Dreizehnte Predigt
Hohelied Salomons 4, 6 - 8.
Bis der Tag kühl werde, und die Schatten weichen, will ich zum Myrrhenberge gehen und zum Weihrauchhügel. - Du bist allerdinge schön, meine Freundin, und ist kein Flecken an dir. - Komm mit mir, meine Braut, vom Libanon, mit mir vom Libanon. - Tritt her von der Höhe Amana, von der Höhe Senir und Hermon, von den Wohnungen der Löwen, von den Bergen der Leoparden.
Ihr habt bemerkt, daß ich den ersten Vers unseres Textes etwas anders gelesen habe, als ihr ihn in eurer Uebersetzung findet. Ihr leset: „Bis der Tag kühl werde und die Schatten weichen. Ich will zum Myrrhenberge gehen.“ Aber dem Grundtexte nach sind die Worte: „Bis der Tag kühl werde“ u. s. w. nicht zum Vorhergehenden zu ziehen, sondern müssen gelesen werden, wie wir sie eben gelesen haben. Uebrigens schlafen in den Saiten unseres Textes gar reiche Töne. Möge es unserer heutigen Betrachtung gelingen, sie zu wecken. Ist mir's doch auch so, als ob das Hohelied ganz vorzugsweise zu kirchlichen Abendmahls-Erwägungen sich eigne, und bin ich doch auch nicht der Erste, dem es so ist. Unser mit Recht so beliebtes Abendmahlslied: „O Fels des Heils“ floß ja fast Vers für Vers nach Inhalt und Form aus dem Hohenliede. Die Worte, die uns diesmal beschäftigen sollen, eröffnen uns einen wohlthuenden Blick in die gesegnete Stellung begnadigter Seelen zu Christo, Christi zu ihnen, und erscheinen somit ganz dem Bereitungszweck entsprechend, der uns hier vereinigt hat. Wir schauen die Worte näher an, und geben den Theilen unserer Betrachtung die Ueberschriften:
Der Redende in unserem Texte ist der Bräutigam Christus. Seine Worte gelten der Braut, der wahren Gemeine. Der bezeichnet Er zuvörderst einen Ort, wo sie sich einstellen möge, wo Er ihr begegnen wolle. Der Ort ist eine Höhe, aber was für eine? Die einer eigenen Heiligkeit, oder gar einer selbstgerechten Einbildung? Das sei ferne! Auf dergleichen Höhen trifft der Bräutigam die Ihm vom Vater Gegebenen, wenn Er zum ersten Male mit ihnen anknüpft; aber sie von da herabzustürzen, ist gemeiniglich Sein erstes Gnadenwerk an ihnen, und im Thale der Geistesarmut!) erfreut Er sie mit seinen ersten Offenbarungen. Dann aber bescheidet Er sie auf eine Höhe. Freilich will Er sich einmal auch noch anderswo, als hier, von ihnen finden lassen. Sie sollen Ihn haben einst - o wo doch? Im himmlischen Thronsaal droben, im Glanz der ewigen Herrlichkeit, auf dem Stuhl der Majestät und Ehren. Aber da doch erst, wenn, wie er selber sagt: der Tag kühl wird, oder daherweht, d. i. wenn der große Morgen tagt, und die nächtigen Schatten weichen. So lange jedoch das Dunkel des Pilgerthals uns noch umgraut, weiset Er einen andern Platz uns an, wo wir vorzugsweise auf Ihn eingehn, wo wir sonderlich bei Ihm weilen sollen. „Bis der Tag daherweht,“ spricht er, „und die Schatten weichen, will ich zum Myrrhenberge gehen, und zum Weihrauchhügel.“ Er spricht's, und hat Seiner Braut damit genug gesagt.
