Inhaltsverzeichnis

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Jesu Thränen.

1)

Lukas 19, 41-46

Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt an und weinete über sie und sprach: Wenn du auch erkennetest noch zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es werden Tage über dich kommen, da deine Feinde werden Bollwerk um dich aufwerfen, und dich umzingeln und von allen Orten aengsten; und werden dich schleifen, und deine Kinder in dir zu Boden stoßen, und keinen Stein an dir auf dem andern lassen: darum, daß du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist. Und er ging in den Tempel und fing an auszutreiben, die darin verkauften und kauften; und sprach zu ihnen: Mein Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt es gemacht zu einer Mördergrube.

Dies das Evangelium des heutigen Sonntages, des zehnten nach dem Feste der heil. Dreieinigkeit. Nein, an diesem Schriftstück ist kein Vorüberkommen. Es ruft uns ein „Halt!“ Es faßt uns, fordert Stillestand, und nöthigt zur Betrachtung. Wie oft man auch schon davor gestanden, man fühlt sich immer wieder neu gefesselt; denn immer entfaltets wieder neue ergreifende Seiten. Was ists denn, das in diesem Auftritt so mächtig uns ans Herz dringt? Was diesmal es ist, ist mir wohl bewußt. Auf ein Fünffaches läßt sichs zurückeführen. Es ist zuerst das Zeugniß von der Schrecklichkeit der Sünde, das in den Thränen Jesu uns entgegentritt; es ist sodann das Verhängnißvolle des Moments, der für die Uebertreter, denen die Thränen gelten, herbeikommen ist; es ist drittens das hohe Selbstbewußtsein, das der Herr Jesus hier an den Tag legt; viertens ists das geschichtliche Siegel, womit wir dieses sein Bewußtsein begrenzt erblicken; und endlich der richterliche Ernst, den wir den Heiland in unsrer Scene bethätigen sehen.

Laßt uns bei jedem dieser Züge einige Augenblicke betrachtend stehen bleiben. Der Herr aber sei uns nahe mit seinem Geiste und seiner Gnade!

I.

Wir treffen den Herrn auf seinem letzten Gange nach Jerusalem. Es ist sein Todesgang, ein Gang zur Schlachtbank. Doch ists nicht dieser Gedanke, der ihm das Herz bricht. Vielmehr kann der ihn nur ermuntern und erheben. Er geht diesen Opfergang ja aus Wahl der freiesten Liebe, getragen von Retteraussicht, beglückt durch die Hoffnung zu unsrer Beseligung. Dort kommt er her; Palmen und ausgebreitete Kleider bedecken als Teppiche seinen Weg; Jubel und Hosiannaruf umtönt ihn von allen Seiten. Doch das besticht ihn nicht. Ein erhabener Ernst thront auf seiner Stirn. Die übermenschliche Würde des Herzenskündigers, dem nie ein blendender Schein der Menschen innersten Grund verdecken konnte, umfließt seine ganze hehre Erscheinung; die Höhe des Oelbergs ist erreicht. Da liegt Jerusalem zu seinen Füßen ausgebreitet: Jerusalem, die Stadt der Städte, der Licht- und Feuerheerd Jehovas von Alters her, der Sammelplatz seiner Seher und Propheten, die Tempelstadt, die Stadt des Heiligthums, über der seit Jahrhunderten der Himmel sich nicht schloß, und wo, wie nirgends sonst, das Jenseits in ununterbrochenen Offenbarungen gleichsam das Diesseits küßte. Da liegt sie, die heilige Stadt. Nach allen Gnadenheimsuchungen, die sie die lange Zeit hindurch erfahren, sollte sie ja eine Hütte Gottes bei den Menschenkindern, eine Wonne der Engel, ein Vorhof des Himmels sein. Aber! - Der Herr macht Angesichts ihrer Halt, siehet die Stadt sich an, läßt seine Blicke still wie Kundschafter durch ihre Gassen und Hütten gehn, und o, welch ein Schauspiel!

