Matthäus 17, 8.
Da sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie Niemand, als Jesum allein.
Das heilige Evangelium, dem die eben verlesenen Worte entnommen sind, hat neben seiner gewichtvollen geschichtlichen Bedeutung zugleich eine sinnbildliche. Die erstere lassen wir diesmal zur Seite liegen, und verweilen vorzugsweise bei der andern. Indem das Evangelium uns meldet, wie der Herr durch Verlegung einer himmlischen Scene auf den Schauplatz der Erde die Jünger gegen die Aergernisse habe wappnen wollen, die aus seinen damals nahe bevorstehenden Leiden ihnen erwachsen konnten, gemahnt es, allegorisch aufgefaßt, zugleich an ähnliche Vorgänge geistiger Natur, von denen in den Tagebüchern aller gläubigen Christen wenigstens etwas wird zu lesen sein. Wo wäre ein Gottespilger, der nicht gleichfalls von manchem Tabor zu sagen wüßte, zu dem auch ihn seine Lebensstraße hinaufgeführt, und wo er nicht weniger gern, als damals Petrus, hätte Hütten bauen mögen; aber wo es auch ihm nicht anders ergangen sei, als dort den Jüngern, die, angetönt von dem göttlichen Zuruf: „Dieser ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören“, die beiden himmlischen Gestalten, mit denen der Meister sich unterredete, wieder verschwinden, den Wunderglanz, der so beseligend sie eben umstrahlte, plötzlich erbleichen, und Niemanden mehr sahen, als „Jesum allein“, und zwar Jesum in seiner gewohnten, schlichten und einfachen Erscheinung.
Geben wir heute einmal einem jener Gottespilger das Wort, und lassen ihn von den Taborhöhen seiner Wallfahrt und seinen Erlebnissen auf denselben uns berichten. Ich denke, daß er uns sagen wird, auf dreien solcher Tabor-Höhen, wenn er sie anders so nennen dürfe, habe er gestanden, und zwar auf dem Tabor seiner Jugendideale, auf dem der Menschenvergötterung und Freundschaftsschwärmerei, und endlich auf dem einer höheren ja himmlischen Entzückung. Auf allen dreien aber sei kein Bleibens für ihn gewesen. Er sei aus seinen Himmeln nur gar zu bald wieder auf die Erde zurückgebannt, und was ihm geblieben, sei Jesus alleine. Was der Pilger mit dem Allem sagen wolle? Nun, wir werden es vernehmen. Gereiche, was er erfahren, uns zum Troste, wie zur Weisung!
Die Jugend träumt. Goldene Träume träumt sie in ihrem Maaß und Gedankenkreis sowol unter dem niedern Hüttendach, wie unter den stolzen Zinnen der Paläste. Vor ihrer Phantasie, die ja an keinen Stand gebunden ist, liegt das Leben mehr oder minder wie ein gelobtes Land voll lachender Auen und reizender Zaubergärten ausgebreitet. Ja, nicht selten spannt sich über dasselbe ein goldenes Netz fast mährchenhafter Scenen, Bilder und Gestalten aus, und sie hofft, einst dies und das zu werden, und dies einst zu gewinnen, zu erstreben, oder jenes. Der Blüthenmond des Lebens eilt schnell vorbei. Der Traum der Jugend ist bald ausgeträumt. Wie im Fluge sind die Jahre genaht, da sich nun verwirklichen soll, was man im Lebensmai mit dunkeln, Sehnsuchtsdrang in duftigen Umrissen von ferne grüßte. Der Pilger Gottes erzählt uns, wie davon ach! gar Manches eben nur ein süßer Traum seiner jugendlichen Einbildungskraft, eine Poesie ohne Realität und Wesen geblieben, aber nicht Weniges auch durch Gottes Freundlichkeit und Güte ihm wirklich zugefallen sei. Und als er diese Strebeziele nun erreicht, und unter Anderem zu einem erwünschten Wirkungskreise sich berufen, zur Gründung eines eigenen Heerdes sich in den Stand gesetzt, von dem lieblichen Gehege eines glücklichen Ehe- und Familienlebens sich umfriedigt, ja gar zu besonderen Ehren sich erhoben, und mit einem Namen von gutem Klang, mit Würden, Titeln, ja, selbst mit Ehrenzeichen und was für Herrlichkeiten dieser Erde sonst sich geschmückt gesehen habe: da habe diese Verwirklichung seiner Jugendideale einen wahren Zauberglanz der Verklärung um sein Leben gewoben, daß er wohl sagen dürfe, auf einen Tabor, wenn auch nur auf einen weltlichen sei er entrückt gewesen. Auch er habe da, nur auf etwas niedererm Niveau, wie weiland Petrus, begeistert ausgerufen: „Hier ist gut sein; hier bauen wir Hütten!“ und er erinnere sich gar wohl, wie er über seinem Himmel auf Erden den Himmel dort oben schier vergessen habe, und wie in seinem Innern Aehnliches verlautet sei, wie das Wort jenes Mannes im Evangelio: „Iß, trink, sei wohlgemuth, liebe Seele; denn du hast einen Vorrath auf lange Jahre!“
Es war ein Glück für unsern Pilger, daß er damals wenigstens in etwa schon mit dem Friedensfürsten Jesus Christus bekannt war. Denn nicht lange währte es, so ließ auch in ihm die Allerweltssprache sich vernehmen: „Es ist doch nicht, nein, lange so nicht, wie ich's in meinen Jugendtagen mir habe träumen lassen!“ Es widerfuhr ihm Aehnliches, wie den Jüngern in unserem Evangelium, welchen, ehe sie sich's versahen, eine Wolke das himmlische Gesicht, in dessen Anschauung sie so selig waren, überschattete, und sie in die Prosa der nüchternen Wirklichkeit zurückversetzte.