Also dahin willst Du? O wohl uns, daß Du wolltest! Hättest Du diesen Gang verschmäht, uns bliebe kein anderer, als der Verzweiflungsgang zur Hölle. Aber was meint Er für einen Hügel, und der Berg, wo ragt er? - Wie, solltet ihr noch in vollem Ernst so fragen können? Myrrhen deuten aus Passion und Wehen, Weihrauch auf Priesterwerk und Opferwesen. Zugleich erinnert das hebräische Wort für Myrrhen an den Berg Moria. Seht, nun sind wir auf der Spur. Wir kennen ihn, den Moria Gottes, wo das bedeutungsvolle Vorbild der Opferung Isaaks sein großes Nachbild findet. Wir sehen einen Berg im Geiste; schwarze Nacht liegt wie ein Leichentuch darüber hergebreitet. Zusammenschaudern möchte, wer daran vorüberzieht. Und siehe, dieser Höh' wallt Einer zu, still wie ein Lamm. Ein wunderbarer Priester, belastet mit einem von Gott verfluchten Holz. Der ist entschlossen, jener richterlichen Hand sich preiszugeben, die grausig über dem Berge sich aus den Wolken reckt, und dem Nahenden einen Kelch bereitet hat, wie so über alle Maßen schreckensvoll und bitter kein Sterblicher ihn noch getrunken hat. Und der dort zum Berge Nahende ist derselbe, der in unserm Texte spricht, und der grauen„ volle Hügel ist der Hügel Golgatha. Ihr kennt ja Golgatha. So wisset, Golgatha ist der Weihrauchhügel unseres Textes, Golgatha der Myrrhenberg. Der Myrrhenberg: ein Meer von Bitterkeiten ist hier am Branden; der Weihrauchhügel: hier pflegt der wahre Aaron heil'gen Tempelamtes. Der Myrrhenberg: hier trinkt ein Bürge den Verdammnißbecher; der Weihrauchhügel: hier steigt der Priesterschrei gen Himmel: „Vater, vergib, vergib den Sündern!“ Der Myrrhenberg: die Kelter des Zornes wird an diesem Ort getreten; der Weihrauchhügel: versöhnender Brandopferduft wallt in's Heiligthum von hier. Der Myrrhenberg: hier wird auch unserer Natur ein bitterer Myrrhentrank bereitet, denn gerichtet wird sie hier; der Weihrauchhügel: hier wird der Hauch des armen Sünders, sei er Seufzer, sei er Psalm, wieder angenehm und süßer Wohlgeruch vor Gott dem Herrn.
„Bis der Tag daherweht, und die Schatten weichen, will ich zum Myrrhenberge gehen, und auf den Weihrauchhügel!“ So der Bräutigam, und - Er ist dahin gegangen. „Aber jetzt, sagt ihr, hängt Er doch nicht mehr auf jener Marterhöhe?“ Freilich, die Schatten sind für Ihn gewichen, Ihm ist der große Morgen angebrochen. Gibt es jedoch jetzt auch einen Christus am Kreuz nicht mehr, so gibt es doch einen gekreuzigten Christus, und um Den sollen wir vor allen Dingen uns sammeln. Das ist des Bräutigams Meinung. Ach, wer daran genug schon hat, Ihn zu finden nur als Rabbi auf dem Lehrstuhl, Ihn nur zu schauen als König im Glanze seiner Wunderkraft, Ihn nur als mitleidigen Menschenfreund in den Hütten der Bedrängten zu erblicken, Ihm nur zu begegnen als einem glänzenden Vor- und Musterbilde aller Tugenden: sollte der wol seines Volkes sein, und seine Stimme schon vernommen haben? Nein, sein Volk geht vor Allem zum Myrrhenberge, und sucht und siehet Ihn am liebsten auf dem Weihrauchhügel. Und ist's da auch nicht vor Allem gut sein, so lange noch die Nacht des Todesthales uns umfängt, und die Macht des Verderbens sich noch regt in unsern Gliedern, und der Satan uns noch umbrüllt, uns noch mit Fäusten schlägt, und unser Leben uns noch verdammt, weil es ein Leben armer Sünder ist und bleibt. O gewiß, gewiß. Bis wenigstens der große Himmelsmorgen tagt, und die Schatten