Dürfen wir unsern Augen trauen? Es schmelzt ihm die Wehmuth sein Herz. - Er weint! - Nicht eine einzelne Thräne nur feuchtet seine Wimper. Nein, ein Strom von Zähren bricht aus seinen Augen, und zwar über sie, die sogenannte heilige Stadt, die huldigend frohlockende, die aber trotz ihres Jubels ihn doch nicht kennt, noch kennen mag, ja bald ihn kreuzigen wird. Man denke: der Herr vom Himmel, der Urquell aller Seligkeit weinend! So ganz und völlig war er Mensch geworden! So hatte er unsre arme Natur mit seiner göttlichen in Eins verschmolzen. So erging sich die herzliche Barmherzigkeit Gottes in ihm in menschlichen Empfindungsgleisen! Wir werden hier wieder recht, daran erinnert, worin eigentlich seine Selbstentäußerung und Erniedrigung bestand. Nicht bestand sie in einer Ablegung der göttlichen Natur, sondern nur in einer Verzichtleistung auf deren vollen Gebrauch, in einem Uebergange aus der göttlichen und außerzeitlichen in die Weise zeitlich menschlichen Seins, Denkens, Anschauens und Fühlens. Seine Entäußerung war Selbstbeschränkung. - Doch wer gründet diese Tiefen?!

Der Herr der Herrlichkeit weint! - O lernt das Zeugniß von dem Greuel der Sünde verstehn, das in diesen Thränen sich ausprägt! Welch ein entsetzlich Ding muß es um die Sünde sein, daß der Heilige in Israel, nachdem Alles erfolglos versucht ist, Jerusalem aus den Stricken derselben zu erlösen, zuletzt nur noch weinen, nur noch in hellen, bittern Thränen zerfließen kann! Nicht wahr muß es also sein, daß das jenseitige Gericht nur eine düstre Phantasie, nicht wahr, daß die Sünde, wie Wahnsinnige sich träumen ließen, nur eine irregegangene Tugend, nicht wahr, daß der Tod die Sühnung der Sünde, und daß Gott der Herr in der Weise die Liebe sei, daß, wenn es einmal zur Entscheidung komme, er mit der Sünde es so genau nicht nehmen werde. Es muß vielmehr wirklich sich so verhalten, daß unsre Missethaten uns und unsern Gott von einander scheiden, daß Gott den Uebertretern als ein verzehrend Feuer gegenüberstehe, daß er die, so an ihm sündigen, wahrhaftig aus seinem Buche tilgen, und daß die Sünde unausbleiblich hier oder dort als der „Leute Verderben“ sich erweisen, und ihre Knechte einem ewigen Fluche überliefern werde. Verhielte sichs nicht also, und hätten vielmehr die Allvater-Ideen, wie die Flachheit sie nährt, nur einigen Grund, und wäre am Ende doch noch von einem allgemeinen Gottesmitleid, das mit allzu gerechter Wage nicht wägen werde, etwas zu hoffen, wie hätte der Blick aus Jerusalems Sünden alsdann Denjenigen, der die Wahrheit selber war, so unaussprechlich bewegen und erschüttern können? Er weinte, und wahrlich, wahrlich, diese Thränen Jesu schließen eine Predigt von der Fluch zeugenden Macht der Sünde in sich, wie eine gewaltigere und erschütterndere nie ein Prophet, und wären seine Worte auch wie Blitze und Donner dahergegangen, je gehalten hat. Drum ihr die ihr für das Wort schon verhärtet seid, lasset die Rede jener Thränen euch zu Herzen zehn. Ihr, die ihr trotz des Posaunenhalls vom Sinai: „Verflucht ist jedermann, der nicht bleibt in Allem, das geschrieben steht im Buche des Gesetzes, daß er es thue,“ die Sünde geringachten zu dürfen meint, schaut dem Friedensfürsten in das thränende Auge; und schlägt auch dieser Anblick nicht bei euch durch, was bleibt dann auch uns noch übrig, als auch über euch und euer künftiges Loos nur zu weinen.

II.

