Siebente Predigt
Hohelied Salomons 3, 2.
Ich schlafe, aber mein Herz wachet. Da ist die Stimme meines Freundes, der anklopft: Thue mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Fromme; denn mein Haupt ist voll Thaues, und meine Locken voll Nachttropfen.
So beginnt eine Geschichte aus dem innern Leben, die sich unzählige Male in der Welt wiederholt hat, und unter den Bewohnern Jerusalems immer wieder auf's Neue sich ereignet. Eine kleine Adventsgeschichte ist's, sinnig und tief. Wir wollen sie näher beäugen, und mit dieser Betrachtung, gebe Gott, unter seinem Segen heute den Anfang machen. Die Braut erzählt, und zwar in dem verlesenen Verse:
I.
Also die Braut spricht, die begnadigte Seele, die Taube in den Felslöchern. Sie erstattet Bericht aus der Welt ihrer innern Erlebnisse. Was meldet sie? Von sich selbst die hochklingendsten und glänzendsten Dinge eben nicht; aber darum gerade tönt uns ihre Stimme um so tröstlicher und süßer. Die Tugenden der Heiligen Gottes mögen die Engel am meisten zu ihnen hinziehn. Uns geht sonderlich beim Anblick ihrer Gebrechlichkeiten das Herz auf. So ein stolpernder Simon, das ist eine Figur für uns; und daß selbst eine Sulamith, die Hochbegnadete, sich einmal wieder, wenn auch für Momente nur, wie in unserm Text geschieht, vertreten kann, wir sehen's, freilich aus Schadenfreude nicht, und noch viel weniger, weil wir darin einen Deckmantel für unsere Sünden zu finden wähnten, aber aus andern, verzeihlicheren Interessen - durchaus nicht ungern.
Die Braut beginnt: „Ich schlief, aber mein Herz wachte.“ So sind die Worte zu übersetzen. Sie bezeichnet damit, freilich ein wenig kurz, eine gemüthliche Stellung, darin sie sich befunden habe. Welche denn? Es könnte scheinen, als rede sie von einem begehrenswerthen Stande, von einem Stande etwa, wie der Stand Davids: „Hier liege ich und schlafe ganz mit Frieden; denn du, Herr, schaffest, daß ich sicher wohne;“ - oder wie der Stand des ruhig schlummernden Propheten in der feindlich belagerten Bergveste; oder wie der, den der Psalmist im Auge hat: „Die Heiligen des Herrn sollen fröhlich sein, und jauchzen auf ihren Lagern!“ - Aber handelte sich's von solchem Stande evangelischer Sabbathruhe hier, so dürfte ja der Bräutigam nicht, wie es in unserm Texte doch der Fall ist, als draußen weilend und von der Braut getrennt erscheinen. Auch würde er dann ja die Braut nicht wecken, sondern vielmehr auch hier, wie er's an jenen andern Stellen thut, den Töchtern Jerusalems bedeuten: „Ich beschwöre euch, daß ihr meine Freundin nicht weckt noch reget, bis daß es ihr selbst gefällt!“ Nein, darüber läßt uns der ganze weitere Verlauf unserer kleinen Begebenheiten keinen Zweifel, daß das: „Ich schlief, aber mein Herz wachte“ als Bezeichnung einer geistlichen Verirrung aufzufassen sei. Doch welcher nun? Das ist die Frage. Sulamith schlief nicht den Todesschlaf der Kinder dieser Welt. Es ist unmöglich, daß in den die Heiligen des Herrn je wieder zurück verfallen, wie große Aehnlichkeit manche ihrer Zustände mit jenem Schlafe auch immer haben mögen. Sie hatte Ruhe, aber auf falschem Lager. Auf Rosen schlief sie; aber auf Rosen, die sie nicht auf dem Hügel Golgatha, sondern auf den Feldern ihres eigenen Thuns und Leben„ gebrochen hatte. David sagt: „All mein Heil und Thun ist, daß nichts wächst.