So sah auch unser Pilger, ach! nur zu bald das sogenannte Ideale und zu dichterischem Hochflug Beschwingende von seinen Zuständen weichen. Der Erde Leiden und Sorgen wußten frühe genug auch zu seinem Paradiese den Eingang zu finden. Seine Verhältnisse in Amt und Beruf, und selbst in Ehe und Familie, kehrten, wie glücklich sie auch immer waren, auch ihre Mängel, mit denen ja alles Menschliche und Irdische behaftet ist, so wie ihre prosaischen Seiten mehr oder minder stark und grell heraus. Wie Vieles, das Anfangs ihn so hochentzückte, verlor für ihn durch die Gewohnheit des Besitzes allmälich seinen Reiz und Zauber! Und war ihm auch von Allem, was einst dem Auge seiner Phantasie so verheißungsreich und glänzend vorgeschwebt, im Grunde nichts geraubt, ja kam sogar das Eine und Andere neu hinzu, so fühlte er sich doch im tiefsten Innern seiner Seele durch dieses Alles nichts weniger als wahrhaft befriedigt. Vielmehr gestand er sich, wenn er seine Zustände an den Traumgebilden und Idealen seiner Jugend maß, daß er in unzähligen Beziehungen gar bitter enttäuscht sei. An solchem Enttäuschungsschmerze haben wir der Glücklichen dieser Erde schon Manche geistig hinsiechen sehen. Menschen auf den höchsten Höhen irdischer Herrlichkeit, Würdenträger ersten Ranges, Begünstigte, deren Brust von Ehrenzeichen strotzte, Reiche, die selbst ihre Schätze kaum zu überblicken vermochten, ja lorbeergekränzte Dichter und weltberühmte Künstler gingen allmälich trübselig ihre Straße, zogen eine Säure, ohne selbst zu wissen, wider wen und was, vergrämten sich je mehr und mehr in ihrem Innern, und erschienen mit Gott und der Welt zerfallen. Ihre Ideale waren zerronnen, und sie wandelten wie in einer Oede. - Nicht so unser Gottespilger. Da auch ihm die Wolke der Lebensprosa seinen Tabor umschattete, und auch seine Traumgebilde im nüchternen Tageslichte der Wirklichkeit in Duft zerflossen, tönte ihm zur guten Stunde vom Himmel herab der freilich nicht in eine phantastische Welt versetzende Ruf des Vaters an: „Dieser ist mein lieber Sohn; den sollst du hören!“ Und als er seine Augen aufhub, was sah er? Allerdings keinen Himmel auf Erden mehr; aber auch keine leere graue Wüste. Er sah Jesum. An Ihm aber sah er genug. An Ihn lehnte er sich an; Ihn umfaßte er im Glauben, und in Ihm und seiner Gemeinschaft ist ein neues Glück ihm aufgegangen: Ein Glück, an dem nichts Phantastisches mehr, das mit keinen Enttäuschungen verknüpft, und allen Wechselfällen des Erdenlebens gewachsen ist. Ja, aus seiner Herzensvereinigung mit dem Friedensfürsten hat sich über sein Leben ein neuer Verklärungsglanz ergossen, und zwar ein solcher, der mit seinen sanften milden Strahlen auch die dunkelsten Gebiete seines Daseins herrlich lichtet, und in Zeit und Ewigkeit nicht mehr erlöschen wird.