Jesus weint. Was er von der Sünde hält, das bezeugen diese Thränen. Aber sie bezeugen noch Größeres. Sie beurkunden seine Liebe. Er sahe die Kinder Jerusalems, die er so oft unter seine Flügel versammeln wollte, so gern gerettet; aber sie wollen untergehen und verderben. Doch noch hat sie die Hölle nicht verschlungen. Noch umleuchtet sie der Tag der Gnadenfrist. Freilich nur mit dem Scheine seiner Abendröthe noch. Aber die Abendröthe flammt in diesem Augenblicke noch einmal heller, als seit langem, über ihnen auf. Denn da tritt Er noch einmal persönlich zu ihnen hin, gekrönt, mit dem königlichen Schmucke seiner unzähligen göttlichen Großthaten, umstrahlt vom Glanze des eben erst an Lazarus vollbrachten Auferweckungswunders, und lieblich beleuchtet von dem alten Messiasworte: „Siehe, dein König kommt zu dir sanftmüthig und reitet auf einem Esel.“ - „Wenn du auch erkennetest,“ ruft er weinend der Bevölkerung Jerusalems zu, „noch zu dieser deiner Zeit,- was zu deinem Frieden dient!“ -

Und dieser Ruf ist das zweite Moment, das in dem Auftritt unseres Evangeliums uns aufs tiefste ergreifen muß. „Noch zu dieser deiner Zeit!“ - „Heute noch“ will er sagen. „Noch an diesem Tage! Vergeht auch er unausgekauft und ungenutzt, dann ists zu spät!“ - Ja, ja, keinem Sünder läßt es die suchende Hirtentreue Gottes an Berufungen und Heimsuchungen der Gnade fehlen; aber wisset, eine ist die letzte; in einer schließt das Jahr des Heils sich ab; eine, gibt sich auch an sie das Herz nicht reuig hin, räumt kraft göttlichen Gerichts dem Satanas das ganze Feld; eine tritt, falls auch sie zurückgewiesen wird, der bleibenden Herrschaft kräftigen Irrthums, und dem begründeten Siegs- und Triumphgeschrei der Hölle ihre Stelle ab. Bedenkt es, Brüder! Gehe ein jeder in sein Herz und Leben! Für wie Manchen mag die elfte Stunde geschlagen haben, die letzte vor Thorschluß! Wie Mancher mag in diesem, jenem Zuge seines Innern, in dieser, jener Mahnung oder Lockung, in diesem, jenem Schicksal und Erlebniß zum letztenmal das Glöcklein der Gnade, von treuer Hand gezogen, vor seines Herzens Pforte läuten hören! - „Wenn du bedächtest noch zu dieser deiner Zeit!“ Ach, mag es nicht zu uns Allen jetzt so heißen? Eine Pause jetzt. Eine momentane Weltruhe. Ein Waffenstillstand in den Gerichten Gottes! Eine Windstille nach grausigen Brandungen auf dem Ocean der Zeit! Muße, in das Haus des Herrn zu gehen; Muße, sich zu besinnen; Muße, sein Haus zu bestellen; und doch auch wieder bei allem Frieden die dringendste Aufforderung zur Ausbeutung und Benutzung dieser Muße, in den dunklen Wetterwolken mannigfaltiger Art, die drohend, ringsum, wenn auch nicht den nächsten, so doch den fernem Horizont umlagern! - „O, wenn du noch erkennetest zu dieser deiner Zeit!“ Noch ist es gute Zeit! Roch, noch! - O höret den Herrn, wie spricht er Angesichts Jerusalems? Mit einem „Aber“ beginnt er, und fährt dann fort: „nun ist es vor deinen Augen verborgen.“ Furchtbarer Laut! - Todtenglockenklang! - Hall der Gerichtsposaune! - Oder meint ihr etwa, ihr vernähmet nur ein Wort der Entschuldigung, als ob der Herr sagen wollte: „ Ihr wisset nicht, ihr armen Leute, was euch frommt?“ O nein, ein Wort der Anklage geht von seinem Munde. „Ihr wollts nicht wissen, noch erkennen,“ will er sagen, „ ihr könntet, aber ihr widerstrebt Muthwillens, und wider bessres Wissen.“ - Wehe, wehe! Der schwarze Vorhang ist gelüftet. Das Auge des Herrn schaut in keine Heilszukunft für Jerusalem mehr hinein; und eben darum schwimmt es in hellen Thränen. O, wir werden doch mit Jerusalem nicht in gleichem Falle sein?! - Nein, nein! Ueber uns schallen noch die Hörner des Halljahrs, die Trompeten des Gnadenrufs, aber „wer Ohren hat zu hören, der höre“ und dann auf, auf, sonder Rast und Weile!