“ Der Sulamith gedieh das Gegentheil zum Unheil, wenn wir's so nennen dürfen. Ihr wuchs seit Kurzem viel. Ihr Herz stand in üppigster Empfindungsblüthe. Die guten Werke gingen ihr leicht und reichlich von der Hand. Die Versuchungen waren ihr nur genaht, um sie neue Siegeskränze winden zu lassen. Ihre Feinde hatten sie mir angefochten, um ihrer Sanftmuth und Versöhnlichkeit Triumpf- und Offenbarungsstätten zu bereiten. Ihre Gefährtinnen hörten mit Verwunderung und Entzücken ihre feierlich beredte Stimme. Sünde war in ihrem Leben lange nicht mehr aufgetaucht. Nichts als Lichtglanz der Heiligkeit verklärte ihre Erscheinung. Ihr Wandel unter den Menschen war eine ununterbrochene Kette der schönsten Liebesthaten. Auch die glaubenslose Welt fing an zu rühmen, daß sie sich solch ein Christenthum gefallen lasse. Sie selbst aber sah sich bald in den Stand gesetzt, nicht Menschen blos, sondern auch Gott selbst bei sich zu Gast zu laden. „Mein Freund,“ sang sie, „komme in seinen Garten, und esse seiner edeln Fruchte!“ Ja, sie besaß Alles, um den Geladenen aufs herrlichste zu bewirthen. Mit der frühern Armseligkeit und Bettelei hatte es ein Ende. Sie besah sich im Spiegel ihrer gegenwärtigen Begabtheit, und lief Gefahr, sich in ihr eigen Bildnis) zu vergaffen. Nicht bloß zu selbstgefälliger Freude gereichte ihr der geistliche Schmuck, in welchem sie sich und ihr Leben prangen sah; es währte nicht lange, so that er ihr auch die Dienste eines Kopfkissens unter ihrem Haupte. Sie ruhete darauf, streckte sich drauf behaglich aus, schlief darauf. - Sie ruhete. Wo ruhte sie? Ich sage, bei Licht besehen, nicht in den Armen Jesu mehr, sondern im eigenen Sein und Thun; nicht mehr im Verdienst des Bürgen, nein, auf selbstgepflanzten Blumenfeldern; nicht in der Gnade mehr, geschweige der freien, sondern in einem, wenn auch nicht ausgesprochenen, Bewußtsein persönlicher Schöne. Kurz, auf einen Galaterweg war sie unvermerkt gerathen; nur daß sie die Empfindung, die Galater, wie es scheint, mehr der jubelnde Verstand auf diesen Weg verleitet hatte. Uebrigens hätte eben so wohl zu ihr, wie zu diesen der Apostel sagen mögen: „Bist du so unverständig? Im Geist hast du angefangen? Willst du's im Fleisch vollenden? Mich wundert, daß du so bald dich abwenden lassest von dem, der dich berufen hat in die Gnade Christi, auf ein anderes Evangelium. Du hast Christum verloren, die du durch das Gesetz gerecht werden willst, und bist von der Gnade gefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben der Hoffnung der Gerechtigkeit. Du aber hast die Gerechtigkeit bereits wie einen Kram auf dem Markt, und greifst sie schon, und zwar an dir selbst, mit Händen.“
Daß wir in dieser Weist den Stand unserer Sulamith richtig aufgefaßt, wird, wie schon bemerkt, durch den fernern Verlauf unsrer kleinen Geschichte vollkommen bestätigt. Es wird bestätigt durch den dreifachen Umstand: daß Christus als von ihr abwesend dargestellt wird, und sie nichtsdestoweniger Ruhe hat; daß der Herr, wie wir gleich hören werden, in seiner Kreuzes-Gestalt Einlaß zu ihr begehrt, und daß sie ihr Ruhenbleiben bei seinem Anklopfen damit entschuldigt, daß sie ihren Rock bereits abgelegt und ihre Füße gewaschen habe, die sie doch nicht wieder besudeln möchte; und vollends bestätigt und allem Zweifel enthoben wird unsere Ansicht, wie später erhellen wird, durch Sulamiths ganze nachfolgende Führung, und sonderlich durch die eigenthümliche Methode, die der Bräutigam zu ihrer Heilung und Wiederbringung anzuwenden die Gnade hat.