Der Pilger erzählt uns ferner von einer Zeit in seinem Leben, da er in Gefahr geschwebt, in Menschenvergötterung zu verfallen, indem Menschengunst, Menschengeist und Menschenfreundschaft ihm die Erde zu einem Tabor, ja, wie er vermeint, zu einem Himmelsvorhof verkläret habe. Entzückt sei er gewesen ob der Auszeichnung, deren irgend ein Großer und Mächtiger dieser Erde ihn gewürdigt habe. Er habe geschwelgt in den Werken dieses, jenes Poeten oder Künstlers, und überdieß des Besitzes edler und angesehener Freunde sich zu rühmen gehabt, und im trauten Verkehre mit denselben sich überselig gefühlt. Schon habe er gedacht: Was will ich mehr? Hier ist gut sein! Schon sei der Petrusruf in ihm verlautet: „Hier wollen wir Hütten bauen!“ - Aber ach! Diese Hütten sind, wie er bald genug selbst erfahren, gar loser und hinfälliger Natur, und gewähren weder Schutz noch Bergung, wenn die Lüfte des Lebens rauher zu wehen beginnen. Ein begehrenswerthes Gut ist die Gunst der Großen; aber wie wandelbar ist auch sie! Meist hängt sie ja wie an einem Härlein, verursacht darum der Aengste und Sorgen viel um ihre Erhaltung, und gleicht auch im besten Falle meist nur dem Sonnenschein des Winters, der vorübergehend wohl die Bäume vergoldet, aber nicht belebend sie durchdringt. Dichter und Künstler sind willkommene Gäste und werthe Gefährten, so lange der gute Tag uns lacht, und das Dasein nur noch eine Art von Spiel ist. Aber was helfen dir deine Schiller und Goethe, deine Mozart und Beethoven, wenn das Leben seine ernstere Seiten vorkehrt, oder gar etwas von der Posaune des Weltgerichts dich antönt? Wie ohnmächtig erweisen sie sich dann; wie treten sie dir dann so ferne, und wie fühlst du dich geneigt, mit Achselzucken jenem frommen Dichter nachzusprechen: „Nun stehen meine Bücher da!“ Möchtest du alsdann nur auch mit ihm und in seinen, Sinne hinzufügen können: „Was ich dort suchte, find' ich nah!“ - Ein kostbarer Schatz, - wer wird es läugnen? - sind Freunde, edle Freunde. Aber Menschen sind auch sie; sündige, gebrechliche Menschenkinder. Im Fortgang des Verkehrs mit ihnen pflegt sich dies immer unzweideutiger herauszustellen. Die Phantasiebilder, die beim Freundschaftsschlusse uns umgaukelten, erbleichen. Die Wirklichkeit streift der rosenfarbenen Schimmer gar manche ab. Es kommt zu Mißverständnissen, oder gar zu Concurrenzen auf der Bahn der Ehre. Es treten Fälle ein, wo es der Freundschaft ein Mehreres, als einen herzlichen Gruß oder ein Geburtstagsangebinde bieten, wo es gilt, ihr Opfer zu bringen, die Selbstverläuguung fordern. Und ach, wie Mancher hat schon, wenn er solche Ansprüche an diejenigen, die ihm ewige Treue zugeschworen, machen mußte, dem leidenden Hiob nachzuklagen sich veranlaßt gesehen: „Meine Freunde haben mein vergessen!“ und wie Maucher erlebte gar, was der weise Sirach in dem bekannten Spruche sagt: „Wenn Freunde einander feind werden, so bleibt der Gram bis in den Tod!“ Und selbst der beste und treuste Freund ist ja doch kein Heiland. Wenn erst ernstlich Noth an Mann geht, zuckt auch er mit den Achseln, und das Beste, was er für uns hat, beschränkt sich auf ein armes, ohnmächtiges Mitleid.