weichen, ist es so gut sein nirgends für die Braut, als bei ihrem Bräutigam, und zwar nicht da und dort, sondern bei ihrem Bräutigam auf dem Myrrhenberg und auf dem Weihrauchhügel. Darum spricht Er: „Bis der Tag da“ her weht, und die Schatten weichen, will ich zum Myrrhenberge gehen, und zum Weihrauchhügel;“ und gibt seinen Lieben damit einen Wink: Folget mir; gehet ihr auch dahin! Und die Seinen verstehen Ihn. Was das heiße, zu Jesu kommen auf dieser Höhe - auf dieser Höhe bei Jesu wohnen: Es heißt: sich gläubig versenken in sein Verdienst; in seinem Opfer allein das Leben finden; in seinem Gehorsam unsere Gerechtigkeit erfassen, in seinen Wunden sich zur Ruhe geben. O, auch wir wollen zum Myrrhenberg, zum Weihrauchhügel; denn er ragt auch da, wo das Mahl des Herrn bereitet steht. Der Herr sei gepriesen für dieses Mahl! Wo gibt's, bis der Tag daherweht und die Schatten weichen, ein köstlicheres Vermächtniß doch, als dieses? Gepriesen sei der Herr für die Siegel, mit denen Er uns hier entgegentritt! Freilich, wenn der Tag daherweht, und die Schatten weichen, gibt's noch was Bessres; aber bis dahin, welch ein Werth ruht aus diesen Siegeln! Hochgelobet sei der Getreue für die Erquickungen, die Er hier uns einschenkt, und die an Süße Alles übertreffen, - ja, bis der Tag daherweht und die Schatten weichen. Er sei angebetet für den Gruß und Kuß der Versöhnung, mit dem Er uns hier willkommen heißt, und der das Köstlichste ist, was einem Sünder werden kann, das Köstlichste und Größte, bis der große Morgen tagt, und die Schatten weichen. Dann gibt's was Anderes noch.
Wie lautet denn der Gruß? Wie heißt der Bräutigam den willkommen, der von Sündennoth gejagt, zu Ihm zum Myrrhenberge und auf den Weihrauchhügel flüchtet? O der Gruß ist wunderbar, und über allen Ausdruck köstlich. Manche unter uns vernahmen ihn bereits; darum strahlen ihre Angesichter. Andere begehren ihn zu vernehmen; darum wollen sie zur heiligen Tafel.
Ja, hat man ihn einmal vernommen, so wünscht man ihn immer wieder auf's neue zu hören, ihn zu hören wieder frisch aus des Herrn Munde, und zu oft kann er Einem nicht entgegentönen. Der Gruß heißt: „Du bist allerdinge schön, meine Freundin, und ist kein Flecken an dir!“ Hört! hört! - Welche Erklärung! - „Du bist!“ nicht: „Du wirst es einmal sein;“ - auch nicht: „Du bist es in der Aussicht.“ Nein: „Du bist's schon wirklich!“ Aber doch nur einigermaßen? Nein: „Du bist's allerdinge, d. i. ganz bist du's; vollkommen bist du's!“ Ja; aber was? Doch wohl nur: „Allerdinge unverdammlich?“ Nein: „Schön, allerdinge schön; herrlich anzuschauen, Gegenstand des Wohlgefallens.“ - Nun, ausgenommen meine Schwächen und Gebrechen? Was Gebrechen! „Es ist kein Flecken an dir!“ spricht der Bräutigam. Und stellt euch vor, das sagt Er nicht nur zu dem und dem; Er sagt's zu seiner ganzen Gemeine; zu all den Leuten sagt Er's, die sich nur Sünder fühlen, und auf Nichts, als auf seinen Namen zu hoffen wissen. Aber Er wird wohl wissen, was Er sagt? Ja, freilich weiß Er das. Er kennt die Sulamith hier nicht mehr nach dem Fleisch; er sieht sie in den Kleidern, die Er ihr gewoben; in seinem eigenen Gehorsam sieht Er sie. Da aber ist sie „allerdinge schön,“ und hat ihren Audienz- und Hochzeitsschmuck beisammen für den großen Tag, und fehlt kein Faden dran. Wir besitzen diese Schönheit Alle, die wir Sein sind; das aber von Ihm selbst gesagt bekommen, ist Himmelslabsal!