III.

Wohin? - Die Antwort auf dieses „Wohin“ tönt uns hell und ergreifend aus unserm Evangelium entgegen. Denn merkt ihr nicht, worin der Herr das Heute der Gnade setzt, das für Jerusalem noch vorhanden sei? In seine persönliche Gegenwart setzt ers, und in sie allein. Merkt ihr nicht, was er als dasjenige bezeichnet, das einzig zu ihrem Frieden diene? Als Solches bezeichnet er die gläubige Herzensübergabe an Ihn, an Ihn, die Jerusalem ihm in selbstverschuldeter Blindheit bisher verweigert hat. Fasset ihr nicht, was er meint, wenn er spricht: „Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen?“ Verborgen ist dir, will er sagen, daß in mir allein dein Heil ruht! Und eben darum, weil sie dies nicht erkennen wollen, weint er; denn er ist sich klar bewußt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; Niemand kommt zum Vater, denn durch mich!“ Und endlich, greift ihr es nicht mit Händen, was er als die einzige Ursache der nahen Schreckensgerichte über Jerusalem angibt? Das hebt er unzweideutig als den ganzen Grund seines bevorstehenden Falls hervor, daß Jerusalem Ihn und in Ihm den einigen Heiland, Mittler und Seligmacher der Sünder verworfen hat. Ja, nirgends hat der Herr der Herrlichkeit sein innerstes Bewußtsein von seiner Heilandschaft und der allein seligmachenden Kraft seines Mittlerthums unumwundener, klarer und nachdrucksvoller ausgesprochen, als er dies dort auf der Oelbergshöhe mit Worten, und mehr noch, als mit Worten, mit seinen Thränen thut. Wer versteht nicht, daß er hier unzweideutig bezeuget: „Glaubtet ihr an mich, ihr wäret gerettet; gäbet ihr mir euch hin, die Berge von Sünden, die aus euch lasten, sänken vor Gottes Augen in des Meeres Tiefe; setztet ihr auf mich euer Vertrauen, die Wetterwolken des Gerichts, die über euch dunkeln, zertheilten sich auf immer?“ - Wer sieht nicht ein, daß er sagt: „ Die einzige Sünde, die verdammt, ist der Unglaube, in welchem man mich verwirft. Wer meine Hand ergreift und gläubig sein Herz mir schenkt, ist des Fluches ledig, und kraft meiner Vertretung Gottes Kind und Erbe!“ - Seht Brüder, dies besagt sein „Wenn du erkennetest noch heute;“ dies bezeugen seine Thränen, die nur darum fließen, weil Jerusalems Kinder Ihn nicht kennen wollen und deshalb verloren sind. Mein Gott, für wen müßte man Ihn halten, wenn er nicht wirklich der einige Seligmacher der Sünder wäre? Daß Er es wahrhaftig sei, das hat er stärker wie mit Worten ausgesprochen, als er hier es bezeugt, indem er unter Thränen Jerusalem blos darum verloren gibt, weil es Ihm nicht zu Fuße fallen mag. Ich nenne auch dieses sein Zeugniß von Sich selber ein ergreifendes, weil es so entscheidend ist. und weil nun, falls man Ihn nicht für einen Wahnsinnigen erklären will, die Alternative unerschütterlich feststeht: Entweder Einigung mit Jesu, oder - der ewige Tod und die Hölle! -

IV.

