichte über andere oder über sie selbst. „Dieweil wir wissen, daß der Herr zu fürchten ist, fahren wir schön mit den Leuten.“ (2. Kor. 5,11, engl. Üb.) Die Heiligen zittern vor dem Worte des Herrn (Jes. 66,2), und während die Weltkinder Gottes Drohungen verachten, bis Tod und Gericht sie überrascht, wissen und glauben die Gläubigen: „Es ist schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!“ (Heb. 10,31). Und obgleich sie ihres Erbes gewiß sind und die Liebe Gottes erfahren dürfen, so dienen sie ihm dennoch „mit Furcht und Zittern“, denn ihr Gott, der Gott dieses neuen Bundes selbst, ist auch „ein verzehrend Feuer“ (Heb. 12,28.29). Unsere Ermahnung gilt nicht allein den Gottlosen, sondern auch den Christen, die, von der Verdammnis erlöst, statt nun in „der Furcht des Herrn“ zu leben, leichtsinnig ihre Wege gehen und in ihrer Erschlaffung und fleischlichen Sicherheit nicht bedenken, daß Gott tausend Mittel hat, sie durch seine Strafen zu wecken. Und wenn er sie damit verschont, muß nicht der Gedanke an ihre Undankbarkeit um so schwerer auf ihnen lasten?
Der Apostel will, indem er nochmals auf die Pflicht „Ehret den König“ zurückkommt, zeigen, daß dieses Gebot, eines der ersten Gebote der zweiten Tafel, eine heilige Pflicht für jeden Christen sei. Wir haben darüber schon beim 13. Vers dieses Kapitels gesprochen. Petrus will die Achtung gegen die Könige und Fürsten immer in der Furcht Gottes begründet wissen, denn sie ist für die Herrscher wie für die Völker das höchste Gesetz. - Zu den Fürsten sagt er: „Dienet dem Herrn mit Furcht“ (Ps. 2,11), und zu allen Menschen: „Ihr Völker, bringet her dem Herrn die Ehre seines Namens und zittert vor seiner Herrlichkeit!“ (Ps. 96,7.8)
Quelle: Leighton, Robert - Das christliche Leben nach dem ersten Petrus-Brief