„Du bist allerdinge schön?“ Nun, ist sie das, wen kann es dann noch wundern, daß sie mit so süßen Titeln beehrt wird, als hier geschieht. Mit süßen Titeln? Mit was für welchen? Der Bräutigam nennt sie zuvörderst - wie? Seine Magd? Nein. „Du bist schön, meine Freundin!“ spricht Er. O so spricht nicht bloß die Gnade; so betitelt die Liebe, so grüßt das zärtlich bewegte Herz. „Meine Freundin!“ O wie schwer wiegt dieser Name! Wer erschöpft die Fülle seines süßen Inhalts? „Meine Freundin!“ das heißt: Es ist mir wohl in deiner Nähe; ich weile gern bei dir, Meine Freundin!„ das ist: Schlage nicht die Augen vor mir nieder: sei vertraulich! „Meine Freundin!“ das will sagen: Winke nur, wie ich dir dienen möge; es macht mir Freude. - „Meine Freundin!“ das bedeutet: Habe du kein Geheimniß von mir; schütte du mir Alles in den Schooß, und sei meiner innigsten Theilnahme versichert. O wie ein so lieber Stern ist in dem „Meine Freundin“ am Himmel unsres Lebens aufgegangen! Welch eine herrliche Krone ward uns damit auf's Haupt gedrückt! Ja, wie dunkel es um Einen sei, kann man lebendig deß wieder sich besinnen, daß der König aller Könige uns seine Freunde nannte: wie bald theilt sich vor diesem Klang die nächt'ge Wolke; wie schnell wird's wieder licht und heiter in der Seele.
Doch nicht seine Freundin nur nennt Er die Gemeine; er gibt ihr noch einen tieferen, bedeutungsreicheren Namen. Er nennt sie zugleich seine Braut, seine Verlobte, und deutet mit dieser Bezeichnung darauf hin, wie ihre erste Ehe mit dem gestrengen Manne Moses rechtmäßig gelöst, und sie nun eines Andern geworden sei. Jenem ersten Eheherrn war sie göttlich verbunden, und zu allem Gehorsam, zu aller Unterthänigkeit verpflichtet. Da sie ihm aber diesen Gehorsam versagte, und sich ehebrecherisch mit dem Teufel, der Welt und der Sünde einließ, hatte ihr Mann vollkommen Recht, daß er sie schlug, sie aus dem Hause warf, und sie vor Gott verklagte. Ja, er durfte die Schnöde für immer der Hölle überweisen, wäre nicht ein geheimnißvoller Tod geschehen, der die Unglücksehe löste. „Das Gesetz,“ sagt Paulus, „herrscht nur so lange über ein Weib, bis ihr Ehemann starb. Starb er, so steht ihr nichts mehr im Wege, einen Andern zu freien.“ Und geschah es. Es kam ein and'rer Mann, ein Mann vom Himmel, Der that, das Weib vertretend, .dem gestrengen Eheherrn in Allem ein Genüge. Er erfüllte gehorchend sein Gebot, er erduldete sterbend seinen Fluch. So war die erste Ehe rechtmäßig gelöst, und es stand der Schließung einer neuen nichts mehr entgegen. Derselbe, in dessen Blute jener Schreckensbund erlosch, achtete es nicht unter seiner Würde, das nunmehr verwittwete und freilich sehr gebrandmarkte Mosisweib sich selber zu vermählen. Die Trauung geschah durch göttlichen Vollzug, der Altar war das Kreuz, die Engel standen umher als staunende Zeugen. O liebliche Verlobung, Bündniß ganz andrer Gattung, als das erste; Ehe, darin der Brant das Zubringen irgend einer Mitgift so wenig angemuthet wird, daß der Bräutigam es ihr vielmehr zur heiligen Pflicht macht, Nichts zu sorgen, sondern alle ihre Sorge auf ihn allein zu werfen; Ehe, in der der Mann allein für Alles steht, alle Kosten einseitig trägt, allein bestreitet, und von der Angetrauten nur eins begehrt: daß sie Sein sich freue, und die Freude an dem Herrn ihre Stärke werde; Vermählung, für die Ewigkeit geschlossen. Dieser Mann verabschiedet sein geistlich Weib nicht mehr. Auf seinem Hochzeitsringe glänzte die Inschrift: „Ich habe dich je und je geliebt!“ Seine Liebe zu ihr ist durch ihre Liebe zu Ihm nicht bedingt. Die Gemeine ist sein; sie bleibt es, es geschehe, was immer wolle.