Ja, unwandelbar steht es fest: Wer Ihn verwirft, verwirft seine Seligkeit. Dessen war er sich tageshell bewußt, und sein himmlischer Vater hat diesem seinem Bewußtsein von Sich selbst als einem in der Wahrheit begründeten ein strahlendes Siegel aufgedrückt. Nichts ist ausgeblieben von alle dem, was wir Ihn von der Höhe des Oelbergs her der unglückseligen Stadt um-ihres Unglaubens willen für die Zukunft verkünden hören. Es hat sich alles buchstäblich und bis aufs Jota erfüllt. Die Feinde sind gekommen, haben Bollwerk aufgeworfen um die Stadt, die Stadt umzingelt und blokirt, und von allen Orten sie geängstigt. Dann haben sie dieselbe in Sturm genommen und sie geschleift, und ihre Kinder zu Boden gestoßen, und keinen Stein in ihr auf dem andern gelassen. „Dieses alles darum,“ spricht der Herr in unserm Texte, „daß du nicht erkannt hast die Zeit, darin du (durch mich, deinen einigen Retter) heimgesucht worden bist.“ Ja, es trat Alles Eins nach dem Andern ein, und wer es nicht glauben will, pilgere hin. und schaue an die trauernden Trümmer der heiligen Stadt und die zerbrochenen Säulen ihres Tempels, und betrachte das einst mit so reichem Segen geschmückte Land, wie es jetzt als eine Wüste dahinliegt; und lest dann die in Blut, Thränen und Elend aller Art getauchte Geschichte Israels seit achtzehn Jahrhunderten, und lasse, wie das Wort des Nazareners in Erfüllung gegangen sei, thatsächlich von dem ersten Juden sich erzählen, der auf der Straße ihm begegnet, und der noch bis zu dieser Stunde sammt seinem ganzen Volke heimaths- und vaterlandslos, ohne König und Priesterthum, ein armer Verbannter, in der Fremde umherirrt. Dies ist das grauenvolle Siegel, womit der ewige Gott das Zeugniß seines Sohnes: „Ich bin der Heiland der Welt, und außer mir ist kein Friede.“ bestätigt hat. O liebes Berlin, auch gnädig heimgesucht in allerlei Weise wie Jerusalem, auch reichlich bedacht mit der Botschaft des Heils, auch stark gewahrschaut und gewarnt in neuester Zeit vor den breiten Wegen des Verderbens: erkenne auch d n zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient, und verwirf deinen einigen Retter nicht, damit nicht der heilige und gerechte Gott heut oder morgen auch dich zerscheitern, und deinen Untergang sich zur Folie ersehen müsse, über der mit gehobenem Glanze die Wahrheit die Welt durchleuchte, daß außer Christo nichts zu erwarten stehe, als eitel Fluch und unendlicher Jammer! -

V.

„Nun, er ist ja so freundlich,“ sprecht ihr. - Wer? - „Jesus, der Herr!“ - Wohl ist ers, Brüder; er ists in höchstem Grade. Aber was wollt ihr damit sagen?