Auch unser Gottespilger hat uns von den empfindlichen Enttäuschungen nicht wenig zu melden, die seine Menschenschwärmerei ihn gekostet habe. Wie hat die Erfahrung von dem Rausche ihn geheilt, in welchen einst ein Huld- und Gnadenblick von hohen Sitzen her ihn versetzen konnte! Wie hat sie auch von seinem Genie- und selbst von seinem Freundschafts-Cultus ihn nüchtern gemacht! Ach, mit wie so ganz anderer Wage wägt er alle irdischen Güter jetzt, als weiland, und in wie vieler Beziehung hat seine einstige Schwärmerei dem resignirenden: „Alles ist eitel!“ Platz gemacht! Je tiefere Blicke er gewann in den Ernst, die Anforderungen und die Aufgaben des Lebens, wie in die Nothstände und Bedürfnisse seines armen Herzens, um so weiter trat Alles, was Mensch heißt, sofern er von daher irgend etwas Wesentliches für die wahre Befriedigung und Beglückung seiner Seele erhoffen sollte, vor ihm zurück. - Glücklicher Pilger, daß dir in der Periode dieser Ernüchterung schon das Ohr geöffnet war für die Himmelsstimme: „Dieser ist's; den sollt ihr hören!“ Tausend Andere gehen, nachdem sie die hohen Gönnerschaften, deren sie gewürdigt wurden, so wie ihre vergötterten Kunst- und Dichterwerke, und selbst ihre Freundschaftsverhältnisse, die so schwärmerisch angetretenen, ausgeschöpft und durchgekostet haben, innerlich leer, verbissenen Unmuths voll, und nur über „Illusionen“ klagend ihren Weg. Sie sahen, da sich ihre Erfahrung von der Nichtigkeit aller zeitlichen Herrlichkeiten zu einer Wolke gestaltete, die ihnen ihren Tabor überschattete, Niemanden, der ihnen das Grau der Lebenssteppe, die sie aufgenommen hatte, wieder sonnig verklären konnte. Sie wurden finstere Misanthropen. Nicht also unser Pilger. Als die Wirklichkeit des Lebens auch ihm den Phantasiezauber lös'te, und seine Idealwelt, so weit dieselbe sich ihm im Verkehr mit Menschen aufgebaut hatte, dem Reich der Träume zuwies, wohin sie auch gehörte, da durfte es auch von ihm heißen, wie dort von den Jüngern: „Als er seine Augen aufhob, sah er Niemanden, als Jesum alleine.“ Aber o reicher Ersatz, der in diesem Einen für alles Eingebüßte ihm zu Theil ward! Für die zerronnenen Luftspiegelungen bot ihm dieser Jesus nur Reales, Kernhaftes, ewig Bleibendes. Er schenkte ihm, was keine Königshuld, kein Künstlergenius, kein sterblicher Freund ihm geben konnte: einen Frieden, höher, als aller Menschen Vernunft, und unabhängig vom Wechsel des Lichts und der Finsterniß. Und wie Er ihm zugleich in der „Gemeinschaft der Heiligen“ das wahre Freundschaftsideal in einer Weise verwirklichte, von der er bis dahin nie auch nur eine leise Ahnung gehabt, so versetzte Er ihn mit einem: „Alles ist dein!“ auch in die Lage, nun erst, wie die Natur, so die Schöpferwerke des menschlichen Geistes wahrhaft frommend und ersprießlich auszubeuten.
Der Pilger Gottes erzählt uns schließlich von einem dritten Tabor, auf welchen er sich erhoben gesehen habe, und der demjenigen, auf dessen Höhe die Jünger einst so selig waren, am nächsten kam. Es war der Tabor geistlicher Entzückung. Nachdem er sich innig und lebendig mit Christo verbunden hatte, war er wohl überglücklich. Eine gemalte Herrlichkeit war vor ihm erblichen, eine wesenhafte an deren Stelle getreten. Als ein erbberechtigtes Kind im Schooße der ewigen Liebe ruhend, wußte er sich gerecht gesprochen vor Gott, in göttlicher Führung und Bewahrung vor jeder Gefahr geborgen, zur Mitgenossenschaft der Siege Christi über Welt, Tod und Hölle erhöht, und mit einem göttlich untersiegelten Anwartschaftsbriefe auf eine Ehrenstätte und eine unverwelkliche Lebenskrone im Himmel begnadet. O, des Verklärungsglanzes, der aus diesem Bewußtsein über sein ganzes Leben sich ausgoß! Die Welt erschien ihm in ein höheres Licht hinaufgehoben. Ihm deuchte die Zeit schon gekommen, „da das Alte vergangen“, und „Alles“ (Himmel und Erde) „neu geworden“ sei. Er glaubte, mit Johannes leibhaftig fast an Jesu Brust zu ruhen, und mindestens in den Vorhof der Wohnung Gottes schon eingetreten zu sein. Allen seinen Gedanken wuchsen Seraphsflügel; alle Saiten seiner Herzensharfe klangen in höherem Chor. Tag und Nacht ging das Gefühlsmeer feiner Seele in hohen Wogen des Gebets, des Freudendanks zu Gott, der Liebe Christi und der Brüder; und die Sehnsucht nach dem vollen Anschauen Dessen, der nun sein Eins und Alles war, drohte zuweilen ihm die Brust zu sprengen. O, wie schwebte er über den Höhen der Erde, und wie tief lag unter ihm des Lebens Prosa und Misere! Ja wahrlich, hier war gut sein; und was er jetzt erlebte und empfand, keine Täuschung. Täuschung war nur sein Meinen, daß es nun fort und fort so bleiben werde. Mit einem Nachdruck, wie nie zuvor, sprach er: „Hier will ich Hütten bauen!