Der Bräutigam redet weiter, indem er auch auf die Führung seiner Sulamith hinüberwinkt. Er bezeichnet den Weg, den Er sie leiten werde. „Komm mit mir!“ beginnt Er. So sprach Moses nicht. Dort hieß es: Gehe hin, und thue mein Gebot! Hier ertönt ein freundliches „Komm mit!“ Verheißung ist's; tröstliche Andeutung: „Ich bleibe bei dir; ich weiche von dir nicht mehr. Ich liebe dich. Du gehst aus Schritt und Tritt in meinen Gängelbanden.“ Doch auch Ermuntrung ist's: „Gib dich mir nur hin; laß mich nur mit dir machen; vertraue dich meiner Leitung an, und glaube, es wird dich nicht gereuen!“ Und wahrlich nein, es gereut sie nicht. Wer mögte mit Ihm nicht gehen, dem guten Hirten, dem Geliebten des Vaters, dem Sohn und Herrn vom Hause, dem Gewalthaber über Alles! Wohin zieht Er? Wohin, als an des Vaters Herz, als nach der Gottesstadt da droben, als zu den Halleluja's der vollendeten Gerechten! Wer mögte mit Ihm nicht kommen. Man steht sich gut dabei. Ja, gut auf alle Fälle; aber auch lustig immer? Das ist eine andere Frage.
„Komm mit mir!“ spricht Er, und wie nun weiter? „Vom Libanon!“ und abermals: „Mit mir vom Libanon!“ Hört, hört. Hier bezeichnet Er das Eigenthümliche seiner Führungen. Von der Höhe ins Thal herunter! Und steigt man in versteckterer und subtilerer Weise wieder aufwärts, so heißt's auf's neue: „Mit mir vom Libanon. Herab zur Niederung!“ „Ich muß abnehmen, Er aber wachsen;“ diese Losung des Täufers wird durch Christus in allen seinen Gliedern vollzogen. In die Tiefe geht ihr Weg. Sie werden stets ärmer, gnadendurstiger, heilsbedürftiger. Je länger je mehr befinden sie in sich nur Elend, in Christo ihr Alles. Sie sterben täglich, auf daß sie nur in Christo leben mögen. Dieses fortschreitende Zunichtewerden aber nach Allem, was eigene Kraft, Gerechtigkeit und Weisheit heißt, geschieht nicht bloß, wie sich's Manche denken, im ebenen Wege wachsender Erleuchtung, und stets tiefer gründender Meditation. Ach, das „Komm vom Libanon!“ blitzt über einer Straße, die von bitterern Todeswehen umlagert ist. Wir sterben nicht an der Betrachtung nur; an der Erfahrung sterben wir. Es wird uns nicht zu schauen bloß, sondern zu erleben gegeben, was für Gemachte wir sind. Wir erkennen uns nicht bloß, wir ertappen uns immer auf's neue als Sünder, als in uns selbst zu allem Guten Ungeschickte, als rettungslos Verlorne, falls nicht Alles, was wir am Tage des Gerichts gebrauchen, uns geschenkt wird. Wir werden niederwärts geführt auf ganz andern Pfaden, als läge die Entscheidung in unsrer Hand, wir sie erwählen würden. Wir verarmen nicht wie Solche, denen der stille Trost verbleibt, ehrlich verarmt zu sein. Selbstverdammung und herzbrechende Beschämung bleibt unser einzig Theil; unser einziger Trost: ein freies, ein nie versiegendes Erbarmen.