Meint ihr. er lasse mit sich tändeln, und werde am Ende Seinen vor der Himmelspforte stehen lassen? Wollt ihr seine Liebesthränen über Jerusalem euch in einen Opiumtrank verkehren, und Ihn, den Heiligen und Gerechten, zu einem Sündendiener stempeln? O, ferne sei es! Kommt, werft noch einmal einen Blick auf Ihn, und schauet, wie er auch noch etwas Anderes kann, als Thränen des Mitleids weinen. Er ist in Jerusalem eingezogen; und wo trefft ihr Ihn? Seht, da steht er. entbrannt in heiligem Feuereifer für die Ehre Gottes, und windet die Geißel, und treibt hinaus die Wechsler, Käufer und Verkäufer, die in der Vorhalle des Heiligthums ihn Buden aufgeschlagen haben und ihre entheiligende Handthierung treiben, und ruft mit prophetischem Ernste daher: „Es stehet geschrieben: Mein Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt es gemacht zu einer Mördergrube!“ Da habt ihr den Weinenden plötzlich in einem anderen Bilde. Es ist nur der vorbildliche Tempel, dessen Geringschätzung Ihn zu solcher Entrüstung entflammt. Denkt euch, in welcher Richtergestalt er denen einst begegnen wird, die den höheren Institutionen Gottes, die seinen Heilsveranstaltungen die gebührende Ehre versagten. Brüder, gebe niemand steh gefährlichen Täuschungen über die Freundlichkeit des Herrn hin. Er fordert Seitens derer, die Er vertreten soll, die rückhaltloseste Hingebung an Ihn, und den entschiedensten Wandel auf seinen Wegen. Wer nicht für Ihn ist, ist wider ihn, und wer nicht mit Ihm sammelt, der zerstreuet und verfällt dem Gerichte. Es ist wahr, auch den verkommensten Sündern, sobald sie zu gründlichem Bundesschlusse mit ihm sich bereitwillig finden lassen, neigt er vom Thron der Gnade die Palme des Friedens zu. Aber denen, die nur schön mit ihm thun wollen, aber seine Zucht hassen, und das Kreuz ihm nachzutragen verschmähen, erscheint Er einst als der Mann von Bozra, mit röthlichen Kleidern angethan, der die Kelter des grimmigen Zornes Gottes tritt, und nicht minder feurig hassen kann, als lieben! -

So habt ihr denn gesehen, wie Mancherlei das heutige Evangelium uns ans Herze redet. - Es ist eine Fundgrube von Wahrheiten, Mahnungen und Gedanken, und als solche wieder der tausende und aber tausende Zeugnisse eins, daß wir, wo immer die Schrift wir vor uns öffnen, aus heiligem Boden stehen. Wohlan denn, ganz Ihm uns hingegeben, der unser Leben ist. Seine Retterhand ergriffen, so lange es noch Zeit ist. Der Weg des Herzbrechens, nicht des Kopfbrechens führt in Seine Gemeinschaft. Es weine nach Ihm, wer nicht will, daß Er über ihn weinen müsse, wie über Jerusalem. - Noch steht Er gnadenreich vor uns Allen, ich denke es wenigstens, - und ladet und ladet uns unter Seine Liebesflügel. Aber nichtsdestoweniger schlägt für uns Alle schon jetzt in Seine holde Lebensfürsten-Stimme der Donner aus dem Munde des Apostels: „So Jemand den Herrn Jesum Christ nicht lieb hat, der sei - Anathema; Maranatha!“ - Amen.