“ - Aber mit diesem: „Ich will“ ist nichts gethan. Auch auf der sonnigen Taborhöhe dieser reinen geistlichen Genüsse sollte noch kein Bleibens für ihn sein. Der lebhafte Gefühlsaufschwung machte bald gemäßigteren Stimmungen Platz, und das Vorausnehmen zukünftiger Seligkeiten, das Schwelgen in paradiesischen Phantasiegebilden erreichte seine Endschaft. Es besteht das Christenleben nicht in süßen Empfindungen, sondern in energischen Bethätigungen einer geheiligten Gesinnung. Ehe sich's unser Freund versah, fand er sich, wie die Jünger im Evangelium, aus seinen Himmeln wieder auf die Erde, aus seiner Entzückungssphäre in die Prosa der Wirklichkeit, aus seinen Ekstasen in den Zustand blasser Ernüchterung zurückversetzt, und auf die Lebensaufgaben hingewiesen, mit denen die Phantasie nichts zu thun hat, die sich vielmehr nur an den thatkräftigen Willen richten. Aufs neue erscholl über ihm der Gottesruf: „Dieser ist mein lieber Sohn, an dem Ich Wohlgefallen habe; Den sollst Du hören;“ - ein Ruf, der sich seinem Verständnisse in die Mahnungen auseinanderlegte: „Willst du Hütten bauen; baue sie dem Herrn in deinem Hause, in deinem Freundeskreise! Hast du Glauben; bethätige denselben im Kampfe wider Sünde, Welt und Hölle! Ging dir ein neues Leben auf; laß dieses Lebens Licht in deinem ganzen Wandel wiederleuchten! Schmeckst du Kräfte der zukünftigen Welt; gebrauche sie im Jagen nach der Heiligung, ohne welche wird Niemand den Herrn sehen! Fühlst du dein Herz in Liebe brennen; sorge, daß diese Liebe in Thaten und Werken sich verkörpere!“ - Diese und ähnliche Weisungen drangen an seine Seele; und von Stund' an durfte auch von ihm es heißen: „Da er seine Augen aufhob, sah er Niemand, als Jesum all eine.“ Er sieht Ihn jetzt, nicht schon in der Königsglorie, Palmen austheilend und mit Kronen belohnend; sondern im schlichten Aufzuge des guten Hirten und des herablassenden Sünderfreundes. In diesem eben so einfachen, als herzgewinnenden Bilde wird der Herr ihm aber täglich in demselben Maaße lieber, als das Bewußtsein der eigenen Hülfsbedürftigkeit stärker in ihm erwacht, und an Gründlichkeit zunimmt. Immer fester klammert er an Ihn sich an. Ein nimmer ruhendes Bedürfniß nach erneuter Besiegelung der Vergebung feiner Schulden hält ihn an seinen Gnadenthron gefesselt. Zu Kampf und Sieg, zum Handeln wie zum Dulden schöpft er aus seiner Gnadenfülle Kraft um Kraft, und wandelt vor seinen Augen in der Hoffnung selig, einst, aller Pilgermüh' entrückt, von Angesicht zu Angesicht Ihn zu schauen.
Freunde, auch unter euch wird es nicht ganz an Solchen fehlen, die mancher phantastische Zauber noch gefangen hält. - Auch euch wird sich der Zauber lösen; wenn nicht im Nu, so doch im Lebensfortgang nach und nach. Für die Zeit aber, da die Enttäuschung eintritt, und auch ihr über dies und das, was mit schillerndem Truglicht gegenwärtig noch das Dasein euch verklärt, die beschattende Wolke sich breiten seht, sei vor allem Andern Eins euch angewünscht: das Eine, daß es am Fuße des Tabors, auf dessen Höhe ihr so selig wart, auch von euch mit voller Wahrheit möge heißen dürfen: „Da sie ernüchtert ihre Augen aufhoben, sahen sie Niemand, als Jesum alleine“, und daß auch ihr, so oft wieder ein goldner Lebenstraum euch zerrinnen will, wohlgemuth dem Dichter möget nachsingen können:
Oft hat mir's tief betrübt den Sinn,
Daß dies und das nur Trug;
Seit Jesus mein, fahr' Alles hin!
An Ihm Hab' ich genug.
Was sich verdunkle um mich her,
Was mich umschatten mag:
Seit meines Lebens Sonne Er,
Ist's immer um mich Tag!„ - Amen.