Sie schläft also, sie hat Ruhe und ihr Genüge in dem schmeichlerischen Bewußtsein dessen, was persönlich aus ihr geworden ist. Sie ist gewachsen, Christus hat abgenommen. Es mögen Manche unter uns in ihrem Stande sein. Ruhen sie denn auch nicht in ihren Thaten grade, so doch in ihrer vermeintlichen Erleuchtung, in den „hohen Offenbarungen,“ die ihnen zu Theil geworden, in ihrem Eifer um Zion, oder in ihrem freimüthigen Bekenntniß. Dieses Alles aber zählt die Schrift mit zu den Werken, die sie, sofern sie zum Ruhelager dienen, verdammt. Wer damit umgeht, sagt sie, ist verflucht. Die einzige Zufluchtsstatt vor Gottes Zorn ist Christi Blut. - Sulamith schlief. Hatte ihr Schlaf auch seine Süßigkeiten, so war er doch nichts weniger, als eine reine unvermengte Ruhe. Er war ein Schlaf, der von peinlichen Träumen nicht ganz frei war. Ja, nur ein oberflächlicher Fried“, wenn er bei Licht besehen wird. In der innersten Tiefe wachte was. „Ich schlief, aber mein Herz wachte.“ Es haben ältere Ausleger unter dem „Herzen“ Christum verstanden, und gemeint, die Braut habe sagen wollen: „Wiewohl ich mir selbst auf falscher, selbsterwählter Streu gebettet, hielt Der doch zu meiner Seite treulich Wacht, den ich wie meine eigene Seele liebe.“ Und freilich ist Jesus das Herz seiner Kinder; das Herz, das für sie liebte, das für sie brach, das für sie schlägt; das Herz, in dem ihr Leben pulst, und aus welchem all ihr Können und Vermögen ihnen zuströmt. Und allerdings hat der treue Hüter über sein Täublein auch gewacht, da es in der Verirrung auf morschem Aste schlief. Aber bei alle dem ist es doch außer Zweifel, daß Sulamith an unserm Orte von ihrem eigenen Herzen redet. Es bleibt nun einmal ewig wahr, was unser Bürge sagt: „In mir habt ihr Frieden und anderwärts habt ihr Pein.“ Wie versteckt sie sei, wie heimlich, wie mit feinem Zahne nagend; die Pein ist da. Die unbequeme Empfindung fehlt nicht, die Nagerei in der Tiefe läßt sich spüren, wo man in etwas Anderem ruhet, als in Christo und seinem Werke. Es lagern Manche in unserer Gemeine in einem wohl hochtönenden aber irrthümlichen Lehrsysteme. Die Leute geben sich große Mühe, um uns den Glauben beizubringen, der Friede, den sie genössen, sei außerordentlich. Aber schon diese angestrengten, immer wiederkehrenden, heftigen Versicherungen ihres innern Wohlseins flößen uns an der Wahrhaftigkeit derselben nur zu gegründete Zweifel ein. Was gilt's, in ihrem Innersten nagt versteckte Pein, geheimes Unbehagen. Sie schlafen, aber ihr Herz ist ruhelos, ist wach. - Es ruhen Andere in einer gewissen Christlichkeit, in der sie sich von Kind auf gefunden; aber nicht in Christo. Ich bin gewiß: auch diese ruhen zwar, jedoch tief unten knistert's, als glömme ein verborgen Feuer im Gebälk. - Auch wir lassen uns wohl einmal versuchen, statt das Blut Christi dafür anzusprechen, eine Sünde vor unserm Gewissen zu beschönigen, oder machen das Verfehlte selber wieder gut, wie man zu sagen pflegt, und ruhen nun in dieser eigenen Sündentilgung; ruhen, aber unser Herz wacht. Das Gewissen will mit dem Blute des Lammes gewaschen sein; eher ist an eine wahre gründliche Beschwichtigung nicht zu denken. Doch genug, wir ahnen, was die Sulamith mit ihrem: „Ich schlafe, aber mein Herz wacht“ sagen will. Der rechte Schlummersang kommt von Golgatha herunter und heißt: „Es ist vollbracht!“ Sulamith entschlief unter dem Getöne anderer Wiegenlieder. Das einzige Lager wahrer Seelenruhe ist Christi Werk; sie streute sich ihr Bett aus eigener Habe. Das eine, rechte Friedenskämmerlein liegt in Jesu Wunden; sie baute sich ein eigenes, und schlug es aus mit selbst gewob'nen Zeugen. Ohne alles Bewußtsein dieser ihrer Verirrung war sie nicht. Im Innersten ihres Wesens lispelte die Wächterstimme des abmahnenden und strafenden Geistes, und so empfand sie, wenn sie dieselbe auch zu beschwören suchte, Unruhe in der Ruhe. Auf dem rechten Friedenspolster hat man Ruhe in der Unruhe.