1)
In dem katholischen Kreise Beckum, Regierungs-Bezirk Münster in Westfalen, wohnen wohl über 300 Evangelische, zerstreut unter den Katholiken, in zwei Städtchen, Oelde und Beckum, gedrängter bei einander. Theils gehören sie dem Beamtenstande an, theils dem Handwerkerstande, die meisten der dienenden Klasse. Während des Sommers wächst diese Zahl noch bedeutend durch einwandernde Handwerksburschen und Ziegelarbeiter. Trotz dieser Menge besteht bis zur Zeit in dem Beckumer Kreise weder eine evangelische Kirche noch Schule, und bis vor vier Jahren waren die Evangelischen genöthigt, ihre religiösen Bedürfnisse entweder in den nächsten katholischen oder in den bis zwei Meilen entfernten evangelischen Kirchen angrenzender Kreise zu befriedigen. Die Folge dieser Verwaistheit und dieses Entbehren evangelischer Pflege war, daß Viele zur katholischen Kirche übergingen, daß die Kinder aus gemischten Ehen der katholischen Kirche zugesprochen wurden, Andere in Indifferentismus versanken und nur noch den Namen von evangelischen Christen hatten. Um dem evangelischen Leben auf- und der Glaubensnoth abzuhelfen, errichteten zwei königliche Beamte von 1848 ab in ihren Häusern mit Genehmigung des Konsistoriums Hausgottesdienste, welche bis Ostern 1851 von den nächsten Geistlichen abgehalten wurden. So dankbar diese Fürsorge von den Evangelischen anerkannt und die Gelegenheit zur Erbauung benutzt wurde, so fühlte man doch, daß durch eine alle 4 - 8 Wochen gehaltene Predigt das evangelische Leben nicht erstarken und dem vorhandenen Bedürfnisse nicht genügt werden könnte. Deshalb strebte man nach einem stehenden Geistlichen, der als Seelsorger, Prediger und Lehrer mitten unter dieser zerstreuten Schaar wohne, und bat dazu die Rheinische Pastoral-Hilfsgesellschaft um einen ordinirten Kandidaten. Diese ließ sich bereit finden und bewilligte sogar Beiträge zu seiner Unterhaltung. Oelde, fast im Mittelpunkte des Kreises liegend, ward dem Geistlichen zum Wohnort angewiesen, von wo aus derselbe nach den verschiedenen Seiten hin seine seelsorgerischen Kräfte zu richten hat. Damit aber das erwachte Glaubensleben erhalten werde und erstarken könne, ist jetzt durchaus nothwendig, eine Gemeindebildung zu Stande zu bringen und ein eignes Pfarrsystem zu begründen; nothwendig, so viel Mittel aufzubringen, daß ein Haus erbaut werden könne, worin Betsaal, Schullokal und Pfarrwohnung eingerichtet werden, und das zwar in Bälde, da die jetzt uns unentgeltlich eingeräumten Säle uns nur noch auf ein Jahr belassen werden, anderwärts aber nirgends ein geeignetes Lokal miethweise zu bekommen ist. Obgleich die Gemeinde aus sich selbst diese Mittel nicht beschaffen kann, ist sie doch der festen Zuversicht, daß der reiche Gott ihr dazu verhelfen werde; zumal da Er sich bis Hieher schon so sichtbar zu ihr bekannt hat. Denn Er hat uns schon verhelfen zu einem großen Garten bei Oelde, der als Bauplatz und Kirchhof benutzt werden soll, hat Vereine und Private uns geneigt gemacht, daß sie uns Unterstützungen theils schon zugeschickt, theils zugesichert haben, hat selbst ein Glied dieser Gemeinde bereit gemacht, das betreffende Haus auf eigne Kosten zu bauen. So dürfen wir getrost auf Seine weitere Erbarmung und Durchhilft hoffen. Das Kirchengebäude soll alsobald in Angriff genommen werden, sobald uns durch anderweitige Unterstützung so viel Mittel zufließen, daß es möglich ist, dem Bauunternehmer das Baukapital, das auf 5000 Thaler veranschlagt ist, zu verzinsen. Giebt der Herr Gnade, so ist es vielleicht möglich, das Kapital schon nach zwei Jahren zurückzuzahlen. Wolle nun der Herr, unser Gott, Euch, lieben Glaubensgenossen, die Herzen für uns erwärmen und die Hände stärken zur brüderlichen Handreichung denen, die gleich Euch Glieder sind an dem Leibe des Sohnes, an welchem wir haben die Erlösung durch Sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden, und trachten zu wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus; - dazu auch nachstehende Predigten, deren hochverehrten Herrn Verfassern wir für ihre Bereitwilligkeit, uns mit ihren geistlichen Gaben zu dienen und das Werk unserer Hände zu fördern, uns zum wärmsten Danke verpflichtet fühlen, segnen Und dadurch schaffen, daß, gleichwie Ihr in allen Stücken reich seid, im Glauben und im Wort und in der Erkenntniß und in allerlei Fleiß und in Eurer Liebe zu uns, Ihr auch reich werdet in dieser Wohlthat. (2 Cor. 8, 7) Weitere Auskunft zu ertheilen und Liebesgaben in Empfang zu nehmen ist gern bereit der Unterzeichnete. In Vertretung der Evangelischen in Oelde und Umgegend
G. Fritzsche,
evang, Hülfsgeistlicher.
Oelde, hm 21. Juni 1852.