„Tritt her,“ spricht der Bräutigam endlich, „von der Höhe Amana, von der Höhe Senir und Hermon, von den Wohnungen der Löwen, von den Bergen der Leoparden!“ Hört, hört, ihr Lieben; das hat einen fröhlichen Klang, das ist der Schluß vom Ganzen. Wenn dieser Ruf erschallt, so hat das Ach und Weh ein Ende, und das große Halleluja nimmt seinen Anfang. O, wie wohl es uns auch erging auf seinem Wege, wie sacht, wie eben er uns auch geführt, jene dunklen Oerter kennen wir Alle. Wir wissen um die Höhe Amana, die eisige, die mit ewigem Schnee bedeckte. O betrübte Stände, wenn die Seele von der Freundlichkeit des Herrn nichts mehr schmückt; wenn das Herz wie zu Eis gefror, kein Glühen der Liebe mehr in ihm empfunden wird, kein Geist des Gebetes mehr darin sich regt. Die schönsten Blumen im Garten des Wortes stehen welk; die tröstlichsten Zuspräche versagen den Dienst; die erquicklichsten Vereinigungen lassen kalt und unbewegt, und der inwendige Mensch ist wie verknöchert, wie erstarrt. Erbärmliche Lage! Aber wem unter uns blieb sie gänzlich fremd? Wir kennen die Höhen Senir und Hermon, die kalten Gipfel, auf denen lein Gräslein wächst, die ein kahler, feuchter Nebel drückt, um die der Sturm die wilden Flügel schlägt, und auf welchen die Einsamkeit haust mit tausend Schauern. Sie sind dem Sinai ähnlich, und dem Ebal; dem Himmel nahe, aber der Himmel geht mit schwarzen Wolken, und es donnert in der Höhe, und dem Auge will nichts sich zeigen, als der schreckenvolle Abglanz jenes Stuhles, der in eitel Feuerflammen brennt, und in Gerechtigkeit und Gericht gegründet steht. Ja, ihr Stätten des Entsetzens, wir kennen euch. Und wie euch, so die Wohnungen der Löwen, so die Berge der Leoparden. Auch von denen vermögen wir ein Lied zu singen. O was ist das, von jenen Geistern sich umrungen sehn, die in der Luft herrschen, angebrüllt von dem schauerlichen Löwen, der da suchet, welche er verschlinge, von allen Seiten umschwirrt von seinen Feuerpfeilen, dazu von der Welt mit versuchenden Zauberbildern, oder entmuthigenden Schreckgesichten angefochten. Und ach! in unserm Innern tobt das Fleisch; das Meer der Gelüste geht in hohen Wogen, wie ein Riese erhebt sich das Verderben der Natur: Sturm auf der Oberfläche und in der Tiefe, Finsterniß draußen und drinnen! Ja ja, diese Stände sind uns wohl bekannt, und das: „Tritt her!“ des Bräutigams in unserm Texte braucht nicht zu sorgen, daß es ihm an Anklang und Widerhall in unsrer Mitte fehlen werde. Es findet“ ihn, und wie wird es ihn finden, wenn es einst nicht mehr nur als Wort der Weissagung für die Zukunft, sondern zur Erfüllung reifend für die Gegenwart erschallen wird. Die ganze Kirche auf Erden wird's einst hören, und die Tage ihrer Dienstbarkeit sind dann zu Ende. Hören wird es ein jedes seiner Kinder, sobald ihm die Stunde schlug, welche der Klagen „Wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes?!“ die schließliche Erhörung bringt. Ach ja, der Tod seiner Heiligen, was ist er? Der Fürst des Lebens ruft: „Tritt her von der Höhe Amana, von der Höhe Senir und Hermon, von den Wohnungen der Löwen, von den Bergen der Leoparden!“ Sie hören's, und treten her, und die Himmelshöhe nimmt sie auf zu ewigen Siegesfesten!
O wie selig ist das Volk, deß der Herr sein Gott ist! Wie doppelt selig dann, wenn es sich feines Bürgerrechts in Salem auch bewußt geworden! Wo das Mahl der Liebe steht, ihr Brüder, da ist die Stätte, an der die Urkunde über jenes Recht zu haben ist. O gehen denn auch wir, bis der Tag daherweht und die Schatten weichen, zum Myrrhenberge und zum Weihrauchhügel. Kommt, kommt, ihr gnadenhungrigen Seelen, und tretet unter das Panier des Kreuzes. Und was ich euch wünsche? Eins, und in dem Einen Alles: daß Er auch euch begegne, der Freund, im Sonnenglanze seiner Liebe, und ein Jeglicher unter euch insonderheit den Gruß vernehme: „Du bist allerdinge schön, meine Freundin, und ist kein Flecken an dir!“ Amen.