Doch unsere Sulamith erzähle weiter. „Ich schlief, aber mein Herz war wach; da war die Stimme meines Freundes, der anklopfte: Thue mir auf!“ Sie empfängt also Besuch, und welch ein Gast, der bei ihr einspricht! Wohl mag sie ihn ihren Freund nennen. Ist Er ihr wenig mehr, sie ist Ihm, was sie Ihm je und je gewesen. Ja, wohin doch könnten seine Schäflein sich verirren, da er sie ließe, und seinem Besitzrecht an sie entsagte. Er trägt eine große Commission. „Das,“ spricht Er, „ist der Wille deß, der mich gesandt hat, daß ich von Allem, was er mir gegeben, nichts verliere, sondern daß ich sie alle auserwecke am jüngsten Tage.“ Aber nicht die Pflicht nur gürtet ihn zu solchem Werk, viel mehr noch seine Liebe. Ist Er unser Herz, so sind wir, nur in einem andern Sinn, das seine. „Gleichwie mich der Vater liebt/' bezeugt Er, „also liebe ich euch.“ Was, Brüder, wollen wir doch mehr. O Herrlichkeit!
Der Bräutigam kommt. Wie aber? „Mein Haupt ist voll Thau's,“ spricht er, „und meine Locken sind voll Nachttropfen.“ Was heißt das? „Ich bin der Hüter Israels,“ will Er sagen, „der nicht schläft noch schlummert. Ich durchziehe ohne Rast die Welt, den Meinen zu gut. Der helle Tag sieht für sie mich wirksam; die stille Mitternacht streut ihre Thauperlen auf mein Haupt. Auch zwischen den Schatten des Dunkels wandelt mein Fuß. Die Anfechtungsnächte meiner Schäflein und ihre Gefahren beflügeln meinen Gang. Schlafen meine Lieben, ich halte Wacht bei ihrem Lager. Wanken sie an Abgrunds-Rändern, so finden sie mich und meine Retterarme!“ Dies und dergleichen will der Bräutigam sagen; aber dies nicht allein; mehr und Tieferes noch. Es liegt ein Geheimsinn in den Worten. Durch den Ausdruck, den unsere Uebersetzung „Haarlocken“ gibt, schimmert auch die Bedeutung: Dorn oder Dornzweig durch. So sagt denn der erhabene Gast zugleich: „Mein Haupt ist voll Thau's, und mein Dornenkranz traust von Nachttropfen.“ Unter den Thautropfen verstehe sein Blut. Sein Kreuzes-Bildniß also ist es, in welchem Er sich der Freundin darstellt. Sein Kreuzes-Bildniß, bevor er gekreuzigt war? - Das Hohelied ist das ewige Lied, weil durch und durch prophetisch, und bis auf den Schluß der Reichs-Entwickelung hinüberschauend. Den Zioniten aller Feiten ist darin der Spiegel ihrer innern Erlebnisse vorgehalten. In den mehrsten Stellen liegen die mannigfaltigen Bedeutungen gleich heiligen Blättern übereinander. Auf einem dieser Blätter findet man von jeder Periode des Reichs die Grundzüge ihres innersten Seins und Lebens.
Als Blutbräutigam erscheint der Herr vor der Hütte der Verirrten. Warum in dieser Gestalt, ist leicht begreiflich. Wenn etwas vermögend war, das Gräuliche ihrer mälig eingetretenen Entfremdung von dem Retter ihrer Seele ihr zum Bewußtsein zu bringen, die Lust zum Selbstruhm in ihr zu dämpfen, die Erinnerung an die Größe ihres natürlichen Verderbens wieder in ihr aufzufrischen, die Meinung, als könne sie sich selbst ihr Heil verdanken, in der ganzen Blöße ihrer Abgeschmacktheit darzustellen; sie überhaupt auf's tiefste zu beschämen, neu sie zu zerknirschen, sie von ihren eiteln Höhen in den Staub zurückzuzwingen: dann die Erscheinung Dessen, der ihr die ganze Sorge um ihre Beseligung abnahm, und ihr dadurch deutlich genug seine Ansicht von ihrem Können und Vermögen zu erkennen gab; der in der Dargabe seines Blutes zu ihrer Errettung ein furchtbares Urtheil über das Maß ihres natürlichen Elends und Verderbens aussprach; der in Entfaltung der Größe seiner Liebe den glimmenden Docht der ihrigen gar verdunkelte, und überhaupt im Glanze seiner Tugenden ihre vermeintliche Heiligkeit zu einem ärmlichen Schatten erbleichen machte. Der bloße Anblick des zurückgesetzten Freundes konnte hinreichen, der Sulamith blitzartig ihre bedenkliche Verirrung zu beleuchten. Unendlich vernichtender noch, als die Bespiegelung im göttlichen Gesetz, wirkt die Anschauung der ewigen Retterliebe. Das Kreuz, dieser Stein des Aufrichtens für das im Schuldgefühl geängstete Gemüth, ist ein zweischneidiges Schwert wider die eigene Gerechtigkeit. Es erscheint in seiner blutigen Herrlichkeit, das Kreuz, und der Trotzige senkt verlegen den Blick, der Eigengerechte steht verwirrt und schamroth, der geistlich Erkaltete wird neu entzündet. Das Kreuz ist das Panier, vermittelst dessen der Herr die Zerstreuten seiner Heerde wieder sammelt; der Leuchtthurm, der die Verschlagenen von der hohen See in den Hafen zurückführt, das allmächtige Zepter, auf dessen Winke die Höhen sich senken, die Thale sich erhöhen. Der Geist verklärt's und deutet seine Tiefen aus, und was sich von heilsamer Wirkung denken läßt, vom Kreuze strömts in die Welt geheiligter Geister über. -
Der Bräutigam ist da, klopft an die Thür, und redet die Verirrte an. Wie größter sie? Scheltwort hat sie verdient, bittere Rüge, ja den Scheidebrief. Aber Scheidebriefe schreibt dieser Bräutigam so wenig mehr, als er deren annimmt. Ist der Bund der Gnade geschlossen, so mögen Berge weichen, Hügel hinfallen: der Bund fällt nicht hin, die Gnade weicht nicht. Wie die Erwählte Ihn verleugne, auch zu der unkenntlich Gewordenen hört sein Herz nicht auf zu sprechen, wie Jerem. 2, 2: „Ich gedenke dir's zum Guten, da du eine freundliche, junge Dirne warst; zum Guten gedenke ich dir deine Verlöbniß-Liebe; da du mir folgtest in der Wüste, in dem Lande, da man nichts säet.“ „Und ob eine Mutter ihres Kindleins vergäße; ich vergesse dein nicht. In meine Hände habe ich dich gezeichnet!“ Ach, die Verbindung mit seiner Lieben ruht ja nicht auf Pacten und Verträgen. Er erkor sie sich, daß Er seine Gnade und Treue an ihr verkläre, und daran mögen auch ihre Untreuen Ihn nicht hindern. Geben sie doch vielmehr seiner Selbstverherrlichung nur noch weitern Raum, und erhöhen den Leuchter, darauf seine Ehre strahle. Zudem hat die Braut für Ihn den Werth einer unschätzbaren und unveräußerlichen Liebesgabe. Sie ist Ihm von seinem Vater, und zwar mit der ausdrücklichen Weisung gegeben, daß Er sie um Alles nicht verliere, sondern sie auferwecke am jüngsten Tage. Wie aber sollte Er die Erfüllung dieses theuern Auftrages durch ihr Verhalten sich bedingen lassen; Sein Eifer um die Vollziehung des väterlichen Willens ist stärker denn der Tod, ist fester denn die Hölle, ist mächtiger denn etwas, und überwindet Alles.
Hört Ihn reden, den Holdseligen, vor Sulamith's verschloss'ner Pforte, und laßt das Schifflein eurer Betrachtung auf den Wellen seiner Worte zu deren Quell und Ausgangspunkte zurückstiegen. Wo ankert ihr? In einem Himmel von Leutseligkeit, in einem Ocean der Gnade und Erbarmung! Ja, welcher Ausdruck entspricht der Liebesfülle des heiligen Jesus-Herzen! Hier sind wir im Gebiete des Unergründlichen. Ahnden, die Hände verwundert zusammenschlagen, anbeten ist Alles, was hier uns übrig bleibt. „Meine Schwester,“ beginnt er die Verblendete anzureden. Vergaß sie ihren Adel: Ihm, der durch die klägliche Hülle ihrer Gebrechlichkeit hindurchschaut, blieb ihre hohe Stellung gegenwärtig. Meine Schwester! Ihr kennt das Wunder, in dem sich diese trauliche und herablassende Bezeichnung gründet. Ihr wißt um die heilige Verbrüderung des Sohnes Gottes mit seinem Volke, im Wege jenes geheimnißvollen Naturenwechsels, in welchem Er die unsere an sich nahm, und uns der seinigen theilhaftig machte. Die Gemeine ist Ihm verwandt. Sie ist Geist von seinem Geiste. Die Reben sind dem Weinstock nicht angebunden nur, sondern eingepflanzt, und leben mit dem Stamm gemeinsames Leben. Er und die Gemeine, nicht durch einen Vertrag nur, oder in Folge einer freien Wahl sind sie vereinigt; sie sind es durch Wesens-Gemeinschaft zugleich. Er kann sie nicht verleugnen, oder Er verleugnet sein eigen Fleisch und Blut. Es ist ein unvertilgbarer Charakter, daß sie durch eine übernatürliche Zeugung göttlichen Geschlechtes ist. Es könnte sein, daß der Herr eine sehr gebrechliche, eine gefallene, eine ungetreue, eine bis zu den Vettellumpen verarmte Schwester an ihr hätte. Seine Schwester bleibt sie immer; und verwieß Er sie in die Hölle, verdient mögte sie es haben; aber Er könnte sich des Bewußtseins nicht entschlagen, seine Schwester in die Hölle verwiesen zu haben. „Meine Schwester!“ O Herrlichkeit, in der diese Ansprache uns die Kirche erscheinen läßt. Ist sie Immanuels Schwester, was Alles ist sie dann nicht zu gleicher Zeit. Miterbin dann, Theilnehmerin an allen seinen Rechten, Genossin seiner Hoheit; dann gleich Ihm befugt zum „Abba“ sagen, berechtigt wie Er zum ungescheuten Eintritt in's Vaterhaus, ja zum Lagern in des Vaters Schooß und Armen. O wir ergründen hienieden die Verheißungsfülle nicht, die das: „Meine Schwester!“ für uns in sich birgt; viel weniger kosten wir sie aus. Der Reichthum seines Inhalts überschreitet weit, weit die Grenzen jedes diesseits des Grabes möglichen Glaubens und Erfassens. Ein geringes Wörtlein nur, in etwa deutlich davon vernommen, macht schon das Maß der Seligkeit über voll, deren ein sterblich Herz hienieden fähig ist. Zur Aufnahme, zum Genuß des Ganzen bedarf es neuer und weiterer Gefäße.
„Meine Freundin!“ fährt der Heiland fort. Der ganze Strom seiner Zärtlichkeit will sich ergießen. Ob sie ihm auch in dem Maße nicht mehr befreundet scheint, wie einstmals; Ihn trügt kein Schein. Er sieht in's Verborgene, und weiß: ein Herz, das Er einmal magnetisch berührt, hört in Ewigkeit-nicht mehr auf, für ihn zu schlagen. Die Liebe zu Ihm, ausgegossen durch den heiligen Geist ins Herz, ist unvergänglich wie ihr Quell. Sie ist im Tempel der begnadigten Seele die ewige Lampe, mit der die Gewänder der Vorüberstreichenden, die Wolke des Opferrauchs, oder die Lüfte, die durch eine zerbrochene Fensterscheibe strömen, bedenkliche Spiele treiben können; die jedoch unter pflegenden Priesterhänden nimmer erlischt, sondern, wie nahe sie dem Verglimmen schien, immer wieder sich hebt und erneuert.
„Meine Taube!“ grüßt der Bräutigam die Geliebte weiter. Etwas zärtlich Spielendes hängt dieser Beziehung an, doch gebricht's auch ihr an der tiefern Bedeutung nicht. Sie mahnt an den heiligen Geist, als das innige Lebensprinzip der wahren Gemeine; an die innerste Lust, womit der Herr seine Heiligen umfängt; an das „Spielen der ewigen Weisheit“ in deren Kreise, so wie an das Prophetische, auf den bevorstehenden Anbruch eines großen, allgemeinen Geister-Frühlings auf Erden hinüber Deutende, das in der Erscheinung jedes einzelnen Wiedergebornen liegt. Die Taube, die girrende, wehrlos, von Geiern und Jägern verfolgt, und nur zur Flucht beflügelt; in tiefen Wäldesgründen versteckt, Nagend häufiger als frohlockend, unsaubern Oertern feind; o, in wie manchfaltiger Beziehung ist sie ein eben so treffendes, als zartes Bild geheiligter Seelen.
„Meine Fromme“ nennt der Herr die Angelobte endlich. Buchstäblich: „Meine Vollkommene!“ Eine überraschende Benennung; doch überraschend nur für den, dem das Rechtfertigungs-Geheimniß des Gnadenbundes verschlossen blieb. Der Bräutigam beurtheilt hier die Geliebte nicht nach dem Maße ihrer persönlichen Zustände; vielmehr schaut er sie in dem zurechnungsweise auf sie übertragenen Schmucke derjenigen Gerechtigkeit an, deren stellvertretender Erwerbe, Bürge und Träger er selbst ist. Und freilich ist und bleibt die Braut in diesem Lichte eine Vollkommene, welche moralische Wechselfälle sie auch persönlich zu durchgehen hätte. Ihre Vollkommenheit ruht unantastbar und ewig gesichert in Christo, und sofern diese aus Gnaden übertragene Schönheit der Grund ist, um dessentwillen der Herr sie liebt, kann diese Liebe nur eine unwandelbare sein, wie ihr Grund, und so wenig einer Abnahme, als einer Steigerung fähig. Was Wunder denn, daß der Braut auch unter ihren gegenwärtigen Verhältnissen noch so zärtliche Grüße entgegentönen. Der Schönste der Menschenkinder erschaut nichts in ihr, als sein eigen Bild, und Sich umfängt er mit Wohlgefallen in der Geliebten.
O selig denn alle ihr, die ihr, wenn auch keines Andern, doch des Einen euch rühmen dürft, daß ihr Christi eigen seid. Bei aller Armuth, in der ihr euch erfindet, wie seid ihr reich; bei aller Gebrechlichkeit wie wohlgestaltet und wie herrlich. Der euch nach dem Fleische nicht mehr kennt, Züchtigungsbedürftig kann er euch erfinden, nie mehr verwerflich. Ihr seid eine neue Creatur in Ihm. Das Alte ist vergangen; siehe, es ist Alles neu geworden. Gehet denn in seine Anschauungsweise ein; würdigt euch aus gleichem Gesichtspunkt, wäget euch auf gleicher Wage. Und ob auch euer Gewissen zu euch spräche: „Elende ihr, an Tugend arme, des Todes werthe!“ wisset, der das entscheidende Wort hat, grüßt euch ewig: „Meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, mein Vollkommene!“ Amen.